Der unheimliche Aufstieg der Nazis in Griechenland

Die Stunde der Vampire

Angesichts des Aufstiegs der griechischen Neonazipartei Chrysi Avgi agiert der griechische Staat widersprüchlich: Die Immunität von drei Naziabgeordneten wurde aufgehoben, aber es wurden auch kritische Journalisten suspendiert. Zugleich wächst die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit dem politischen System.

»Deine Papiere! Gib mir deine Papiere!« ruft ein Grieche laut einem schmächtigen asiatischen Einwanderer auf der Straße zu, der einen Einkaufswagen mit Restmüll vor sich herschiebt. Zitternd vor Angst holt der ärmlich gekleidete Mann ein zerknittertes Papierstück aus seiner Tasche und reicht es dem Griechen. In Pangrati, einem gutbürgerlichen, dichtbevölkerten Athener Stadtviertel, haben sich auf einem kleinen Platz mehrere Menschen versammelt und beobachten die Szene.
Die Menschen schauen tatenlos zu, die meisten wirken ängstlich, manche schauen bedrückt weg. »Das Mofa eines Freundes wurde gestohlen. Ich muss kontrollieren, ob er das war und ob Teile des Mofas in seinem Wagen liegen«, antwortet der kräftige Mann auf die Frage einer Frau, ob er Polizist sei. »Die Polizei kommt sowieso nicht, wenn ich sie anrufe. Wir müssen allein dafür sorgen, dass es Ordnung und Sicherheit in unserer Nachbarschaft gibt.«
Er schaut verwirrt, als er merkt, dass nicht alle Anwesenden der Art und Weise, in der er mit dem Einwanderer umgeht, zustimmen, trotz ihres Schweigens. »Wir sind doch eure Freunde!« sagt er schließlich zu dem eingeschüchterten Mann mit dem Einkaufswagen. Er klopft ihm gespielt freundlich auf den Rücken und lässt ihn davonziehen. Die Menschenmenge löst sich langsam auf. Der Grieche bleibt stehen. Er will sich für seine Tat rechtfertigen. Er sei arbeitslos, habe ein kleines Kind und mache sich Sorgen, wie er und seine Familie überleben werden. Dann fügt er hinzu, dass er mehr als fünf Jahre Mitglied der Chrysi Avgi (Goldene Morgenröte) war, aber ausgetreten sei. »Ich war nicht mehr einverstanden mit der Art und Weise, wie sie agieren«, sagt er. Trotzdem habe er bei den letzten Wahlen diese Partei gewählt, »aus Protest gegen die anderen Parteien und in der Hoffnung, dass sie die korrupten Politiker, die Griechenland bis an den Abgrund gebracht haben, zusammenschlagen«.

