Ein Besuch im postrevolutionären Kairo

»In zehn Jahren ist wieder Revolution«

Ein Reisebericht aus dem postrevolutionären Kairo.

Die »ägyptische Revolution« ist nicht nur in Europa zum Mythos geworden. Hier in Kairo kann man bereits »Tahrir Studies« studieren, und während sich die Parteien darum streiten, wer die wahrhaftigen Forderungen des Aufstands vertritt, wird die Revolution regelrecht vermarktet. Am Flughafen wird man von riesigen Tafeln begrüßt, auf denen eine Bank, ein Mobilfunkanbieter und die ägyptische Tourismusbehörde mit den »heldenhaften Taten des ägyptischen Volkes« und den Bildern Fahnen schwenkender Menschenmengen werben. In der Innenstadt werden ägyptische Flaggen und Reproduktionen des Straßenschildes vom Tahrir-Platz sowie diverse andere Revolutionsdevotionalien verkauft, das Reisebüro »Revolution-Tours« bietet Führungen an. Sogar eine revolutionäre Sonderausgabe des Brettspiels Monopoly ist kürzlich erschienen und gibt wohl am ehesten die ägyptische Realität wieder.
Die Stadt ist ein Moloch. Über den von Fahrzeugen verstopften Straßen liegt Smog, der sich zu einer gigantischen schwarzen Wolke ballt. Im gesamten Ballungsraum, zu dem auch die Vororte Heliopolis, Nasr City und al-Giza zählen, leben nach verschiedenen Schätzungen zwischen 15 und 25 Millionen Menschen, Tendenz steigend. Die Hälfte davon besteht aus Tagelöhnern, Bettlern oder Arbeitskraftunternehmern, die zum Beispiel den Verkehr regeln, in der Hoffnung, im Gegenzug etwas Kleingeld zu erhalten, Müll sammeln oder Taschentücher in der U-Bahn verkaufen. Fährt man mit dem Bus über die Ausfallstraße al-Ahram durch al-Giza zu den im Häusermeer der Stadt deplatziert wirkenden Pyramiden, so sieht man für eine halbe Stunde nichts als Wohnblöcke, von denen jedoch nur die wenigsten bewohnt sind. Die meisten verharren als teilweise mit roten Ziegeln aufgefüllte Stahlbetonskelette ungenutzt und unvollendet, während in den staubigen Sandwegen dazwischen die Wohnungslosen ihre Wellblechhütten und Pappkartonbauten errichtet haben. Al-Giza ist einer der Stadtteile, die am schwersten von den immer häufigeren Stromausfällen betroffen sind, was die Partei Sozialistische Volksallianz kürzlich veranlasste, zu einem Boykott der Stromrechnungen aufzurufen. Auch die Müllabfuhr und die Trinkwasserversorgung sind vielerorts mangelhaft, ein weiteres Beispiel für die fehlenden öffentlichen Investitionen, die Kairo zu einer failed megacity machen.

Die Erfahrung der gemeinsamen Demonstrationen, der Besetzungen, der Verteidigung gegen die Sicherheitskräfte während des Aufstands vor zwei Jahren teilen heute viele Menschen. Als nach dem Sturz des Dikators Hosni Mubarak der Militärrat (SCAF, Supreme Council of the Armed Forces) mit westlicher Unterstützung die Revolution für beendet erklärte und weitere Proteste brutal niederschlug, war es der Kampf gegen die Militärherrschaft, für die Freilassung der Gefangenen und der vor ein Militärgericht gestellten Aktivisten und Bürger sowie die Verurteilung der Verantwortlichen, der die Protestierenden einte. Ihre Forderungen sind bislang noch nicht erfüllt worden.
Die Revolution ist vorerst vorbei. Was bleibt, ist eine Vielzahl von Aktivitäten, die seit dem allgemeinen Aufruhr im Januar 2011 von neuen Bündnissen und Gruppen ausgehen und bei denen die Widersprüche in der Gesellschaft hervortreten. Am Straßenrand in Nasr City kann man Frauen beobachten, die Schilder tragen, auf denen Sprüche wie »Werft keinen Müll auf die Straße« und »Fahrt vorsichtig« stehen. Andere organisieren eine Demonstration gegen die verbreiteten sexuellen Übergriffe. In verschiedenen Gegenden Ägyptens blockieren Anwohner Fabriken, die die Umgebung verschmutzen. Studierende an privaten Hochschulen protestieren gegen die Erhöhung von Studiengebühren und vor dem Präsidentenpalast in Heliopolis verharren körperlich und geistig Behinderte, um gegen Diskriminierung und für mehr staatliche Hilfen zu demons­trieren.
Karim, Maschinenbaustudent an der staatlichen Ain-Shams-Universität, zeigt auf die Schauplätze vergangener Schlachten. In der Mouhamed-Mahmoud-Straße, am angrenzenden Campus der American University of Cairo, fanden einige der schwersten Auseinandersetzungen der SCAF-Ära statt.
»Wir waren schon süchtig nach Tränengas«, erinnert sich Karim, »das Problem hier ist, dass sie mit den Granaten aufs Gesicht zielen.« Die Mauer um den Campus ist zum künstlerischen Schaufenster der Revolution geworden, zum Zentrum einer neuen, politischen Graffiti-Bewegung. Vor einer Woche ließ die Regierung die Wand neu streichen – heute findet sich bereits kaum ein freier Platz mehr und die Motive sind zum Teil radikaler als zuvor. Die Künstler, die noch einen freien Fleck für ihre Botschaft gefunden haben, werden von Passanten umringt, angeregte Diskussionen finden statt. Ein Künstler, dessen Motiv an pharaonische Darstellungen erinnert, sagt: »Ägypten ist älter als Mubarak, Ägypten ist älter als der Islam. Die Zeit der Pharaonen war eine Zeit des Lichts und dahin müssen wir zurück.« Waren die Pharaonen nicht auch Diktatoren? »Wo gibt es denn echte Demokratie? Diktatur ist immer, irgendwie«, lautet die schlichte Antwort. Einige Polizisten bleiben in der Nähe, machen aber keine Anstalten, die Gitter, die von den Verteidigern der Mauer aufgestellt worden sind, zu überqueren.

