Die vermeintlich neue Volksmusikszene und den Film »Sound of Heimat«

Die Unschuld vom Lande

Unbemerkt von Spex und MTV, entwickelt sich in Deutschland eine neue junge Volksmusikszene. Das behauptet jedenfalls Arne Birkenstock, der den Dokumentarfilm »Sound of Heimat« gedreht hat.

Ein schwerer Schlag, von dem sich viele so schnell nicht erholen werden. Am 6. November stellte Walter Widemair, seines Zeichens Komponist, Trompeter und Produzent der Kastelruther Spatzen, seine greisen Schützlinge in der Bild-Zeitung bloß. Nach unzähligen Auszeichnungen und TV-Auftritten in einschlägigen Volksmusikformaten, die den Spatzen einen sicheren Platz in Millionen Herzen gesichert hatten, kam es ans Tageslicht: Alles Fake! Kein Instrument selbst eingespielt. Einzig die Stimme wurde von Norbert Rier, dem Sänger der Spatzen, eingesungen, die restliche Arbeit hatten Studiomusiker verrichtet.
Dass in kommerziellen Musikproduktionen aus Gründen der Effizienz häufig Studiomusiker eingesetzt werden, die in Windeseile alles sauber einprügeln, ist ein offenes Geheimnis. Dass aber im sogenannten volkstümlichen Schlager die gleichen Produktionsbedingungen herrschen sollen? Gerade die treuesten Fans mögen sich betrogen fühlen. So manch ein Herzbube wird seine vermeintliche Echtheit noch unter Beweis stellen müssen.
»Das Verhältnis von volkstümlichem Schlager zu Volksmusik gleicht in etwa dem von Plastik zu Holz«, scherzt Arne Birkenstock, Autor, Regisseur und Filmproduzent aus Köln. Im Gegensatz zum volkstümlichen Schlager à la »Musikantenstadl« sei die Volksmusik dynamisch, lebendig, sie entwickle sich permanent. Wie sie klingt, diese wahre, ehrliche Musik aus dem Volke – der German Folk sozusagen –, davon handelt der Film »Sound of Heimat«, den Birkenstock zusammen mit dem ebenfalls in Köln lebenden Musiker und Journalisten Jan Tengeler gemacht hat.
»Sound of Heimat«, der Ende Oktober in deutschsprachigen Kinos angelaufen ist, ist keine dokumentarische Heldenreise, sondern ein Roadtrip. Um das Verhältnis der Deutschen zur Volksmusik zu ergründen, wird Hayden Chisholm auf Entdeckungstour geschickt. Ein gebürtiger Neuseeländer, noch dazu studierter Jazzer – klar, was hätte näher gelegen? Chisholm macht sich auf den Weg, besucht allerlei Volksmusik­interpreten. »Ich will verstehen, warum die Leute ein Problem mit der Volksmusik haben, vielleicht auch mit sich ein Problem, warum denen das sogar peinlich ist zum Teil. Dieselben Menschen, die mit feuchten Augen am Fuße der Anden sitzen, wenn ein alter Indio zum tausendsten Mal ›El condor pasa‹ in seine Panflöte bläst, kriegen Pickel, wenn man sie auf die Melodien ihrer Heimat anspricht.«
Alles schunkelt, als Chisholm in einer Kölner Kneipe in traditionelle Lieder der Kneipentruppe »Singender Holunder« einstimmt, die Sängerin schwärmt selig: »Man merkt sofort, dass die Leute sich sofort sehr verbunden mit der Stadt Köln fühlen.« Unter einer Rheinbrücke trifft Chisholm BamBam Babylon Bajasch, eine Formation, die Lieder der im Dritten Reich verfolgten »Edelweißpiraten« als HipHop reanimiert. Im Allgäu besucht er einen Jodelkurs, lernt in Bamberg den »Antistadl« kennen (ein Format, das Volksmusik durch allerlei Ironie und Verspieltheit fit macht), lässt sich im Erzgebirge »German Soul« präsentieren und landet irgendwann vor der Küste des norddeutschen Flensburg auf einem Segelschiff.
Keine Ballermann-Beats, keine CSU-Fahnen, nirgends. Stattdessen: unbekümmerte Musiker, die sich aneignen oder fortführen, was vor ihren Haustüren liegt. Die wirklich wahre Volksmusik der Deutschen präsentieren Birkenstock und Tengeler als vielgestaltigen Flickenteppich. Der Sound of Heimat variiert beträchtlich als ein Sound deutscher Regionen. So schlimm sind sie also gar nicht, die Deutschen. Beschwören in ihren Liedern keinen Volkskörper, appellieren nicht an den nationalen Gefühlshaushalt. Und Chisholm, der Fremde und Eindringling, trifft in der deutschen Provinz nicht einmal auf Ablehnung. Alles tutti.
