Der Gesetzentwurf zur Beschneidung von Jungen

Keine Anästhesie im Beschneidungsstreit

Der Gesetzentwurf zur Beschneidung von Jungen wird von Vertretern der jüdischen und muslimischen Gemeinden begrüßt. Den Kritikern der Beschneidung bietet er viele Angriffspunkte.

Das Sorgerecht der Eltern ist im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) nicht gerade ein besonders differenziert ausgestaltetes Recht. Was das Kindeswohl eigentlich sein soll, wird im BGB ebenfalls nicht erläutert, geschweige denn wie ermittelt werden soll, was dem Kindeswohl dient. Unter welchen Bedingungen Kinder geschiedener oder nie verheirateter Eltern den Vater oder die Mutter sehen können, wie entschieden wird, bei wem sie aufwachsen sollen, in welchen Fällen den Eltern das Sorgerecht ganz entzogen werden soll – darüber schweigt der Gesetzgeber.
Und das wohl mit gutem Grund: Gesetze können keine Einzelfälle regeln, auch für einzelne Maßnahmen taugt ein Gesetz in der Regel nicht, will man nicht aus dem ganzen Leben einen Verkehrskindergarten machen. Es gibt keine Gesetze, die ausdrücklich regeln, unter welchen Bedingungen die Ohren operativ angelegt werden sollen, wann Zungenpiercings geduldet werden dürfen, in welchen Fällen in eine Chemotherapie eingewilligt werden muss und wann die medizinische Behandlung eines schwerstbehinderten Neugeborenen abgebrochen werden darf oder fortgeführt werden muss. Manche dieser Konflikte werden unter Zuhilfenahme des Strafrechts im Einzelfall entschieden, in vielen Fällen werden die Familiengerichte eingeschaltet, die dann unter Anwendung der allgemeinen Normen zu mehr oder weniger gelungenen Entscheidungen kommen.

So war es bislang auch mit der Beschneidung von Jungen: Es gab sie, es gab Konflikte, es gab Entscheidungen von Strafgerichten, von Familiengerichten, von Arzthaftungssenaten. Ärzte und nichtärztliche Beschneider wurden in Deutschland verurteilt, wenn sie unhygienisch gearbeitet hatten, wenn sie die Einwilligung der Eltern nicht eingeholt hatten, wenn sie nicht kunstgerecht beschnitten hatten. Sie wurden freigesprochen, wenn ihnen all das nicht nachgewiesen werden konnte.
Dann kam das Landgericht Köln und hat eine höchst dürftige Entscheidung gefällt (Jungle World 27/12). Die Öffentlichkeit hat darauf recht befremdlich reagiert und nun, ein knappes halbes Jahr später, gibt es einen in der Bundesregierung abgestimmten Gesetzentwurf, der auch nicht gerade überzeugend ist, der aber von Vertretern der jüdischen und muslimischen Gemeinden begrüßt wird. Ob dieser Gesetzentwurf aus dem Bundesjustizministerium unter Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), für den sich auch Familienministerin Kristina Schröder (CDU) erwärmen kann, so vom Parlament beschlossen werden wird, ist allerdings noch offen. Die Kritiker lauern bereits, denn es finden sich genügend Angriffspunkte in dem Gesetzentwurf.
Die neue Regelung soll ins BGB aufgenommen werden, nicht wie anfangs von einigen gefordert ins Strafrecht und auch nicht ins Gesetz über die religiöse Kindererziehung. So soll einerseits verhindert werden, dass Beschneidungen an sich schon die Staatsanwaltschaft zur Prüfung auf den Plan rufen, andererseits soll auch kein religiöses Sonderrecht geschaffen werden. Damit wären die Motive der nicht medizinisch indizierten Beschneidung von Jungen in rechtlicher Hinsicht zukünftig nicht von Interesse – das mag einerseits klug sein, andererseits erscheint es angesichts der Debatte und der Beschneidungspraxis in Deutschland wenig überzeugend: Ginge es nicht um die Religionsfreiheit, wäre kaum in Erwägung gezogen worden, eine gesetzliche Regelung zu schaffen.
Neu geschaffen werden soll ein Paragraph 1631d BGB, der es Sorgeberechtigten erlaubt, in die Beschneidung von Jungen einzuwilligen. Diese nicht medizinisch indizierte Beschneidung muss »nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt werden«. Medizinische Leitlinien zur Beschneidung von Jungen gibt es zwar nicht, wohl aber eine Leitlinie zur Behandlung der Phimose oder Paraphimose, die von der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie 1999 verabschiedet wurde und die auch Aussagen über Beschneidungen trifft, die gegebenenfalls im Zuge der Behandlung einer Phimose nötig sind, beispielsweise über die Art der Anästhesie. Die Vorgehensweise sollte sich bei der nicht medizinisch indizierten Beschneidung nicht wesentlich unterscheiden. Allerdings berücksichtigt die Leitlinie nicht eventuelle Besonderheiten der Beschneidung bei Neugeborenen, weil diese nicht als Phimosepatienten in Betracht kommen.

