Kommentiert einen mutmaßlichen Vergewaltigungsfall in Tunesien

Anschlag auf die Sittlichkeit

Innerhalb eines Monats wurde in Tunesien ein Vergewaltigungsfall zur Staatsaffäre.

Die tunesische Polizei sorgt weiter für Schlagzeilen. Erst erwies sie sich als unwillig, einige Hundert Salafisten davon abzuhalten, die amerikanische Botschaft in Tunis mit Molotow-Cocktails zu attackieren und die nahegelegene amerikanische Schule abzufackeln. Nun hat sie den nächsten Skandal am Hals.
Was ist passiert? In einem am Samstag publizierten Interview mit der französischen Tageszeitung Le Parisien erzählt eine junge Frau ihre Geschichte. In den frühen Morgenstunden des 3. September kreuzten demnach drei Polizisten in Tunis bei dem Auto auf, in dem sie und ihr Verlobter sich aufhielten. Einer der Ordnungshüter habe versucht, dem jungen Ingenieur Geld abzupressen, bevor er ihn im Auto mitgenommen habe, damit er bei sich daheim Geld auftreibt. »Die anderen beiden haben mich gefragt, was ich ihnen geben könne. Ich habe ihnen 40 Dinar (umgerechnet etwa 20 Euro) angeboten. Sie haben mich in ihr Auto gebracht und vier Mal vergewaltigt«, sagte die junge Frau. Nach einer Stunde hätten die zwei Polizisten die Frau zurückgebracht, sie sei ein letztes Mal angegangen worden, bis ihr Verlobter mit dem dritten Polizisten zurückgekommen sei. Er habe sich mit den Polizisten geschlagen, die letztlich den Ort verließen. Die beiden beschlossen, Anzeige zu erstatten. In einer Privatklinik und in einem Krankenhaus sei ihnen verweigert worden, die Vergewaltigungen festzustellen. Auf dem Kommissariat hätten sie ihre Angreifer wieder getroffen, die sie gebeten hätten zu gehen. Schließlich habe ein Polizist die junge Frau zu einem Gerichtsmediziner gebracht, um dann die Anzeige entgegenzunehmen – zwölf Stunden nach den Ereignissen. »Aber die Polizei hat uns gezwungen zu erklären, dass wir in einer unmo­ralischen Position überrascht worden seien, bevor sie uns gehen ließ. Ich war erschöpft, wir haben das unterzeichnet.« Soweit die junge Frau.
Die drei Polizisten wurden inhaftiert. Doch auch gegen die junge Frau und ihren Verlobten wurde ein Strafverfahren eingeleitet – wegen Verstoßes gegen die Sittlichkeit. Sechs Monate Haft drohen ihnen. Ein Aufschrei der Empörung folgte, von Frauenorganisationen, säkularen Politikerinnen und Politikern und auf unzähligen Websites. Hunderte demonstrierten vor dem Gerichtsgebäude in Tunis, wo die beiden wegen ihres angeblichen Anschlags auf öffentliche Sitte und Moral vernommen wurden. Auf einem mitgeführten Plakaten war zu lesen: »Bilanz einer gestohlenen Revolution: Frauen vergewaltigt, kleine Mädchen verschleiert.« Bouchra Belhaj Hmila, eine der Anwältinnen der jungen Frau, sagte, es gebe eine politische und moralische Verantwortung der islamistischen Partei al-Nahda, die die Regierung dominiert, ihr Diskurs gegenüber Frauen habe das Terrain bereitet. Justizminister Noureddine Bhiri (al-Nahda) hingegen behauptete in einer Radiosendung wahrheitswidrig, das vergewaltigte Mädchen sei nicht beschuldigt, die Medien hätten die Affäre aufgeblasen, »um unser Image zu besudeln«. Schließlich meldete sich Anfang Oktober Präsident Moncef Marzouki zu Wort und entschuldigte sich im Namen des Staats bei der jungen Frau.
Im Polizeistaat Ben Alis wäre die Affäre wohl unter den Teppich gekehrt worden. Aber das ist ein schwacher Trost. Die Polizei verhält sich kaum anders als in den alten Zeiten – wie ein Racket.