Ein umstrittener Essay über Anders Breivik

Der Massenmörder als Gesellschaftskritiker

Der französische Autor und Herausgeber Richard Millet versucht in einem Essay, die Taten von Anders Behring Breivik zu rechtfertigen.

Was darf die Literatur? Einen Massenmörder wie Anders Behring Breivik wegen der »formellen Perfektion seiner Tat« würdigen und die faschistische Gewalt ästhetisieren? Gilt es, die Freiheit des Wortes zu verteidigen, wenn es sich um Abstraktionen auf hohem literarischem Niveau und ohne unmittelbar praktische Konsequenzen handelt? Darum ging es in der Debatte über die Thesen, die der 1953 geborene Schriftsteller, Herausgeber und Verlagslektor Richard Millet kürzlich veröffentlichte. Der Band enthält die beiden Aufsätze »De l’anti­racisme comme terreur littéraire« (Antirassismus als literarischer Terror) und »Langue fantôme. Essai sur la paupérisation de la littérature suivi de Eloge littéraire d’Anders Breivik« (Phantomsprache. Versuch über die Verelendung der Sprache mit einer literarischen Lobrede auf Anders Breivik). Es ist natürlich vor allem die Lobrede auf Breivik, die in Frankreich heftige Reaktionen ausgelöst hat. Aber nicht nur dort.
In Norwegen erschien das Pamphlet just an dem Tag, als in Oslo das Urteil gegen den Massenmörder fiel. Es fiel anders aus, als Millet erwartet hatte. In seiner Schrift bedauert er vorab, dass man den Todesschützen von Utøya für geisteskrank und darum für schuldunfähig erklären werde. Dies verkenne die politische und ästhetische Dimension der Taten: »Ihn für verrückt zu erklären, heißt, die Gelegenheit zu verpassen, die wirklichen Debatten zu führen, beispielsweise über die Gegenwart des Islam«, schreibt Millet, der sich offenkundig nicht an den politischen Beziehungen zu Staaten wie Saudi-Arabien stört, sondern an der muslimischen Einwanderung in Europa.
Das Urteil über Breivik fiel bekanntlich anders aus: Das Gericht weigerte sich, der Einschätzung vieler Gutachter zu folgen, die Breivik für psychisch krank hielten, vielmehr erklärte es ihn für schuldfähig und verurteilte ihn zu einer Haftstrafe.
Breivik sei, schreibt Millet, »inmitten dieser Dekadenz zweifellos das, was Norwegen verdient hat und was unsere Gesellschaften, die nicht aufhören, die Augen zu verschließen, um sich besser zu verleugnen, in Zukunft erwartet«. Damit meint er den angeblichen Verlust nationaler, kultureller und ethnischer Identität. Millet behauptet, der Massenmord habe eine »literarische Dimension«, und schreibt: »Seine Opfer waren nur Jungsozialisten, also zukünftige Kollaborateure des multikulturalistischen Nihilismus.« In der anschließenden Debatte behauptete er, dass Sätze wie diese und vor allem die Überschrift – »Loblied« auf Breivik – »ironisch« gemeint seien. Ein Sarkasmus, von dem er angenommen habe, dass das Publikum ihn verstehe, wie er in einem Interview Mitte September in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erklärte. Gar so ironisch gebrochen, wie er behauptet, ist seine Interpretation der Taten jedoch nicht. Zwar beteuert er, dass er Breiviks Verbrechen verurteile und als monströs betrachte. Dennoch liefert er eine Art Rechtfertigung des Massenmords, indem er zugleich den »multikulturellen Wahn« in Europa beklagt. Der Multikuluralismus habe bei sensiblen Individuen wie Breivik einen »kulturellen Überlebensinstinkt« wachgerufen.
Um Millet auf die Spur zu kommen, sollte man auch den zweiten Text des Bandes lesen. Dort argumentiert der Schriftsteller, dass an der von ihm behaupteten Verflachung und zunehmenden Geistlosigkeit der Literatur der »Terror des Antirassismus« schuld sei: »Der Zusammenhang zwischen Literatur und Einwanderung mag unbegründet erscheinen; er ist in Wirklichkeit zentral und erregt einen Schwindel des Identitätsgefühls.« Der Autor erregt sich über die »Neubesiedelung Europas mit Bevölkerungen fremder Kulturen« und darüber, dass sich die Literaten »in einer nie gekannten neokolonialen Situ­ation« befänden. Wohlgemerkt, Europa wird seiner Auffassung nach kolonisiert. Millet bewegt sich zwischen literarischer Fiktion und einer offenen Rechtfertigung des rechtsextremen Aktivismus.
Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang seine Biographie: Als Diplomatensohn wuchs Millet im Libanon auf, den er als Heranwachsender verließ. In seiner Schule in der Pariser Vorstadt Montreuil kam er nie zurecht. Später kehrte er in den Libanon zurück, wo ihn die streng nach Konfessionen gegliederte Gesellschaft faszinierte. Er kämpfte im libanesischen Bürgerkrieg (1975–1990) in den Reihen der Phalangisten, also der Milizen der christlichen Rechten mit faschistischen Wurzeln. Über seine Kriegserlebnisse schreibt er auch in einem teilweise autobiographischen Buch »Confessions négatives« (Negative Bekenntnisse). Falls seine eigenen Handlungen sich tatsächlich mit denen seiner Hauptfigur decken, dann war er auch für die Ermordung von Zivilisten mitverantwortlich. Heute noch hält der 59jährige Kontakte in die Region. Im Frühjahr 2012 rechtfertigte er offensiv das Regime Bashar al-Assads in Syrien, da es die dort lebenden Christen schütze.
Die Positionen Millets konnten seinen Arbeitgeber, den renommierten Pariser Verlag Gallimard, eigentlich nicht überraschen. Bereits 2008 hatte der Verlag Millets Buch »Opprobre« (Bannfluch) herausgegeben und danach öffentlich beteuert, den Druck ähnlicher Werke künftig zu verweigern, weil es rassistische Aussagen enthalte. Deshalb erschien sein neuestes Buch nicht bei Gallimard, sondern bei dem Kleinverleger Pierre-Guillaume de Roux. Allerdings war Millet bei Gallimard weiterhin tätig und betreute prominente Autoren und Autorinnen, unter ihnen Jonathan Littell. Millet war bis vor kurzem Mitglied des Comité de lecture, des Herausgebergremiums, das in letzter Instanz darüber entscheidet, was bei Gallimard publiziert wird und was nicht. Bald aber übte der Verlag Druck auf seinen rechtslastigen Lektor aus.
In der Pariser Abendzeitung Le Monde bezeichnete die Schriftstellerin Annie Ernaux das jüngste Werk Millets als »faschistisches Pamphlet, das die Literatur entehrt«. 118 prominente Autoren unterzeichneten den Beitrag und erklärten: »Wir haben den Text von Annie Ernaux gelesen und teilen vollkommen ihre Ansicht.« Zu den bekanntesten Unterzeichnerinnen zählen Tahar Ben Jelloun, François Bon, Boualem Sansal, Nancy Huston, Alain Mabanckou sowie die Mitterrand-Tochter und Literatin Mazarine Pingeot. Der Schrifsteller Patrick Kéchichian befand in einem Essay, das Pamphlet entehre »nicht die Literatur, sondern konkrete Menschen«, die in ihm abgestempelt würden, und der Historiker sowie Lektoren-Kollege Millets, Pierre Nora, bekannte: »Wir sitzen in der Falle.« Damit spielte er vor allem auf die Mitgliedschaft Richard Millets im prestigereichen Comité de lecture an, dem Nora selbst angehört. Durch die berufliche Nähe zu ihm sähen seine Kollegen sich »gezwungen, sich öffentlich zu solidarisieren oder entsolisarisieren«. In seiner ersten Reaktion bezeichnete Antoine Gallimard es als Problem, dass Millet »das Haus repräsentiert« und dies »eine Form der Solidarität impliziert«.
Die Lösung schien also vorgezeichnet. Am 13. September erklärte Millet seinen Rücktritt aus dem Herausgeberkreis. Ansonsten wird er weiterhin für Gallimard tätig sein und »seine« Autoren betreuen. Allerdings soll Millet künftig bei sich zu Hause arbeiten. Seine Solidarität erklärte Robert Ménard, einer der Gründer der Vereinigung »Reporter ohne Grenzen«, der neuerdings in offen rechtsextreme Gefilde abdriftet. Zustimmung erhielt Millet auch in Internetforen. Der Schriftsteller sei ein Opfer der Zensur geworden, urteilten zahlreiche Kommentatoren, und meinten, einen »Sieg der inquisito­rischen Linken« zu erkennen.