Der Entwurf des Paragraphen 1631d erlaubt zudem, dass in den ersten sechs Monaten nach der Geburt des Kindes auch diejenigen Personen Beschneidungen durchführen dürfen, die von einer Religionsgemeinschaft dafür vorgesehen sind. Das betrifft die Mohalim, die jüdischen Beschneider. Es ist nachvollziehbar, dass deren Tätigkeit weiterhin möglich sein soll. Doch es bleibt im Gesetzentwurf offen, wie dabei die – wenn auch bislang nur in den Erläuterungen geforderte – angemessene und wirkungsvolle Betäubung gewährleistet werden soll. Ohne einen Arzt kann sie nicht sichergestellt werden. Doch es ist unwahrscheinlich, dass der Mohel einen Anästhesisten hinzuzieht.
Noch unklarer ist, was die Autoren des Gesetzentwurfes meinen, wenn sie verlangen, den Willen des Kindes in die Entscheidung einzubeziehen. Die Frage des Kinderwillens ist im BGB bereits auf grundsätzlicher Ebene geregelt. Paragraph 1626 Absatz 2 verlangt, dass »die Eltern die wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des Kindes zu selbständigem verantwortungsbewusstem Handeln« berücksichtigen sollen. »Sie besprechen mit dem Kind, soweit es nach dessen Entwicklungsstand angezeigt ist, Fragen der elterlichen Sorge und streben Einvernehmen an.« Wenn Kinder zum Zeitpunkt eines Eingriffs, der eine Körperverletzung darstellt, einwilligungsfähig sind, müssen sie nach allgemeinen Grundsätzen selbst einwilligen, jedenfalls darf die Verletzung nicht gegen ihren Willen erfolgen. Insofern gibt es das verlangte Vetorecht ohnehin schon.
In der Begründung zum Gesetzentwurf wird aber weitergehend festgestellt, ein »ernsthaft und unmissverständlich zum Ausdruck gebrachter entgegenstehender Wille des männlichen Kindes« sei »nicht irrelevant«. Was soll dies für kleinere Kinder bedeuten, die noch keinen Willen bilden können? Ist das anhaltende Schreien eines Babys künftig eine rechtlich relevante Willensäußerung? Der Hamburger Rechtsphilosoph Reinhard Merkel, der auch Mitglied des Deutschen Ethikrats ist, möchte etwa in »einer erkennbaren, reflexhaften, sozusagen kreatürlichen Abwehrreaktion« das »natürliche Vetorecht« des Kindes erkennen, wie er im Gespräch mit der Zeit sagte. Doch soll ein solches Vetorecht dann auch in anderen Situationen gelten? Und wenn nein: warum nicht?

Dass die Debatte im Bundestag zur Verbesserung des Gesetzentwurfes führen wird, ist nach allem, was bislang zum Thema aus dem Parlament zu hören war, nicht zu erwarten. Es wäre schon zu begrüßen, wenn wenigstens eine Rednerin oder ein Redner in der Debatte zur Sprache brächte, dass man sich all die gesetzgeberische Mühe, das Tempo und das Engagement für die anderen medizinrechtlichen Themen wünscht, die derzeit größerer Beachtung und tatsächlich einer gesetzlichen Regelung bedürfen. Dazu gehört beispielsweise das Verbot der unfreiwilligen Steri­lisation von Menschen mit geistigen Behinderungen, das durch Abschaffung des Paragraphen 1905 BGB endlich durchzusetzen wäre. Dazu gehört aber vor allem eine Regelung, die Eltern die Einwilligung in genitalverstümmelnde geschlechtszuweisende Operationen bei intersexuellen Kindern verbietet. Diese werden auch von Kinderchirurgen und -ärzten empfohlen und durchgeführt, die sich zurzeit vehement gegen die Vorhautbeschneidung bei Jungen aussprechen, weil diese eine irrever­sible Körperverletzung sei.