Neben Motiven, die Zensur, Korruption, die ägyptischen Staatsmedien und das Militär angreifen, finden sich vor allem Abbilder der »Märtyrer der Revolution«, die auch anderswo das Stadtbild prägen. Allein ihre Vielzahl entkräftet den Vorwurf des Personenkults. Es handelt sich wohl eher um eine Form der Trauerarbeit. »Fast alle von uns haben in den letzten beiden Jahren Freunde verloren«, erzählt Karim. Viele Graffiti tragen die Kürzel der Ultra-Fangruppen lokaler Vereine. »Die Ultras sind großartige Verbündete, wenn es zum Kampf kommt. Aber politisch würde ich mich nicht auf sie verlassen«, sagt Karim.
Die Querstraßen, die einst zum Innenministerium und dem Parlamentsgebäude führten, sind nun durch meterhoch gestapelte Betonquader versperrt. In der nächsten freien Straße befindet sich schließlich, flankiert von zwei Panzern, ein schmaler Zugang zu den Gebäuden. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite parken unzählige schwarze Laster, die wie Gefangenentransporter aussehen. Auf dem Bürgersteig sitzen drahtige, junge Männer in schwarzen Hemden und Hosen. Es sind Rekruten der Zentralen Sicherheitskräfte, die zur Aufstandsbekämpfung eingesetzt werden. »Das sind arme Schlucker, die 400 Pfund (umgerechnet etwa 50 Euro) auf die Hand bekommen und dann hierher verschleppt werden, um gegen uns zu kämpfen. Sie haben keine Ahnung, worum es in den Konflikten geht, und bekommen selbst kaum genug zu essen«, sagt Karim.
Die Ain-Shams-Universität im Westen der Stadt ist mit rund 170 000 Studierenden die drittgrößte öffentliche Universität in Kairo. »Um hier zu studieren, muss man schon zu den Besten der Besten gehören«, sagt Alia, die wie Karim Bauingenieurswesen studiert. Wer es sich leisten kann, geht meist an eine der vielen privaten Hochschulen, die etwas mehr als die Hälfte der höheren Bildungseinrichtungen ausmachen. Dort zahlt man an einer Fachhochschule für Ingenieure rund 7 000 ägyptischen Pfund im Jahr, bis zu 150 000 Pfund für die renommierte American University of Cairo, wobei das ägyptische Durchschnittsjahreseinkommen bei 34 000 Pfund liegt. Um dem Andrang der Studienbewerber trotz ausbleibender Mittel nachzukommen, setzt man inzwischen auch hier auf Public-Private-Partnership und einige Kurse sind jetzt kostenpflichtig. Dass die gut ausgebildeten Jugendlichen ohne große Aufstiegschancen, aber ausgestattet mit dem Potential der neuen sozialen Medien, die treibende Kraft der Revolution gewesen sind, hat man ja schon oft gehört. Auch der Maschinenbaustudent Ismail sieht das so: »Die Studierenden waren das Rückgrat der Revolution.« Sein Kommilitone Hassam erzählt von Wael Ghonim, dem Gründer der Facebook-Seite »Wir sind alle Khaled Said«: »Er ist der Mann, der die Revolution begonnen hat«, sagt Hassam. Für den derzeit stattfindenden Streik der Universitätsangestellten haben nur die wenigsten Studierenden Verständnis. »Sie demonstrieren nur für ihre eigenen Interessen«, meint Doha. Ihnen wird vorgeworfen, ohnehin nicht gut zu arbeiten, zudem rechnen viele das Hochschulpersonal pauschal dem alten Regime zu.

