Die Gaypride-Parade in Buenos Aires

Ein Grund zum Feiern

Argentinien hat seit vergangenem Jahr eines der weltweit fortschrittlichsten Gesetze zur Geschlechtsidentität. Die argentinische LGBTI-Community kämpft aber um mehr als Gesetze. Sie fordert mehr Sichtbarkeit, Akzeptanz und die Bekämpfung der Homophobie in der Gesellschaft.

Dicke Wolken hängen über der Plaza de Mayo im Zentrum von Buenos Aires. Der Wind wirft einen der gerade aufgestellten Pavillons um und jagt ihn über den Platz. Vor dem großen Umzug über die Avenida de Mayo bis hin zur Plaza de Congreso, der am Abend stattfinden wird, beginnt der Nachmittag mit einer kleinen Messe. In den rund um die spärlichen Grünflächen der Plaza platzierten Pavillons stellen verschiedene soziale und politische Organisationen sich selbst und ihre Arbeit vor. Stände werden aufgebaut, an denen Künstler selbstgemachten Schmuck anbieten und dem Anlass entsprechende Devotionalien erstanden werden können: Sticker, Buttons, Taschen oder Fähnchen. Heute wird zum 21. Mal die Marcha del Orgullo LGBTI gefeiert, der Gaypride in der Hauptstadt Argentiniens, das Regenbogenbanner ist überall.
Ramiro Tahir und Adrián Bracamonte von der Red de Intersexuales, Transgéneros y Transexuales de Argentina (Netzwerk der Intersexuellen, Transgender und Transsexuellen, RITTA) bemühen sich, Teile des weggewehten Pavillons wieder einzusammeln. Für sie gibt es vor allem einen Grund, heute zu feiern: Nach der Unterzeichnung durch Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner trat im Mai mit dem Gesetz zur Geschlechtsidentität (Ley de Identitad de Género) ein bisher weltweit einmaliges Gesetz in Kraft. Seitdem dürfen Personen ihre Geschlechtszuweisung auf dem Ausweis und im Pass frei nach ihrem Empfinden und Willen wählen, ohne vorher ein richterliches oder psychologisches Gutachten einholen zu müssen.

Für Adrián ist das jedoch kein Grund, sich zufriedenzugeben. Er ist 32 Jahre alt und glücklich darüber, dass er sich als Transmann in den vergangenen zwei Jahren freier ausleben konnte. Doch er bedauert, nicht ausreichend Bildung und nach wie vor keine Ahnung vom Internet zu haben. In der Schule sei er immer diskriminiert worden, sagt er und gibt indirekt zu verstehen, dass er sie sehr früh abgebrochen hat. Dass er kein Einzelfall ist, spiegelt ein 2011 veröffentlichter Bericht des Nationalen Instituts gegen Diskriminierung, Xenophobie und Rassismus (Inadi) wieder. Den hier zitierten Zahlen aus dem Jahr 2007 zufolge haben 64 Prozent der Transpersonen in Argentinien die Grundschule nicht beendet, 84 Prozent die weiterführende Schule nicht abgeschlossen und nur drei Prozent haben einen Universitätsabschluss. »Das einzig Gute, das mir passiert ist, war, dass meine Familie mich vom ersten Moment an unterstützt hat«, führt Adrián aus, »andere haben weniger Glück und werden von ihren Eltern abgelehnt, geschlagen und landen mit 16 auf der Straße.«
Ein großes Problem sieht er in der mangelhaften Aufklärung über das Thema Homosexualität, nicht nur, aber insbesondere außerhalb von Buenos Aires. Das Gesetz zur Geschlechtsidentität habe in dieser Hinsicht neue Wege eröffnet, auf denen nun Schritt für Schritt um mehr Akzeptanz und Rechte gekämpft werden könne. Dringlichstes Ziel sei für Transpersonen nun der kosten- und bedingungslose Zugang zu hormonellen und medizinischen Behandlungen sowie zum Arbeitsmarkt. »Dann habe ich wirklich Hoffnung, dass die nächsten Generationen nicht mehr so leiden müssen wie wir.«
Einige Pavillons weiter zeigt La Fulana, eine Organisation lesbischer und bisexueller Frauen, ihre Arbeit. An den Wänden hängen Fotos der Künstlerin Verónica Capriglioni, die nackte weibliche Brüste zeigen. »Damit möchten wir zeigen, dass die weibliche Schönheit keine Stereotypisierung sein sollte. Brüste sind schön, nicht weil sie sich dem silikonisierten Modell anpassen«, erläutert Ana Colet von La Fulana die Intention der Ausstellung. Vor allem möchte die Organisation die Sichtbarkeit lesbischer Frauen und ihrer Situation in der Gesellschaft verbessern. Denn obwohl Gesetze existieren, die deren Rechte schützen und verteidigen, ist Homophobie in der Gesellschaft ein Problem, das weiter besteht. Am 15. Juli 2010 trat ein Gesetz in Kraft, das die Heirat zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern ermöglicht. Damit war Argentinien nicht nur das erste Land Lateinamerikas, das eine solche Regelung erließ, sondern auch bedeutend weiter als etwa Deutschland. Denn das argentinische Gesetz zur gleichgeschlechtlichen Ehe macht keinerlei Unterschiede zwischen Hetero- und Homoehen.
Ana zeigt auf ihre Ehefrau, die sich auch im Pavillon aufhält. Sie sind seit vergangenem Sommer verheiratet und haben eine Tochter. Eigentlich wollten sie nicht unbedingt heiraten, doch die Ehe hat vieles vereinfacht. »In den größeren Städten ist es mittlerweile einfacher, offen lesbisch oder schwul zu leben«, sagt Ana, »aber auf dem Land bleibt die Situation problematisch.« Und so erinnert eine der Kampagnen der Gruppe an Natalia »Pepa« Gaitán, die vor zwei Jahren vom Stiefvater ihrer Freundin ermordet wurde. Deshalb ist es den Aktivistinnen auch wichtig, weiterhin auf die Straße zu gehen, sich zu zeigen. »Wir sind die Krankenschwester in der Nachtschicht, die Lehrerin deiner Kinder, der Professor, der Arzt. Wir sind Bürgerinnen und Bürger wie alle anderen auch.«

