Charlotte Salomon im Jüdischen Museum Frankfurt

Das ganze Leben

Das Jüdische Museum Frankfurt zeigt eine Ausstellung mit Arbeiten der lange Zeit vergessenen Künstlerin Charlotte Salomon.

In seinem Essay »Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit« berichtet Theodor W. Adorno von einer Frau, »die einer Aufführung des dramatisierten Tagebuchs der Anne Frank beiwohnte und danach erschüttert sagte: Ja, aber das Mädchen hätte man doch wenigstens leben lassen sollen.« Ähnlich ideologisch wie die Rezeption des Tagebuchs der Anne Frank ist die Wirkungsgeschichte, die das Werk der im Alter von 26 Jahren in Auschwitz ermordeten Charlotte Salomon erfahren hat. Als 20 Jahre nach ihrer Ermordung im Jahr 1943 ein Katalog mit Auszügen aus ihrem Werk erschien, versuchte der Verlag mit dem Titel »Ein Tagebuch in Bildern« das Lebenswerk Salomons als zweites Tagebuch der Anne Frank zu inszenieren: Charlotte Salomon als Anne Frank der Kunst. Im Vorwort wurde die »Schlichtheit, fast Primitivität« betont, mit der Salomon »eine uns allen verständlich Lebensgeschichte« erzählt habe. Zu diesem Zweck wurden einzelne von Salomons den Abbildungen hinzugefügten Texten sogar manipuliert, manche Aspekte der »allen verständlichen Lebensgeschichte« sollten dem bundesdeutschen Nachkriegspublikum nicht zugemutet werden. »Weißt du, Großpapa, ich hab das Gefühl, als ob man die ganze Welt wieder zusammensetzen müsste«, sagt die Erzählerin Charlotte Kann in der Version von 1963. In der gerade im Jüdischen Museum Frankfurt gezeigten Ausstellung wird auch die Erwiderung des Großvaters mitgeteilt: »Nun nimm dir doch schon endlich das Leben, damit dies Geklöne endlich aufhört.« Die Kuratorin der Frankfurter Ausstellung, Deborah Schulz, fasst im Katalog zur Ausstellung zusammen: »Die Rezeption ihres Werks war verspätet, einseitig und von Missverständnissen geprägt.«
Obwohl die beschönigende Lesart als naive Autobiographie mittlerweile aufgegeben wurde, wie Erik Riedel, der Co-Kurator betont, ist Salomons in der deutschen Kulturgeschichte einzigartiges Werk »Leben? oder Theater? Ein Singespiel« noch immer seltsamen Vereinnahmungen ausgesetzt. Auf der Documenta 13 platzierte die Kuratorin Carolyn Christov-Bakargiev Auszüge aus »Leben? oder Theater?« im selben Raum, in dem Arbeiten der zeitgenössischen ägyptischen Künstlerin Anna Boghiguian gezeigt wurden, deren Werk, wie im Documenta-Katalog ausgeführt wird, »die Faktizität der Geschichte« dekonstruierte und sie in Poesie verwandele. Auf diese Weise wurde »Leben? oder Theater?« wiederum in einen falschen Zusammenhang gestellt und seiner Intention entleert, denn eines ist das Werk sicherlich nicht: eine Dekonstruktion von Geschichte.
Charlotte wird 1917 als Tochter eines Chirurgen in einem liberalen jüdischen Elternhaus in Berlin geboren. Nach dem Selbstmord ihrer Mutter 1926 heiratet ihr Vater 1930 die Konzertsängerin Paula Lindberg. Charlotte beginnt mit einem Kunststudium in Berlin, muss die Schule aber 1937 wegen ihrer jüdischen Herkunft verlassen und flieht 1939 aus Berlin ins französische Exil. Nach dem Selbstmord der Großmutter und einer kurzen Haft gemeinsam mit ihrem Großvater im Internierungslager Gurs im Juli 1940 beginnt Salomon mit der Arbeit an dem Bilderzyklus »Leben? oder Theater?«. Bis 1942 entstehen unter dem Eindruck der Bedrohung ihres eigenen Lebens und des Lebens ihrer Eltern, die in die Niederlande geflohen sind, über 1 300 Gouache-Bilder. 769 Bilder wählte Salomon für den Zyklus »Leben? oder Theater?« aus. Salomon lebte versteckt im Landhaus der Amerikanerin Ottlie Moore, einer Freundin der Großeltern, im südfranzösischen Villefranche-sur-Mer. Ihr ist das Werk gewidmet. Im Februar 1943 stirbt der Großvater Ludwig Grunwald, im Juni heiratet sie den österreichischen Exilanten Alexander Nagler, im September werden beide nach Auschwitz deportiert. Kurz vor ihrer Deportation übergibt Charlotte Salomon ihr gesamtes künstlerisches Werk dem befreundeten Dorfarzt von Villefranche-sur-Mer mit den Worten: »Heben Sie das gut auf, das ist mein ganzes Leben!« Der Arzt hält sich an Salomons Worte und übergibt das Vermächtnis 1947 an Charlottes Vater Albert Salomon, der in einem Versteck in den Niederlanden überlebt hat. So konnte eines der ungewöhnlichsten und interessantesten Zeugnisse deutsch-jüdischer Kunst und Zeitgeschichte gerettet werden.