Doch kurz bevor sich alles in Wohlgefallen auflöst, die Stimmung im Kinosaal geradezu überzukochen droht, wird ein Schlaglicht auf das Verhältnis der Volksmusik zum Nationalsozialismus geworfen. Chisholm trifft Władysław Kozdon, einen ehemaligen Häftling des KZ Buchenwald. »›Alle Vögel sind schon da, alle Vögel alle.‹ Das wurde gesungen, wenn ein Häftling geschnappt wurde und nach der Flucht wieder ins Lager kam. Da mussten die anderen Häftlinge singen ›Alle Vögel sind schon da‹. Das war ein Hohn«, erinnert sich Kozdon. Birkenstock gibt zu Bedenken: »›Alle Vögel sind schon da‹, das ist ein altes, völlig unschuldiges, harmloses Lied. Wenn es so zynisch instrumentalisiert und genutzt wird, wie es da geschehen ist, ist dieses Lied zumindest für die Ohren, die diesen Kontext kennen oder sogar miterlebt haben, nicht mehr unschuldig.«
Aber welches Lied aus dem Volksmusikkanon, das nicht verboten wurde, ist unschuldig? Welcher Komponist, welcher Musiker? Fragen, auf die der Film keine Antwort gibt. Deutsche Geschichte ist nicht sein Thema, sein Ziel besteht darin, Euphorie in den Kinosälen auszulösen. »Sound of Heimat« funktioniert wie eine Karaoke-Maschine, die Liedtexte laufen als Untertitel durchs Bild. Infolgedessen werden in den Kinos der Republik dieser Tage lauthals romantische Volkslieder angestimmt. »In Hamburg haben sich Leute zusammengefunden, die sich jetzt immer Sonntags in der Kneipe treffen und dort singen, in Kreuzberg hat sich ein kleiner Hobbychor gebildet, Leute kramen alte Liederbücher aus«, berichtet Birkenstock.
Die Deutschen singen also wieder ihre Lieder. Weder dürfte es eine völlig aus der Luft gegriffene Unterstellung sein, dass die Geschichte ihrer Entstehung und Verbreitung dabei von untergeordnetem Interesse ist. Noch ist die Mutmaßung, dass sich die Lust an Volksmusik nicht unbedingt aus der kritischen Distanz zur deutschen Geschichte ergibt, sonderlich abwegig. Den Regisseuren oder dem Musiker Hayden Chisholm Verklärung vorzuwerfen, weil sie sich für Volksmusik begeistern, wäre allerdings in etwa so dämlich, wie »Nordisch by Nature« von Fettes Brot als Blut-und-Boden-Parole zu verstehen. Dass »Sound of Heimat« jedoch – intendiert oder nicht – dem Verlangen entgegenkommt, endlich wieder ein superrelaxtes Verhältnis zur deutschen Nation zu haben, ist offensichtlich. Mehr noch, im Zweifel kann sich das Nationalgefühl hier an sehr alten Begrifflichkeiten und Bildern aufrichten. Dafür jedoch wäre weniger der Film verantwortlich zu machen, es ist der Geist der Schlagermoves und Fußball-WM, von dem die Nation beseelt ist.
»Heimat ist ein Begriff, den man schwer übersetzen kann, er ist auf eine Art umstritten. Zum Beispiel verbindet die Generation der Achtundsechziger damit sehr viel Negatives. Aber Heimat ist eben der Ort, wo man herkommt, von Geburt, vom Aufwachsen, oder weil man schon so lange da ist und sich beheimatet fühlt. Die Musik, um die es im Film geht, hat sehr viel mit diesen Heimatorten zu tun«, sagt Birkenstock. Klischeehaft anmutende Modelleisenbahnlandschaften und gesellige Dorfgemeinschaften, die voller Frohsinn musizieren – streckenweise wirkt das Malerisch-Idyllische der Aufnahmen absichtlich klischeehaft überhöht. Chisholms Solo-Performance auf einem Waldweg – er bleibt stehen, hält inne und gibt sich ganz dem Zusammenspiel von Tönen und Naturkräften hin – wirkt arrangiert und ironisch gebrochen. Muss es wahrscheinlich auch, um das Angestaubte salonfähig zu machen. Nichtsdestotrotz: Die reale Sehnsucht nach Befriedung, nach dem Dauerhaften der Natur oder dem in der Erde Verwurzelten wird von einigen Protagonisten zur Schau gestellt.