Viel erreicht hat die argentinische LGBTI-Bewe­gung vor allem während der Zeit des kirchnerismo, also der aufeinander folgenden Regierungen von Néstor und Cristina de Kirchner. Dabei haben es die Kirchners stets verstanden, die Auseinandersetzungen um LGBTI-Rechte populistisch für sich zu nutzen. Obwohl sie einige Erfolge sieht, bezeichnet sich Ana Colet nicht als kirchnerista und gibt zu bedenken, dass »viele dieser Gesetze erst auf Initiative von Senatoren und Abgeordneten, sozialistischer oder linker Parteien entstanden sind«.
Für Marcelo Márquez von der Organisation »Nexo – Asociación Civil« sind diese Unterscheidungen nicht so wichtig. Der Mittdreißiger ist bekennender kirchnerista und unterstützt die amtierende Regierung, denn: »Sie gibt den Argentiniern die Würde, die sie unter dem Neoliberalismus verloren hatten, zurück.« Nexo ist im Jahr 2002 gegründet worden, mit dem Ziel, schwule Männer, die an Aids erkrankt sind, zu unterstützen. Die Gruppe entwickelte sich dann zu einer Self-Empowerment-Organisation der gesamten Community. Als solche ist sie Teil der Federación Argentina de Lesbianas, Gays, Bisexuales y Trans (FALGBT), die der Hauptorganisator der heutigen Demonstration ist. Das wichtigste Thema der Veranstaltung in diesem Jahr, erklärt Marcelo, sei die Forderung nach der Anwendung des Bildungsgesetzes in öffentlichen Schulen (Ley integral de la educación en las escuelas públicas), das bereits vom Kongress gebilligt wurde. Das Gesetz räumt allen argentinischen Schülerinnen und Schülern das Recht ein, in sämtlichen öffentlichen Bildungseinrichtungen, ob staatlich oder privat, auch in sexuellen Belangen aufgeklärt zu werden. Explizit vorgesehen ist dabei die Berücksichtigung der »sexuellen Diversität«.
»Die Anwendung dieses Gesetzes hätte zur Folge, dass in Schulen der heteronormative Blick auf Sexualität abgelegt und auch über andere Sexualitäten gesprochen würde. Allerdings weigern sich nach wie vor einige Bundesstaaten, das Gesetz anzuwenden«, sagt Marcelo. Neben dem politischen Willen mangelt es in vielen Fällen auch an der Ausbildung der Lehrkräfte. Ebenso wichtig seien die Forderungen nach Bildung und Arbeit für die compañeras trans und der Kampf gegen ihre Diskriminierung durch Polizei und Gesellschaft. Dem Bericht des Inadi zufolge sind oder waren 91 Prozent der Transfrauen in Argentinien Opfer von Gewalt. Zu ihrer Marginalisierung trägt erheblich bei, dass 95 Prozent von ihnen in der Prostitution beschäftigt sind und 77 Prozent angeben, keine andere Verdienstmöglichkeit zu haben. Die Lebenserwartung von Transpersonen beträgt lediglich 35 Jahre. Neben den Bemühungen um höhere Akzeptanz und die Inklusion von Transpersonen in die Gesellschaft ist die Legalisierung der Abtreibung ein weiteres Ziel des Pride. Für Marcelo hängen alle Themen eng zusammen: »Wir sind davon überzeugt, dass der Kampf ein und derselbe ist. Von der heteronormativen Mentalität werden wir als ›abweichend‹ bezeichnet. Das gleiche Problem haben auch Frauen, insbesondere arme Frauen, die sich für eine Abtreibung entscheiden. Denn sie können nicht in Privatkliniken einen sicheren Schwangerschaftsabbruch durchführen lassen.« Daher kritisiert er an der LGBTI-Bewegung: »Wir Schwule haben uns immer mehr in den Vordergrund gedrängt.«
Eigentlich hat die aus den Protesten von Stonewall entstandene Homosexuellenbewegung dem Feminismus viel zu verdanken. In Argentinien wurden die in den sechziger Jahren in Greenwich Village formulierten Forderungen zunächst von der gemischtgeschlechtlichen Gruppe Nuestro Mundo aufgegriffen. Aus dieser ging 1971 die Frente de Liberación Homosexual hervor, die fast ausschließlich aus homosexuellen Männern bestand. Die kommunistische Gruppe um Manuel Puig, Néstor Perlongher und Juan José Sebreli suchte lange den Anschluss an die radikale Linke, wurde von dieser jedoch als Verein von Strichern und Drogensüchtigen abgelehnt. Trotz seiner Kritik an der männlichen Dominanz sieht sich Marcelo weiterhin in dieser Tradition: »Wir versuchen, einen linken Diskurs zu etablieren und diesen mit der Unterstützung des Sozialismus zu verbinden.« Die seit 1992 jährlich stattfindende Marcha del Orgullo erinnert daher auch jedes Jahr an die Gruppe Nuestro Mundo. Vor 20 Jahren versammelten sich lediglich 250 Menschen unter dem Motto »Freiheit, Gleichheit, Diversität«. Damals trugen noch alle Masken, da sie fürchteten, erkannt zu werden und ihre Jobs zu verlieren.