»Leben? oder Theater?« erzählt die Geschichte der Familie Salomon von 1913 bis 1940 aus der Perspektive Charlottes. Da der in den Jahren zwischen 1940 und 1942 entstandene Zyklus die Familiengeschichte aus der Retrospektive schildert, ist die Bezeichnung »Tagebuch« irreführend, aber auch als Autobiographie kann man das Werk nur schwerlich bezeichnen, zu verfremdet erscheinen die Figuren. Ihr Ziel sei es gewesen, schreibt Salomon, »aus sich selbst herauszugehen und die Personen mit eigener Stimme singen oder sprechen zu lassen«. Die 769 mit Texten kombinierten Gouache-Bilder stellen ein Werk dar, das sich nicht in die Entwicklungen und Strömungen der europäischen Kunst in der ersten Jahrhunderthälfte einordnen lässt. Zwar hatten Avantgarde-Künstler bereits mit Text-Bild-Collagen gearbeitet, nicht jedoch mit dem Ziel, eine zusammenhängende Handlung zu erzählen, sondern eher um die bürgerlichen Vorstellungen von Kunst zu sprengen. Einige Bilder erinnern an die Malerei Egon Schieles oder Vincent van Goghs, andere in ihrer Flüchtigkeit an Marc Chagall, wieder andere sind in ihrer Modernität eher den Arbeiten von Mark Rothko ähnlich.
Dennoch ist der Versuch, ganze Bildsequenzen zu schaffen und die Texte mit Verweisen auf die Musik zu unterfüttern, einzigartig. Über 40 Mal weist Salomon auf bekannte Melodien aus dem Kabarett, aus Operette und Oper hin, die der Leser beim Betrachten des jeweiligen Bildes im Hinterkopf haben soll. Andere Lieder bilden eine Form von historischem Kommentar zu den abgebildeten politischen Entwicklungen, etwa wenn im Januar 1933 das Horst-Wessel-Lied zitiert wird, während das Bild einen Aufmarsch unter Hakenkreuzbeflaggung zeigt. Salomon beschreibt den Charakter ihres Bilderzyklus im Epilog folgendermaßen: »Die Entstehung der vorliegenden Blätter ist sich folgendermaßen vorzustellen: Der Mensch sitzt am Meer. Er malt. Eine Melodie kommt ihm plötzlich in den Sinn. Indem er sie zu summen beginnt, bemerkt er, dass die Melodie genau auf das, was er zu Papier bringen will, passt. Ein Text formt sich bei ihm, und nun beginnt er die Melodie mit dem von ihm gebildeten Text zu unzähligen Malen mit lauter Stimme so lange zu singen, bis das Blatt fertig scheint.« Bestehende Gattungsbegriffe können das Werk Salomons nur schwerlich fassen, die Künstlerin beschriebt es als »Singspiel«, der narrative Charakter und die in die Bilder geschriebenen Dialoge, insbesondere die Ästhetik der Typographie, lassen oftmals an Comics denken, viele Sequenzen scheinen auch vom Film beeinflusst zu sein. Die Kulturwissenschaftlerin Griselda Pollock beschreibt »Leben? oder Theater?« als »ein Werk, das unter einer rätselhaften Reihe von Fragezeichen eine ganze Geschichte von Erzählweisen der westlichen Malerei und Graphik, des modernen Journalismus und des Films, populäre und klassische Musik sowie Anspielungen auf klassische wie auch skandalumwitterte Literatur einbezieht oder rekapituliert«.