Genauso wie die Neigung, sich mit dem Kleinen, dem heimelig Übersichtlichen zu identifizieren, um die Komplexität der Welt auszusperren. »Uns wurde plötzlich bewusst, dass Ecki Friese ist und ich eigentlich Dithmarscher. Und dass das mit den Nazis eigentlich gar nichts zu tun hat«, erklärt Rainer Prüß seinen Einstieg in die Volksmusik. Tatsächlich bezogen die Nazis den Heimatbegriff vor allem auf den Nationalstaat, um ihn dort mit Volk und Führer zu verschmelzen. Nicht allerorten ließen sich die eher regionalistischen Teile der Heimatbewegung problemlos eingliedern. Dass aber die Volkslieder einen Raum voller Geborgenheit besangen, der sich als fruchtbarer Boden für die NS-Ideologie nutzen ließ, steht außer Frage.
»Du konntest eigentlich unbefangen kein Volkslied mehr singen, weil da haben die Leute gesagt: ›Ja hör mir bloß auf, das haben wir lange genug gehabt, so eine Singerei‹. Insofern haben wir lange gebraucht, bis wir das Zeug wieder angefasst haben. Das war erst in den Siebzigern«, sagt Rainer Prüß. Nach dem stumpfen Heimatbegriff der Adenauer-Ära wurde »Heimat« im Verlauf der siebziger Jahre neu bewertet. Unter anderen Vorzeichen tauchte der Begriff im Kontext der neuen sozialen Bewegungen wieder auf, die sich der Suche nach dem lebenswerten Leben der authentischen Nahwelt verschrieben. Das Gemeinschaftsgefüge, die gute Region, wurde gegen den starken Staat in Stellung gebracht. Gemeinsam war den Heimatvorstellungen ihr Ursprung in der Skepsis gegenüber zivilisatorischem Fortschritt: Der vom modernen Dasein korrumpierte Mensch sollte endlich wieder zu seiner Identität finden.
Und heute? Laubenpieper unter 40, Urban Farmers, fremdenfeindliche Gentrification-Gegner, Lohas und »Gemüse aus der Region«: Das »Echte«, das selbstgestaltete Leben im Kleinen, die eigene Scholle gelten wieder was. 88 Prozent der 15- bis 25jährigen Bayern behaupten, dass sie gern in ihrem Bundesland leben, auch jeder dritte junge Sachse will in Sachsen bleiben, und die Hälfte aller Ruhrpottler fühlt sich stark mit der Heimat verbunden. Die Trachtenvereine werden sich über den Nachwuchs nicht beschweren.
Chisholm begleitet in Bamberg die jungen Musiker Marihuanne (David Saam) und Kiffael (Christoph Lambertz) auf einer ihrer »Antistadl«-Veranstaltungen. »Ganz unbekümmert wird die Volksmusik hier aufgemischt«, schwärmt er. Traditionelle Melodien werden gemixt mit Musikstilen aus dem gesamteuropäischen Raum, wie Chanson, Ska, Klezmer, Hip-Hop oder Balkan Beats. Ihre Darbietung erinnert nicht an steife Traditionspflege, es wird parodiert, sich gerieben an der Volksmusik und ihrem verstaubten Ruf.
Ja, können diese Jugendlichen von heute nicht etwas ganz Normales machen? Zum Beispiel sich über Punk unterhalten? Wahrscheinlich haben sie es gerade am vorigen Wochenende wieder getan. Haben nach einem Auftritt des Bamberger BoXgallop über Assfactor4-Singles diskutiert und sind nach einem fröhlichen Polkastück übereingekommen, dass ihnen die Thesenhaftigkeit in Simon Reynolds »Retromania« auf den Senkel geht. Soll also am Ende doch die mild stimmende Einsicht herrschen, Brauchtumspflege sei nur eine weitere Möglichkeit im kunterbunten Allerlei der Stile, die auf nichts mehr verbindlich verweisen? Als die Band Die Sterne 1996 »Ich scheiß auf deutsche Texte« sang, reagierte sie damit nicht nur auf die Forderung nach einer Radioquote für deutsche Musikproduktionen. Sie wehrte auch die Vereinnahmung ab, ihre Kunst gleichsam schicksalhaft mit Deutschland in Verbindung zu bringen. Ein Spirit, nebenbei bemerkt, der den meisten Volksmusikfans nicht sonderlich bekannt vorkommen dürfte.