Diese Hoffnung teilten viele Menschen, die bei den Wahlen im Mai und Juni den Neonazis ihre Stimme gegeben haben. Doch die Chrysi Avgi hat ihre Erwartungen nicht erfüllt. Es gab zwar verbale Attacken auf Regierungsmitglieder und die rassistische und antisemitische Rhetorik (s. Seite 4), aber bisher keine Schlägerei im Parlamentssaal. Nicht einmal bei der Abstimmung vom 7. November, als mit knapper Mehrheit ein neues Sparpaket in Höhe von 13,5 Milliarden Euro gebilligt wurde, während draußen vor dem Parlament bei starkem Regen Hunderttausende dagegen demonstrierten, gab es spektakuläre Reaktionen seitens der 18 Abgeordneten der Chrysi Avgi. Die Abstimmung galt als Voraussetzung für die Auszahlung der nächsten Kredittranche an Griechenland. In den Augen vieler Bürgerinnen und Bürger, aber auch von politischen Kommentatoren und Experten war das der letzte Akt des griechischen Krisendramas, eine Art Trauerfeier für die ruinierte griechische Wirtschaft. Laut aktueller Daten sind 25,4 Prozent der Griechen arbeitslos, das Land befindet sich im fünften Jahr der Rezession. Nächstes Jahr rechnet man damit, dass die Wirtschaft um 4,5 Prozent schrumpfen wird. Die Gesamtverschuldung soll 2013 von 175,6 Prozent auf 189,1 Prozent des Bruttoinlandproduktes steigen. Damit klettert der Schuldenstand Griechenlands auf 346,2 Milliarden Euro.
Viele Griechen sind mit ihrem politischen System und der Demokratie in ihrem Land unzufriedener denn je. Eine aktuelle Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Public Issue zeigt, wie wenig Vertrauen die Griechen in die Parteien und ihre Politiker haben. 81 Prozent sind mit dem Funktionieren der Demokratie in Griechenland nicht zufrieden. Auf die Frage, welches das größte Problem sei, mit dem das Land derzeit zu kämpfen habe, wurde an erster Stelle die Wirtschaft genannt. Es folgen die rapide steigende Arbeitslosigkeit sowie die Parteien und die Politiker. Zudem glauben fast acht von zehn Befragten, dass die Koalitionsregierung ihre Legislaturperiode nicht ausschöpfen wird. Das sind sechs Prozentpunkte mehr als vor einem Monat. Als beliebteste im Parlament vertretene Partei rangiert nach wie vor der Juniorpartner der Regierung von Antonis Samaras, die linksliberale Dimar. Es folgen das Linksbündnis Syriza, die konservative Partei Unabhängiger Griechen, die konservative Nea Dimokratia, die kommunistische Partei KKE und die Chrysi Avgi. Unbeliebteste Partei ist die sozialistische Pasok, die derzeit Auflösungstendenzen zeigt.

Die Stimmung auf Demonstrationen wird immer ungemütlicher. Seit sich die Krise zugespitzt hat, wird immer öfter über Polizeigewalt gegen Demonstranten berichtet. Der griechischen Polizei werden zudem schwere Misshandlungen an einer Gruppe von Antifaschisten vorgeworfen. Am 30. September waren 15 griechische Antifaschisten nach Zusammenstößen mit Mitgliedern der Chrysi Avgi festgenommen worden. Die Festgenommenen haben sich einem Bericht des britischen Guardian zufolge darüber beklagt, während der Haft gefoltert worden zu sein: Polizisten hätten sie geschlagen, nackt gefilmt und ihnen Brandmale zugefügt. Die griechische Polizei wies diese Vorwürfe entschieden zurück, Bürgerschutzminister Nikos Dendias von der konservativen Regierungspartei Nea Dimokratia kündigte sogar an, Strafanzeige gegen den Guardian zu erstatten. Offizielle gerichtsmedizinische Untersuchungen bestätigten jedoch die Misshandlungen der 15 Festgenommenen durch die griechischen Beamten. Vor ein paar Tagen wurden zwei Journalisten des öffentlich-rechtlichen Senders NET wegen ihrer kritischen Berichterstattung über diesen Fall und das Vorgehen des Bürgerschutzminister suspendiert.

