Arbeitskampf in der Callcenter-Branche

Atypischer Aufstand

Seit dem 9. Juli befindet sich in Halle etwa die Hälfte der Belegschaft von S-Direkt, dem Betreiber der Sparkassen-Callcenter, im Streik. In dieser Härte ist ein solcher Arbeitskampf in der Branche bislang einmalig.

Von der halben Million Callcenter-Beschäftigten in Deutschland haben die meisten eine Lehrausbildung oder Abitur, viele studieren und zwei Drittel sind weiblich. Sie rufen nicht nur zu unpassenden Zeiten mit unpassenden Themen an, sondern sie sitzen auch vor dem Telefon – beziehungsweise mit Headset vor dem Computerbildschirm – und erwarten Anrufe, um Stromrechnungen und Handyverträge zu erklären, sich für ausgefallene Züge zu rechtfertigen oder Erläuterungen zu Kontoauszügen zu geben. Unter den deutschlandweit etwa 6 700 Callcentern sind zwar zahlreiche kleine Klitschen mit fünf Telefonen, die meisten Callcenter-Agenten arbeiten allerdings in Großkonzernen. Der größte Anbieter von Telekommunikationsdienstleistungen in Deutschland ist die zur Bertelsmann-Gruppe gehörende Arvato AG mit über 11 000 Mitarbeitern.

13 Prozent der Angestellten von Callcentern sind geringfügig Beschäftigte, etwa 92 000 sind Leiharbeiter. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad liegt fast überall unter drei Prozent. Kaum jemand hält es mehr als fünf Jahre in einem Callcenter aus. Ein Großteil der Beschäftigten beginnt eine Anstellung mit der Option, diese auch bald wieder zu verlassen. Die Zahl der Hartz-IV-Aufstocker ist in Callcentern dreimal höher als in der Gesamtwirtschaft.
Die Bundesregierung legte 2010 bei der Beantwortung einer kleinen Anfrage der Linkspartei eine Rechnung vor, nach der die Callcenter-Agenten in der niedrigsten Lohnstufe durchschnittlich 9,30 Euro verdienen. Die Agenten von S-Direkt in Halle, von denen sich seit dem 9. Juli etwa 400 im Streik befinden, verdienen 7,38 Euro pro Stunde. Eine Lohnerhöhung gab es seit Gründung des Unternehmens im Jahr 1996 nicht. Wie erklärt sich dieser Unterschied? Die Statistiken differenzieren nicht zwischen sogenannten Inhouse- und Outhouse-Callcentern. Ein Inhouse-Callcenter gehört der jeweiligen Firma, für die telefoniert wird, für gewöhnlich gelten dort die entsprechenden Tarifverträge. Diese Callcenter machen tatsächlich immer noch 80 Prozent der Branche aus.
Die Outhouse-Callcenter dagegen leben vom klassischen Outsourcing von Dienstleistungen und stehen unter entsprechendem Konkurrenzdruck. Das ist der Grund, warum Thomas Henkel, der Geschäftsführer von S-Direkt, angesichts des Streiks davon redet, dass die Gewerkschaft Arbeitsplätze gefährde.
Die Firmen, die diese Dienstleistungen in Anspruch nehmen, zahlen meist nicht pro Anruf, sondern sie buchen eine bestimmte Leistungsmenge, die mindestens abgeleistet werden muss. Wird diese nicht erreicht, werden »Malus-Kosten« abgezogen, wird sie übertroffen, wird ein »Bonus« gezahlt – beides kann sich als sogenannte leistungsorientierte Entlohnung in der Bezahlung der Callcenter-Agenten widerspiegeln, obwohl diese meist nur wenig mit der individuellen oder kollektiven Leistung der Callcenter-Agenten zu tun hat. Das Unternehmen delegiert das ­finanzielle Risiko an die Mitarbeiter, indem die Sonderzahlung die Ausnahme bildet und der Grundlohn niedrig bleibt.