Proteste und Streiks von Lohnabhängigen finden seit Februar 2011 in vielen Bereichen statt. Eine Kooperation von Studierenden, Mittelschicht und Arbeiterinnen und Arbeitern kommt dabei nur partiell zustande. Als die ersten Streiks im Februar 2011 ihren Höhepunkt erreichten, trat Mubarak zurück und die Besetzerinnen und Besetzer des Tahrir-Platzes erklärten die Besetzung für beendet. Mit der Gründung neuer, unabhängiger Gewerkschaften wurden die Arbeitskämpfe heftiger. Die Fahrer der in Kairo allgegenwärtigen Mikrobusse blockieren mit ihren Fahrzeugen Regierungsgebäude und Kreuzungen und bringen den ohnehin chaotischen Straßenverkehr endgültig zum Erliegen. Vor einer Woche stürmten Hunderte irregulär beschäftigte Landarbeiter das Ministerium für Landwirtschaft und forderten Arbeitsverträge. Auch Hafenarbeiter, Lehrer und Universitätsangestellte sowie weitere öffentliche Angestellte fordern Lohnerhöhungen und sichere Arbeitsverhältnisse. Verbreitete Forderungen sind außerdem die Erhöhung des seit 1986 stagnierenden Mindestlohns, das Ende der Privatisierungspolitik und die Anhebung der Subventionen für Nahrungsmittel und Brennstoffe. Und natürlich die ausstehende Reform des repressiven Gewerkschaftsgesetzes, welches die Existenz unabhängiger Gewerkschaften verbietet. Diese werden zwar derzeit geduldet, Regierung und Unternehmen können jedoch auf andere Mittel zur Schwächung der teilweise militanten Streiks zurückgreifen: fristlose Entlassungen, die Festnahme von »Aufrührern« und »Saboteuren« sowie das Einklagen von Gewinnausfällen von der Belegschaft.
Neben der starken Beteiligung an den großen Protesten in der Innenstadt bringen auch die Studierenden ihre eigenen Forderungen vor, die wichtigste davon ist die Versammlungsfreiheit, insbesondere das Recht auf politische Meinungsäußerung und auf Demonstration auf dem Campus. Doch daraus ist bislang nichts geworden. Die Rechte der Studierenden und die Form ihrer Interessenvertretung regelt ein Gesetz. 2011 setzten revolutionäre Studentinnen und Studenten überall freie Wahlen für diese seit Jahren brachliegende Institution durch und stritten für eine Gesetzesänderung. Nach Angaben von Rama, die damals Vizepräsidentin der Revolutionären Studentenvertretung war, standen die Chancen nicht schlecht, den kollektiv erarbeiteten Entwurf für ein neues Gesetz durchzusetzen. Doch dann organisierten die mit der Muslimbruderschaft assoziierten Studierenden aller ägyptischen Universitäten Demonstrationen, mit denen sie eine Neuwahl erzwangen. Während zahlreiche Gruppen zum Boykott aufriefen, konnten Islamisten wegen ihrer guten Vorbereitung eine absolute Mehrheit an den meisten Universitäten erlangen – bei einer Wahlbeteiligung, die nur ein Bruchteil des Vorjahres erreichte. Seitdem verhandeln Studierende mit einem Minister, der derselben Partei angehört wie sie, über die Gesetzesänderung. Andere Studierende beklagen sich über mangelnde Transparenz. Mit den hierarchischen Strukturen, die das alte Gesetz für die Organisation der Studierendenvertretung vorgibt, haben die neuen Studierendenvertreter offenbar kein Problem.