Am besten betrachtet man den Zyklus als singuläres Werk in der Kunstgeschichte, das neben dieser Avantgardestellung als Kunstwerk gleichzeitig ein Dokument des jüdischen kulturellen Lebens der Weimarer Zeit, des wachsenden Antisemitismus, der Machtergreifung der Nationalsozialisten und der Situation jüdischer Exilanten ist. Salomon nutzt Strukturen fiktionalen Erzählens, um die Realität zu erkunden, versucht aus dem französischen Exil heraus die Erinnerungen an die eigenen Kindheit und Jugend zu rekonstruieren, Bilder für diese zu finden und daraus eine Erzählung zu komponieren. Und nicht zuletzt ist das Malen auch eine Form von Therapie, um die Einsamkeit des Exils zu ertragen. »Sie sah sich vor die Frage gestellt, sich das Leben zu nehmen oder etwas ganz verrückt Besonderes zu unternehmen«, schreibt Salomon im Epilog, und an anderer Stelle heißt es: »Lieber Gott, lass mich bloß nicht wahnsinnig werden.«
Dem Singspiel ist ein Zitat aus Psalm 144, der Einleitung des Gedenkgottesdienstes an Jom Kippur, vorangestellt: »Was ist der Mensch, dass du sein gedenkest, der Erdenwurm, dass du auf ihn achtest?« Gedenken ist der Antrieb Salomons, der Versuch, der Auslöschung der eigenen Familie ein Erinnern entgegenzusetzen, einen rastlosen Versuch, so viel wie möglich zu erzählen, bevor die Vernichtungsmaschinerie sie in Südfrankreich einholt. Das Buch dokumentiert die Suche nach einer angemessenen Form dieses Gedenkens. Charlotte Salomon fehlt die Zeit, damit aus der Suche ein Finden wird, zu schnell überrollen die Künstlerin die Ereignisse. Sie stellt daher in der Vorrede die Suche nach einer Form in den Mittelpunkt und schreibt: »Da ich selbst ein Jahr brauchte, um herauszufinden, was es mit dieser merkwürdigen Arbeit auf sich habe, sind mir, besonders bei den ersten Blättern, manche Texte sowie die Melodien entfallen und müssen, wie die Gesamt­entstehung mir scheint, in Dunkel gehüllt bleiben.«
Ins Dunkel gehüllt bleibt etwa die Lebensgeschichte ihrer Tante Charlotte, die sich 1913 umbrachte und nach der die vier Jahre später geborene Charlotte Salomon benannt ist. Der Selbstmord bildet den Auftakt von »Leben? oder Theater?« und gibt dem Bilderzyklus auf diese Weise von Beginn an einen düsteren und melancholischen Ton. Dann erzählt Salomon von ihren Eltern, dem als Soldat im Ersten Weltkrieg ausgezeichneten Chirurgen Albert Salomon und der Sanitätsschwester Franziska Grunwald, die wie alle Figuren mit Rollennamen ausgestattet sind und hier Doktor Kann und Franziska Knarre heißen. Die Mutter begeht, als Charlotte neun ist, Selbstmord, was die Tochter, die im Glauben gelassen wird, die Mutter sei an einer Grippe gestorben, allerdings erst nach dem Suizid der Großmutter in Frankreich erfährt. Die zweite Ehefrau des Vaters, die Sängerin Paula Lindberg, wird im Singspiel Paulinka Bimbam genannt. Als wohlhabende Familie führen die Salomons in Berlin das Leben assimilierter Juden, reisen durch Europa und gehören zur Kulturszene der Stadt. Nach der Machtergreifung der Nazis werden sie als Juden umso strenger geächtet. Albert verliert seine Anstellungen im Krankenhaus und an der Universität und darf nur noch im Jüdischen Krankenhaus tätig sein, Paula Lindberg-Salomon erhält Auftrittsverbot. Charlotte verlässt ein Jahr vor dem Abitur die Schule wegen der immer heftigeren antisemitischen Anfeindungen, und auch eine Kunstakademie verlässt sie wieder, nachdem sie immer öfter von »Juden raus!«-Chören begrüßt wird und ihr ein Preis eines Hochschulwettberwerbs verweigert wird, weil sie Jüdin ist. Als der Vater nach der Pogromnacht 1938 verhaftet und im KZ Sachsenhausen interniert wird, von wo er nur dank der Kontakte seiner Ehefrau wieder freikommt, entschließt sich die Familie, Charlotte nach Südfrankreich zu schicken, wo die Großeltern sich bereits aufhalten.