Es fällt auf, dass die Neonazis bei Demonstrationen gegen den Sparkurs fast nie einen eigenen Block auf die Straßen bringen. Die Parteiführung bevorzugt es weiterhin, sich in puncto Rassismus und Nationalismus zu profilieren und Aufgaben zu übernehmen, die eigentlich dem Staat vorbehalten sind.
Anfangs haben die Partei-Neonazis Lebensmittel und Kleidung ausschließlich an Griechinnen und Griechen verteilt und dann Blutbanken für »griechisches Blut« organisiert. Diese Initiative sei »ungesund, unwissenschaftlich, illegal und rassistisch«, erklärte eine der größten Ärztegewerkschaften derweil. Ein Vertreter des Gesundheitsministeriums sagte dazu, ein Verfahren, wie es Chrysi Avgi propagiere, sei unmenschlich.
Vor einigen Wochen verlangten Abgeordnete der Nazipartei Listen mit den Namen migrantischer Kinder von den griechischen Kindergärten. Das Bildungsministerium verweigerte diese aber auf gesellschaftlichen Druck. Die Neonazis hatten zudem verlangt, dass in den griechischen Schulen das patriotische Gefühl der Schülerinnen gefördert wird. Das Bildungsministerium wies auch dies zurück. Nach aktuellen Umfragen hat sich das Wählerpotential der Neonazis fast verdoppelt. Bis zu 15 Prozent der befragten Personen würden der Partei ihre Stimme geben, obwohl in den vergangenen Monaten immer wieder vor der nazistischen Ideologie der Partei gewarnt wurde und Fotos und Videos der rassistischen Angriffen, bei denen Mitglieder oder gar Abgeordnete der Partei teilgenommen haben, auch im Ausland für Empörung sorgten.
Ende Oktober hat das griechische Parlament die Immunität dreier Abgeordneter der Chrysi Avgi aufgehoben, die verschiedener Vergehen beschuldigt worden waren. Unter ihnen ist auch der Parteisprecher Ilias Kasidiaris, der der Komplizenschaft bei einem bewaffneten Raubüberfall im Jahr 2007 beschuldigt wird. Am Dienstag vergangener Woche wurden von Facebook alle Profile der Abgeordneten der Chrysi Avgi mit der Begründung gelöscht, ihre Inhalte propagierten Gewalt, Rassismus und Faschismus und verstießen gegen die Politik des Unternehmens. Gleichzeitig wurden auch die Profile von Parteimitgliedern gelöscht, die Hakenkreuze und andere Nazisymbole beinhalteten.
Mittlerweile hat Bürgerschutzminister Nikos Dendias angekündigt, ein Dezernat für rassistische Gewalt bei der griechischen Polizei einzurichten. Bislang ist niemand wegen rassistischer Gewalt verurteilt gezogen worden.
Verschiedene antifaschistische Initiativen versuchen, den Opfern zu helfen und gegen den Aufstieg der Faschisten anzugehen. Demonstrationen werden organisiert und man investiert in die Arbeit an den Schulen, um die nächste Generation über den Faschismus aufzuklären.

Am 24. November ist in Athen die nächste Antifa-Demonstration geplant. Die kommunistische Partei KKE hat vor kurzem ein Video veröffentlicht, das sich an die Jugendlichen wendet und im Internet kursiert. Nach sehr langem Zögern haben auch führende Mitglieder der mächtigen orthodoxen Kirche Griechenlands Stellung genommen. Den Anfang machte Metropolit Pavlos im nordgriechischen Siatista, als er die Chrysi Avgi als »schwarze Nacht« bezeichnete. Wegen seiner Kritik wurde er zum Ziel anonymer Drohanrufe. Doch seinem Beispiel folgten weitere hochrangige orthodoxe Geistliche. Eine Ausnahme war Metropolit Amvrosios aus Kalavrita, einer Stadt, die grausame Naziverbrechen im Zweiten Weltkrieg erlebte. Er empfahl den Neonazis, ihr Profil zu überarbeiten, um sich zu einer »milden Hoffnung« für die verzweifelten Griechen zu wandeln.
Einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Kapa Research zufolge wünschen sich immerhin 67,5 Prozent der Befragten, dass die Partei verboten wird, wenn sie weiterhin gegen das griechische Gesetz verstößt. Die Mehrheit der Befragten stellte sich gegen die extremistischen Thesen der Partei. Die Debatte um ein Verbot von Chrysi Avgi wird immer lauter, und auch die Kritik an der toleranten Politik des Staats gegenüber den Neonazis.
»Da dieses Konstrukt außerhalb des demokratischen Rahmens agieren will und mit seinen ­illegalen Aktionen prahlt, muss die Justiz intervenieren. Aber kann sie es?« fragt sich die Anwältin und Aktivistin Ioanna Kourtovik in der Zeitung Efimerida ton Sintakton und fügt hinzu: »Denn die Vampire, die sich aus den Trümmern des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruchs erheben, ernähren sich nicht nur vom Fleiß ihrer Opfer, sondern auch vom starken Schutz, den ihnen das institutionelle System selbst zur Verfügung stellt.«