Politische Turbulenzen in Tunesien

Ghannouchis heiße Videos

Der Vorsitzende der tunesischen Regierungspartei al-Nahda wurde beim Gespräch mit Salafisten gefilmt. Ungerührt kündigt die regierende »Troika« Neuwahlen und eine Debatte über einen Verfassungsentwurf an.

Der Countdown läuft. Bis zum 23. Oktober dieses Jahres, ein Jahr nach den ersten freien Wahlen in Tunesien, sollte die daraus hervorgegangene verfassungsgebende Versammlung (ANC) ihre Arbeit beendet haben. Darauf hatten sich zwölf wichtige Parteien – abgesehen vom Kongress für die Republik (CPR) des Präsidenten Moncef Marzouki – geeinigt. Nach dem vereinbarten Terminplan sollte, sobald die neue Verfassung von mindestens zwei Dritteln der Gewählten angenommen sei, Neuwahlen organisiert werden, und zwar auf der Basis der neuen Verfassung, die das Wahlprozedere und die Form des neuen Systems, parlamentarisch oder präsidial, definieren sollte. Daher haben die Regierung und der Präsident lediglich einen vorläufigen Status.
Aber der Zeitplan wird nicht eingehalten. Die Übergangsregierung, die sogenannte Troika aus der dominierenden islamistischen Partei al-Nahda, dem CPR und der sozialdemokratisch orientierten Ettakatol des ANC-Vorsitzenden Mustapha Ben Jafaar, hält sich länger als vorgesehen an der Macht. Die Islamisten werden von der säkularen Opposition beschuldigt, Zeit gewinnen zu wollen, um ihren Anhänger Schlüsselpositionen zu verschaffen, oder gar eine neue, diesmal religiös geprägte Diktatur vorzubereiten.
Bereits am 20. September sagte der ehemalige Übergangspräsident Béji Caid Essebsi vor der Presse, die durch die Wahlen errungene Legitimität der Regierung ende am 23. Oktober. »Die Regierung, so wie sie gegenwärtig ist, kann nicht fortgeführt werden, das ist ein Misserfolg.« Seine im Juni gegründete Partei Nida Tounes versteht sich als Kern einer politischen Front gegen die Islamisten. Sie wird von Teilen der Troika beschuldigt, über ihre Organisation die Mitglieder der ehemaligen Staatspartei RCD des im Januar 2011 gestürzten Präsidenten Ben Ali wieder in die Politik integrieren zu wollen.

Erst als der mächtige Gewerkschaftsdachverband UGTT einen »nationalen Dialog« ankündigte, an dem sich die Parteien der Troika und der Opposition beteiligen sollten, um das zu erwartende Legitimationsvakuum einvernehmlich zu füllen, beispielsweise mit einer von Teilen der Opposition favorisierten »Regierung der nationalen Einheit«, wurde der institutionelle Leerlauf beendet. Am Sonntag teilte die Regierung ihre »Vorschläge« mit – am 23. Juni kommenden Jahres sollten Parlament und Präsident gewählt werden. Ein »gemischtes System« soll es werden, »in dem der Präsident direkt gewählt wird«. Bislang hatte al-Nahda ein parlamentarisches System bevorzugt – angesichts der relativen Mehrheit von rund 40 Prozent der Stimmen bei den Wahlen im vorigen Jahr hätte ihr das, sollte sie das Ergebnis bei künftigen Wahlen halten oder gar verbessern, ein institutionelles Übergewicht verschafft.
Kurz zuvor hatte der Vorsitzende des ANC, Ben Jaafar, angekündigt, im November solle der neue Verfassungsentwurf debattiert werden. »Es wird keine Kriminalisierung (der Verletzung des Heiligen, Anm. BB) geben«, sagte er. Aber offenbar soll die von al-Nahda geforderte Blasphemieklausel nun in der Präambel der Verfassung festgeschrieben werden, was für weitere Debatten sorgen wird. Zumindest hat al-Nahda ihren Vorschlag, anstelle der Gleichheit der Frauen ihre »Komplementarität« in die Verfassung zu schreiben, aufgegeben.
Aber die Kritik der säkularen Opposition an den Islamisten verschärfte sich, als vorige Woche zwei Videos im Internet auftauchten, die Rached Ghannouchi, den Vorsitzenden von al-Nahda ohne Staatsamt, im Gespräch mit Salafisten zeigten. Die Videos wurden wohl zwischen Februar und April aufgenommen. Der Online-Publikation Tunisia live zufolge mahnte Ghannouchi seine Gesprächspartner darin zur Geduld, erklärte, die säkularen Gruppen kontrollierten noch die Medien, die Verwaltung und die Wirtschaft, die Armee und die Polizei sei in ihren Händen, und erinnerte an Algerien Anfang der neunziger Jahre – die algerischen Islamisten des FIS hatten damals einen ersten Wahlgang gewonnen, der zweite wurde gestoppt und der Bürgerkrieg brach aus: »Wir dachten, Algerien hätte das Ziel erreicht und es gäbe kein Zurück. Es stellte sich heraus, dass wir die Situation falsch einschätzten (…). Die Moscheen gerieten wieder unter die Kontrolle der Säkularisten und Islamisten wurden verfolgt.«

Eine Welle der Empörung schwappte durch Presse und Internet. Die tunesische Tageszeitung La Presse etwa veröffentlichte einen Artikel mit der skandalisierenden Überschrift: »Der von Ghannouchi angekündigte Putsch«, 75 Abgeordnete der Opposition, so berichtete die gleiche Zeitung, unterzeichneten eine Petition, in der die Auflösung von al-Nahda gefordert wurde, weil die Partei »nicht an die Demokratie glaubt« und »sich gegen den zivilen Aspekt des Staats verschwört«. Al-Nahda hingegen erklärte, die Äußerungen Ghannouchis seien aus dem Zusammenhang gerissen worden.
De facto gibt es innnerhalb von al-Nahda unterschiedliche Umgehensweisen mit den Salafisten. Ende Juni unterschied Vincent Geisser, französischer Soziologe und Politologe sowie Experte für Tunesien, in einem Online-Interview drei unterschiedliche Strategien al-Nahdas gegenüber den Salafisten: Zum einen die Strategie der »friedlichen Repression«, die minoritär sei und die insbesondere Innenminister Ali Larayedh vertrete. Sie beruhe auf der Einschätzung, die Salafisten würden letztlich die politische Hegemonie von al-Nahda bedrohen und schließlich die gesamte tunesische Demokratie zerstören. Zum zweiten die Strategie des laisser-faire, die eher Ghannouchi propagiere: Das »salafistische Problem« werde demnach überwunden, indem die salafistischen Köpfe für al-Nahda zurückerobert würden. Und schließlich die Strategie der Zusammenarbeit, die von al-Nahda-Führern wie Sadok Chourou vertreten werde und die darauf ziele, al-Nahda zu »salafisieren«.
Am 24. September, nach der sommerlichen Welle der Gewalt der Salafisten, sagte Geisser gegenüber Radio Express FM: »Al-Nahda ist dabei, sich zu ›salafisieren‹, und das ist bedauerlich für Tunesien.«