Die DPVKOM, die Callcenter-Gewerkschaft im Deutschen Beamtenbund, versuchte im vorigen Jahr, dieser Situation mit der Initiative für einen Mindestlohn von 9,50 Euro beizukommen. Bis dahin hatten sich die Callcenter-Betreiber geweigert, einen tariffähigen Arbeitgeberverband zu gründen, und die gewerkschaftliche Schwäche machte auch Haustarife eher unwahrscheinlich. Es wäre das erste Mal gewesen, dass in Deutschland ein branchenspezifischer Mindestlohn aufgrund des Mindestarbeitsbedingungengesetzes eingeführt worden wäre. Für die Unternehmen hätte dies den Vorteil gehabt, nicht gegen niedrigere Haustarife konkurrieren zu müssen.
Die eingesetzte Kommission unter dem Vorsitz von Klaus von Dohnanyi und unter der Mitwirkung des DGB konnte jedoch ebenso wie die Bundesregierung keine »sozialen Verwerfungen« erkennen und empfahl im Juli 2011 Tarifverhandlungen. Einen Tarifvertrag gibt es in der Branche nur einmal, zwischen dem zweitgrößten Branchenunternehmen Walter Services und Verdi. Er sieht einen Stundenlohn von 7,60 Euro vor – 90 Cent weniger als der zurzeit vom DGB geforderte Mindestlohn, aber zehn Cent mehr, als die Forderung im Jahr 2009 betrug. Die Lohnforderung von 8,50 Euro, die von den Streikenden bei S-Direkt in einem ersten Schritt gestellt wurde, entspricht dagegen der Mindestlohnforderung des DGB.

Die Niedriglöhne sind jedoch, auch für die Streikenden in Halle, nur ein Teil des Problems. Die Arbeit in Callcentern wäre beispielsweise problemlos auch als Heimarbeit leistbar, dagegen spricht neben dem Datenschutz nur die Kontrolle über das Großraumbüro. In diesem sitzen die Agenten oftmals eng zusammengepfercht, werden mit »Testcalls« und Quoten sowie internen Fortbildungen unter Druck gesetzt. Aus verschiedenen Callcentern – auch bei S-Direkt in Halle – gibt es Berichte von Mitarbeitern, die nicht auf die Toilette gehen durften. Bis vor kurzem hatte ein Callcenter-Agent durchschnittlich weniger als drei Quadratmeter Platz zum Arbeiten, das entspricht einem Drittel dessen, was die Bildschirmarbeitsplatzverordnung vorschreibt.
Diese Arbeitsbedingungen äußern sich in Stress, Schlafstörungen und Angstzuständen, etwa in einer Häufung des Burn-out-Syndroms. Callcenter-Agenten sind durchschnittlich zwei Tage mehr krank als der Durchschnitt aller Beschäftigten. Ingrid Artus, Soziologin an der Universität Erlangen-Nürnberg, hat auf die Perfidie des Systems der Callcenter hingewiesen. Der fehlende Widerstand sei auf das extreme Ungleichgewicht zwischen vergleichsweise machtlosen, weil fragmentiert prekär Beschäftigten auf der einen und mächtigen, weil global agierenden Konzernen auf der anderen Seite zurückzuführen. Die Unternehmen sorgten mit einer spezifischen »repressiven Vergemeinschaftung« für Ruhe. Einerseits wird der Chef geduzt, die Callcenter präsentieren sich als eine betriebliche Familie – wer dem Unternehmensziel und damit dem eingebildeten Kollektiv schadet, hat aber entsprechend mit Repressalien zu rechnen, auch aus dem Kollektiv. Von Drohanrufen bei Gewerkschaftern oder Demonstrationen vor Betriebsrats- und Gewerkschaftsbüros wird aus der Branche berichtet.
Dennoch ist der Streik in Halle nicht das einzige Zeichen von Renitenz. In Leipzig ist die Freie ArbeiterInnen-Union (FAU) seit geraumer Zeit in Callcentern aktiv, in Münster organisieren sich Mitarbeiter von Callcentern in der Betriebsgruppe »Telefonzelle Münster« und das Online-Forum chefduzen.de gibt seit 2010 die Callcenter-Zeitung Die Quote heraus.
Dass selten gestreikt wird, heißt nicht, dass die Callcenter-Agenten auch immer zur Arbeit erscheinen: In Teltow stand Arvato im Dezember vorigen Jahres vor einem leeren Callcenter, das das Unternehmen von O2 gekauft hatte. Den 200 Mitarbeitern war jedoch klar, dass sich ihre Löhne deutlich verschlechtern würden, und sie verzichteten auf die Weiterbeschäftigung. So kann die Prekarität manchmal doch einen Vorteil im Arbeitskampf bieten.