Heutzutage ist das nicht mehr nötig. Langsam füllt sich die Plaza de Mayo, die Wagen für die Parade werden geschmückt, laute Musik erklingt aus Boxen und auf einer Bühne treten lokale Bands auf. Neben Familien, jungen lesbischen und schwulen Pärchen und anderen Zuschauern und Zuschauerinnen gesellen sich nun auch immer mehr Menschen in auffälliger Verkleidung dazu.
In dem bunten Gewusel auf der Plaza, eingerahmt durch die lila blühenden Jacaranda-Bäume, wirkt die kleine Gruppe von knapp zehn Menschen vor der weitläufig abgesperrten Kathedrale am Rande des Platzes recht verloren. Sie haben sich betend vor ihrer heiligen Stätte platziert, um zu verhindern, dass die Demonstranten »den Tempel Gottes entweihen«. Carlos ist Mitte siebzig, trägt eine in den Nationalfarben Blau und Weiß gestreifte Armbinde mit der Aufschrift »Liga zur Verteidigung und Bewahrung der Hoffnung« am rechten Arm und ist offensichtlich der Wortführer der Gruppe: »Abtreibungsbefürworterinnen und andere Gruppen, die sich heute hier treffen, werden mit Farbbomben schmeißen und versuchen, die Kathedrale zu betreten. Das wäre eine Entweihung«, sagt er und zeigt auf die Menschenmenge auf der Plaza de Mayo: »Die da sollen sich um ihren eigenen Kram kümmern. Die Gesetze Gottes sind geschrieben und allen zugänglich. Wer möchte, kann sie befolgen, wer nicht, bekommt dafür die Rechnung.«
Auf dem Platz nimmt man anscheinend weder von der Kathedrale noch von dem kleinen Grüppchen davor Notiz.
»Unser Anliegen war nie gegen irgendjemanden gerichtet, nicht gegen den Glauben und auch nicht gegen die Kirche«, sagt Esteban Paulón, Präsident der FALGBT, »ganz im Gegenteil. Viele unserer compañeros gehören religiösen Institutionen an.« Außer religiöse Gruppen umfasst der ganze Protest über 60 Organisationen. Es gibt Basisorganisationen, die mit verschiedenen Schwerpunkten arbeiten: LGBTI, religiöse Diversität, Aids/HIV-Hilfe, aber auch kulturelle und politische Gruppen. Dies scheint der Schlüssel für die Erfolge der Bewegung zu sein. Alle Organisationen existieren nebeneinander und arbeiten gemeinsam. Gerade vor Wahlen und Abstimmungen würden sie versuchen, so Esteban, ihre Anliegen auf die Tagesordnung möglichst vieler Parteien zu setzen. Ebenso versuchten sie, mit allen Regierungen zusammenzuarbeiten, also auch mit dem konservativen Bürgermeister von Buenos Aires, Mauricio Macri. »Nur weil wir parteiübergreifend arbeiten, konnten wir diese Erfolge feiern«, sagt Esteban.