Diese Ereignisse seien symptomatisch, meint Aala, die Pharmazie studiert: »Die Muslimbruderschaft versucht derzeit, alle gesellschaftlichen Bereiche zu dominieren.« Denn die Ereignisse der vergangenen Jahre brachten nicht nur einen neuen Patriotismus, sondern auch eine neue Religiosität mit sich. Aala trägt ihr Kopftuch, wie einige ihrer Freundinnen, erst seit einem Jahr. »Auch wenn ich nicht an das Vorurteil glaube, dass Frauen wegen ihrer Kleidung selbst schuld sind, wenn sie sexuell angegriffen werden, fühle ich mich mit Kopftuch sicherer.«
Nicht nur überzeugte Säkularisten üben Kritik an den Muslimbrüdern. Seit diese im März erstmals in den Ruf des Militärrats nach einer »Rückkehr zur Normalität« und der Gewährleistung wirtschaftlicher Stabilität einstimmten und ihre Anhänger dazu aufriefen, nicht mehr an Demons­trationen teilzunehmen, ist für viele klar, das sie sich bereits erhofften, zur neuen Führungsmacht im Land zu werden: »Ohne das Militär kann man in Ägypten nicht regieren.«
Während der Militärrat seine Akzeptanz schnell verloren hat und die unübersehbaren Propagandaplakate von niemandem mehr so recht ernst genommen werden, ist offene Kritik am Militär als Institution eine Seltenheit. Die Armee zehrt bis heute von dem fraglichen Verdienst, mit ihrem Putsch im Jahre 1952 die nationale Unabhängigkeit Ägyptens hergestellt zu haben. Die Wahrnehmung Israels als permanenter Aggressor tut ihr übriges. Ausschlaggebend für die Loyalität dürfte aber letztlich die Tatsache sein, dass das Militär der größte Arbeitgeber im Land ist, gerade auch für die Ingenieure und Facharbeiter, deren Nachwuchs heute an den Universitäten studiert. Mubarak war bemüht, die unternehmerische Tätigkeit des Militärs zu fördern. Mit den Konzernen Arab Organization of Industry und National Service Products Organization wird dessen Besitzanteil an der Wirtschaft des Landes auf 30 bis 40 Prozent geschätzt, wobei die Produktpalette von Raketen und Panzern über Autos und Flugzeuge bis hin zu Industrieanlagen, Computern, Reinigungsmitteln und Getränken reicht. Außerdem ist es Betreiber zahlreicher Freizeiteinrichtungen, Krankenhäuser und Immobilien, zu denen zumindest höhere Militärangehörige einen privilegierten Zugang erhalten. Zölle und Steuern muss das Militär nicht bezahlen und bei der Vergabe von Regierungsaufträgen wird es bevorzugt herangezogen.

Die Muslimbruderschaft verdankt ihre heutige Stärke dagegen vor allem ihrem sozialen Engagement. Mit Schulen und Krankenhäusern überall in Ägypten und als Betreiber von schätzungsweise 1 000 von 5 000 im Land registrierten NGOs konnte sie von der Schwäche des öffentlichen Sektors profitieren. Aufgrund ihrer erzwungenen Illegalität in der Vergangenheit hat die Muslimbruderschaft bislang noch keinen Status, der rechtlichen Grundlagen entspricht, und bleibt damit undurchsichtig. Die strenge Hierarchie der Vereinigung, in der die Anhänger etwa sieben Jahre brauchen, um die fünf Stufen bis zur Vollmitgliedschaft zu durchlaufen, stellt die demokratische Legitimation der eigenen »Partei für Freiheit und Gerechtigkeit« zusätzlich in Frage. Denn auch die Abgeordneten der Partei ebenso wie Präsident Mohammed Morsi sind den Weisungen der Führung verpflichtet, die sich vor allem aus wohlhabenden Unternehmern zusammensetzt, und zuvorderst dem Vorsitzenden Muhammad Badi’e.
Dass die Partei der Muslimbrüder nur bedingt für die Einlösung der revolutionären Forderungen steht, machte schon die Differenz der Namensgebung zum Slogan der Revolution – »Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit« – deutlich. Das politische Programm der Partei heißt »al-Nahda« (Renaissance), es wird um eine zeitgeistgemäße neoliberale Wirtschaftspolitik ergänzt. Für die Kampagne werben Plakate in der Stadt und einige Studenten tragen Buttons mit dem dazugehörigen Logo, zwei ineinander greifende Zahnräder, und dem Aufdruck »Be Productive«. Das entspricht dem Selbstbild vieler von ihnen. Der Glaube an dieses Modell der Entwicklung – Ägypten müsse nur konsequent marktwirtschaftlichen Prinzipien folgen, um ebenso erfolgreich wie das beliebte Vorbild Deutschland zu sein – ist groß. Allerdings ist die Anhängerschaft der Muslimbrüder keineswegs homogen. In den vergangenen zwei Jahren erlebte sie bereits zwei Abspaltungen. Wenn die Partei weiterhin auf sozialstaatliche Zugeständnisse verzichtet, könnte das erneut passieren. Oder wie es der Straßenhändler Hassam es ausdrückt: »Es ging um Brot. Wir haben immer noch kein Brot. Wenn das so weiter geht, sage ich: In zehn Jahren ist wieder Revolution.«