»Der Tod von Sweet Mister« von Daniel Woodrell

Schreie in Flaschen

Daniel Woodrell führt in seinem Roman »Der Tod von Sweet Mister« in eine Familienhölle im amerikanischen Hinterland.

Romananfänge sind eine Kunst für sich, nicht ohne Grund werden sie in speziellen Seminaren für kreatives Schreiben gelehrt – aber ob man sie dort wirklich erlernen kann? Ein Mann großartiger erster Sätze ist der US-amerikanische Country-Noir-Schriftsteller Daniel Woodrell. »Ree Dolly stand bei Tagesanbruch auf den kalten Stufen ihres Hauses, roch drohendes Schneetreiben und sah Fleisch.« So beginnt »Winters Knochen«, der erste ins Deutsche übertragene Roman Wood­rells.
Die Verfilmung des Buches (unter dem Originaltitel als »Winter’s Bone«) über das knallharte Leben in der von archaischen Clangesetzen beherrschten, gewaltgesättigten Crystal-Meth-Welt im Bergland der Ozarks war ein Riesenerfolg, auch hierzulande. Wohl nicht zuletzt deshalb, weil die Kino-Adaption risikoreiche Härten ausblendete und die Drastik der Vorlage insgesamt kinotauglich abmilderte. Allerdings wurde nicht der 1953 geborene Autor durch die Verfilmung berühmt, sondern vor allem die junge Hauptdarstellerin Jennifer Lawrence, die seitdem zahlreiche Rollen bekommen hat. Bereits 1999 wurde von Ang Lee »Wer mit dem Teufel reitet«, ein weiterer Roman Woodrells, verfilmt. Der graubärtige Ex-Marine mit den freundlichen Augen hat einen gewissen Ruf als Autor, zumindest in den USA.
»Als wir die Staatsgrenze überquert hatten, sagte Red, ich solle aussteigen und den Pick-up in eine andere Farbe umlackieren. Seine Stimme schien für mich immer voll von diesen Würmern zu sein, die einen fressen, wenn man tot ist. Seine Stimme wollte mich diesen wartenden Würmern vorstellen.« So beginnt »Der Tod von Sweet Mister«, der zweite, abermals von Peter Torberg ohne Reibungsverluste in ein lakonisch-poetisches, makellos klares, mitunter angemessen karges Deutsch übertragene Roman des Autors. Er beginnt mit der Stimme »eines Mannes voll wilder Lust und Boshaftigkeit«. Red ist nicht groß, aber sehr muskulös. Ein Wrestlertyp mit schmierigen, komischen roten Haaren, »wie aus einem Comic-Heft«. Nichts an Red ist freundlich, alles an ihm hat die Bedrohlichkeit einer entschärften Handgranate.
Wieder entwirft der in St. Louis und Kansas City aufgewachsene, inzwischen mit seiner Frau in Missouri lebende Autor mit wenigen Sätzen die komplexe Ahnung einer Welt in den Bergen Missouris, in der das Schöne äußerst rar sein dürfte. Wieder mit der präzisen Wucht eines Kinnhakens. In diesem von verbalen Anfeindungen, sexuellen Übergriffen, alltäglicher häuslicher und schließlich blutig eskalierender Gewalt durchtränkten Familiendrama wird es sogar noch finsterer. Da ist kein Licht am Ende des Tunnels, nicht mal ein entgegenkommender Zug, dem man immerhin ausweichen könnte. Man mag es erstaunlich finden, dass Woodrell nicht die Register des allzu Pathetischen ziehen muss. Stattdessen hat er originelle Bilder zur Hand, in denen gelegentlich sogar Humor aufblitzt: »Der Wald drängte sich von drei Seiten auf den Hof und stand mürrisch da wie eine Menschenmenge, die geduldig wartete, aber nicht ganz sicher war, ob sie jemals eingeladen würde.