Mit einem Wochenendvisum – Reisepässe durften Juden nicht mehr besitzen – reist sie nach Nizza. Dort erlebt sie eine kurze Phase der Erleichterung, die jedoch spätestens endet, als die depressive Großmutter sich 1940 aus Angst vor dem Vormarsch der deutschen Truppen vor den Augen ihrer Enkelin aus dem Fenster stürzt. In diesem letzen Teil von »Leben? oder Theater?« steht der Versuch, mit dieser traumatischen Erfahrung umzugehen, im Mittelpunkt sowie das Bemühen, angesichts der sich zuziehenden Schlinge um die europäischen Juden nicht zu verzweifeln und die Panik zu kanalisieren. Zuweilen wird das Werk erstaunlich selbstreflexiv, man spürt den Einfluss, den die Beschäftigung mit der Psychoanalyse auf ihre Arbeiten hatte. Die Angst der Großmutter ist nicht unbegründet, nur wenige Monate später wird Charlotte mit ihrem Großvater in Gurs interniert, sie kommen jedoch aufgrund des hohen Alters des Großvaters wieder frei. Dies ist der Rahmen der Handlung von »Leben? oder Theater?«, das in seinem Detailreichtum jedoch mehr leistet, als die Verfolgungsgeschichte einer Familie zu rekonstruieren. Der Zyklus veranschaulicht ebenso die Hoffnungen assimilierter deutscher Juden, die wie Charlottes Vater im Ersten Weltkrieg für Deutschland gekämpft hatten, auf diese Weise endlich nicht mehr auf das Jüdischsein reduziert zu werden, wie auch den trügerischen Charakter dieser Hoffnung angesichts des tief verwurzelten deutschen Antisemitismus. Er zeigt die ambivalente Position einer Organisation wie dem »Jüdischen Kulturbund«, der von dem 1944 in Theresienstadt umgekommenen Kurt Singer (im Singspiel Doktor Singsang), einem Freund der Familie, gegründet wird, um den nach der Machtergreifung entlassenen jüdischen Kulturschaffenden Hilfe zu bieten, der sich jedoch als wirksames Mittel zur Kontrolle und Isolierung jüdischer Künstler entpuppt, weswegen er auch von den Nazis bis 1941 geduldet wird. Und er zeigt die psychische Belastung durch das Leben im Exil, die permanente Angst um die zurückgebliebenen Angehörigen und die Panik angesichts der vorrückenden deutschen Truppen.
Die Frankfurter Ausstellung konzentriert sich auf die Zeit der Verfolgung und setzt mit dem Jahr 1938 ein; von den fast 800 Bildern ist nur eine kleine Auswahl zu sehen, die sich aber bemüht, den narrativen Charakter der Bilderfolgen zu bewahren, indem sie Schlüsselsequenzen aus »Leben? oder Theater?« zeigt – und auch der Ausstellungskatalog geht leider nicht darüber hinaus. Zur Seite gestellt ist Charlotte Salomon das Werk des jüdisch-rumänischen Künstlers Arnold Daghani, der die Verfolgung überlebte und in einem bildreichen Tagebuchbericht seine Zeit im Zwangsarbeiterlager Michailowka dokumentierte, das wegen seiner Details später sogar Ausgangspunkt für die Aufnahme von Ermittlungen wurde. Eine plausiblere Gesellschaft für das Werk Salomons als auf der Documenta. Beiden Künstlern ist der Wille gemeinsam, das Geschehen zu dokumentieren und für spätere Generationen zu bewahren. Bereits im Titel formuliert Charlotte Salomon Fragen, die auf verschiedene Weise interpretiert werden können: Ist es die Frage nach der Assimilation, dem Zwang zum »Theaterspielen«, das dem freien, ungezwungenen Leben jüdischer Kultur gegenübergestellt wird? Oder weist Salomon darauf hin, dass der Nationalsozialismus beides unmöglich gemacht und in Frage gestellt hat: das Leben und die Kunst? Eindeutige Antworten wird man in »Leben? oder Theater?« vergeblich suchen, finden kann man darin jedoch eine Menge: ein »ganzes Leben«, mindestens.

Erinnerung, Bild, Wort: Arnold Daghani und Charlotte Salomon, Jüdisches Museum Frankfurt. Bis 3. Februar 2013