Dass viele diese Erfolge feiern möchten, ist an diesem Tag überall zu spüren. Glückliche Gesichter und sich küssende Paare sind zu sehen. Auf dem Platz herrscht eine ausgelassene Stimmung. Als zum Abend hin auf den zum Bersten gefüllten Wägen mittlerweile wild zu Cumbia und Techno getanzt wird, geht es endlich los. Tausende Menschen laufen vor, hinter und neben den Wägen her und es scheint, als lägen sich auf der Avenida zwischen der Plaza de Mayo und der Plaza de Congreso hunderttausend Menschen in den Armen. Getragen wird der Zug von erstaunlich vielen politischen Gruppen, die sich in ihrer Mehrzahl offensichtlich als irgendwie links verstehen. Zum kämpferischen Charakter der Parade trägt dies sicherlich bei, bisweilen allerdings in recht seltsamen Formen. Unterhalb eines Banners mit dem Schriftzug »Wir alle sind gleich, in einer anderen Art und Weise« schwenken Diana und Francisco Fahnen der Sowjetunion und mit dem Konterfei Che Guevaras. Auf die Homophobie der kubanischen Revolution und der Sowjetunion angesprochen, antwortet Francisco: »Auf die Vergangenheit kommt es gerade nicht so an. Das sind doch Feinheiten.« Auch der Block der Jugendorganisation des kirchnerismo, La Campora, scheint es mit den »Feinheiten« nicht so genau zu nehmen. In Anspielung auf die Proteste gegen die Regierung Cristina Kirchners, an denen Anfang September und am 8. November mehrere zehntausend Menschen teilnahmen, trägt einer in der vorderen Reihe ein Plakat mit der Aufschrift: »Kloake der Kochtopfschläger. Kolonisierte Komplizen der Finanzmafia aus den USA, England und Israel.« Darüber, wie die kochtopfschlagenden Regierungsgegner mit den drei genannten Ländern in Verbindung stehen sollen, will er keine Aussage machen. Anscheinend reicht ihm das antisemitische Geraune.
Außer der politischen Arbeit, die heute im Vordergrund steht, haben bekannte Bands ihre Unterstützung zugesagt und spielen gratis auf dem Abschlusskonzert vor dem Kongressgebäude. So ist es für die Kumbia Queers selbstverständlich, heute dabei zu sein. »Gerade dieses Jahr hatten wir große Lust, mit einigen unserer Freunde das Gesetz zur Ge­schlechtsidentität zu feiern. Also haben wir direkt Ja gesagt, als sie uns eingeladen haben«, sagt Pila. Die sechs Frauen der Band bezeichnen sich als Kämpferinnen und identifizieren sich mit allen Personen, die hier für ihre Rechte demons­trieren. Die Geschlechterfrage spielt dabei kaum eine Rolle mehr. »Für mich existieren keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern«, sagt Juana. Die Sympathie für minoritäre Gruppen und die politische Einstellung jeder Einzelnen lasse die Band »unfreiwillig politisch« werden. Eine wirkliche Verbindung zur LGBTI-Bewegung habe sie allerdings nicht: »Wir feiern einfach gerne, vor allem die Diversität.«
Auch der in Argentinien deutlich bekanntere homosexuelle Musiker Leo García würde sich selbst nicht als »politisch« bezeichnen. Als ihm 2001 mit dem Titel »Morrissey« der kommerzielle Durchbruch gelang, war das Land noch nicht so liberal wie heute in Hinblick auf die Rechte von LGBTI. Und so ist er froh, dass er es geschafft hat, sich als Künstler einen Namen zumachen. Während die Kumbia Queers auf der Bühne vor dem Kongressgebäude stehen und die Parade schon lange zur Party geworden ist, sagt er: »Mehr als an die Schwulenbewegung glaube ich an die Diversität.« Dabei gehe es viel weniger um Sexualität, sondern um den Wert der Differenz. »Wir müssen lernen, dies zu verstehen.«