« Gemeinsam mit dem 13jährigen Ich-Erzähler Shug Akins, von seiner Mutter Glenda neckisch »Sweet Mister« genannt, während Red den leicht übergewichtigen Jungen mit penetranter Regelmäßigkeit als »Fettsack« verhöhnt, rutschen wir zügig tiefer und tiefer in eine extrem ungemütliche, gleichwohl ungemein realistische Sozialhölle. Vor der schnellen, harten Linken seines Vaters muss Shug stets auf der Hut sein: »Ich wusste, dass ich mich hinfallen lassen und schwer getroffen tun musste, wenn die Faust zugeschlagen hatte.« Mutter Glenda kommt Shug bisweilen zu Hilfe, indem sie Vater Red rasch auf andere Gedanken bringt: »Er machte sich lärmend und herrisch über sie her, und sie raspelte ihm keuchend beschissenes Süßholz ins Ohr.« »Die Schreie, die ich damals und in all den anderen ähnlichen Momenten wie in Flaschen verkorkte«, erinnert sich Shug, »warteten nur darauf, wieder herausgelassen zu werden.«
Die Einbrüche, die der Junge auf Geheiß des Vaters begehen muss, hasst er ebenso abgrundtief wie den Vater selbst, diesen schmierigen, hinterhältigen, verlogenen Hund, der ihn zwingt, Todkranken die Medikamente unterm Hintern wegzuklauen, damit er sich mit einem Kumpel zudröhnen kann. Shug hat keine Freunde. Die jugendliche, bemerkenswert nuanciert beschriebene Gefühlswelt ist so schmerzlich, das man sie als Leser kaum aushalten könnte, wäre der Erzähler nicht in der Lage, seine Situation so treffsicher wie packend darzustellen.
Das liebevolle Verhältnis zu seiner jungen Mutter Glenda – einer verführerisch schönen, leider alkoholkranken Frau – erweist sich als trügerische, zusehends gefährliche Stütze. Wie einen Sohn behandelt sie ihn nicht, wenn sie Shug zärtlich-verspielt durch die Haare fährt. Shug liebt seine Mutter über alles. Dass diese unbedingte Liebe in die Zeit seines sexuellen Erwachens fällt, macht die Sache nicht leichter. Irgendwann taucht ein anderer Mann auf, Jimmy Vin Pearce, ein nicht ganz unsympathischer Typ in einem grünen Ford Thunderbird – Glendas Retter.
Woodrell, neben Denis Johnson, Cormac McCarthy und Donald Ray Pollock einer der interessantesten amerikanischen Poeten des White Trash, erzählt in seinen beiden Coming-of-age-Romanen vom Verlust der Unschuld. Doch während das Mädchen Ree aus »Winters Knochen« in einer Welt voller finsterer, brutaler Männer und Frauen zweifellos schreckliche Dinge tun muss, um zu überleben, behauptet es sich am Ende, einem hartnäckig flackernden Lichtlein in windumtoster Dunkelheit gleich, gegen alle äußeren Widerstände – und bleibt dabei auf der guten Seite. »Winters Knochen« ist die spannende, wenn auch etwas unglaubwürdige Geschichte einer mutigen Selbstbehauptung.
Shug hat weniger Glück. Die Welt, der er so gern entfliehen möchte, lässt ihn nicht entkommen, nicht einmal wirklich erwachen. Schlimmer noch: Er selbst ist diese Welt. Dass das Ende von »Der Tod von Sweet Mister« unvermeidbar und überraschend zugleich ist, beweist einmal mehr die literarische Klasse dieses verstörenden, in jeder Beziehung kompromisslosen Autors. Romanenden sind eine Kunst für sich. Erschrocken und leicht angewidert reibt man sich die Augen.

Daniel Woodrell: Der Tod von Sweet Mister. Liebeskind, München 2012, 192 Seiten, 16,90 Euro
Ders.: Winters Knochen. Liebeskind, München 2011, 222 Seiten, 18,90 Euro