Die Militärintervention gegen Jihadisten in Mali wurde verschoben

Nur keine Eile

Das UN-Mandat für eine Intervention in Nordmali liegt vor, die Vorbereitungen wurden getroffen. Doch der Einsatz soll frühestens im September 2013 beginnen.

Über den korrekten Gebrauch von Mobiltelefonen schweigt der Koran. »Die da andere anrufen als Gott, sie folgen nur einem Wahn«, warnt der 66. Vers der zehnten Sure, doch sind sich die Religionsgelehrten darüber einig, dass nicht die Handybenutzung gemeint ist, sondern die Anbetung anderer Götter. Dennoch haben die Jihadisten in den von ihnen beherrschten Gebieten Nordmalis Klingeltöne verboten.
Die Sharia um Vorschriften zu ergänzen, auf die auch die strengsten Theologen bislang nicht gekommen sind, gehört zu den Kennzeichen neofundamentalistischer Gruppen. Als neofundamentalistisch bezeichnet der Islamwissenschaftler Olivier Roy Bewegungen, die wenig Interesse an Entwicklungspolitik und Staatsaufbau zeigen, aber mit allen Mitteln die Gesellschaft nach ihren Vorstellungen »islamisieren« wollen. Roy betrachtet den Aufstieg solcher Bewegungen als Schwäche-, ja Verfallserscheinung des Islamismus, der als Staatsideologie gescheitert sei.
Diese Theorie ist umstritten, zumal islamistische Bewegungen nach den arabischen Revolten in Tunesien und Ägypten Wahlerfolge erzielten, allerdings, wie nicht nur Roy betont, auf der Grundlage eines konservativen, eher nationalreligiösen als islamistischen Programms. Sicher ist jedoch im Fall Nordmalis, dass die Jihadisten ihren Sieg nicht ihrer politischen Stärke verdanken. Einen islamistischen Mainstream hat es in der Region nie gegeben. Die Jihadisten in Nordmali, Ansar Dine, al-Qaida im Islamischen Maghreb (Aqmi) und die Bewegung für Monotheismus und Jihad in Westafrika (Mujao), profitierten von der Schwäche der staatlichen Institutionen und und der Destabilisierung in Folge des Sturzes Muammar al-Gaddafis.

Viele ehemalige Söldner des libyschen Dikators hatten sich der Tuareg-Organisation MNLA (Nationalbewegung für die Befreiung des Azawad) angeschlossen, die im April einen unabhängigen Staat ausrief, aber im Sommer aus allen Stellungen in den großen Städten vertrieben wurde. Die Verbindungen und Differenzen zwischen den drei jihadistischen Gruppen sind schwer überschaubar. Derzeit scheinen sie sich die Region geteilt zu haben, Aqmi kontrolliert Timbuktu, Ansar Dine Kidal und die Mujao Gao. Gewalttaten werden aus allen drei Städten gemeldet, und etwa 500 000 Menschen sind aus der Region geflohen, in der nach der Schließung der Bankfilialen und zahlreicher Geschäfte die Wirtschaft zusammengebrochen ist.
»Keine Sekunde« dürfe angesichts der desaströsen Lage und der Gefahr, dass ein Operationsgebiet für den globalen Terrorismus entstehen könnte, beim Vorgehen gegen die Jihadisten verloren werden, sagte der malische Übergangsprä­sident Dioncounda Traoré Mitte Oktober. Der UN-Sicherheitsrat hatte das Mandat für einen Militär­einsatz bereits erteilt, dass die Führung von der Wirtschaftsgemeinschaft westafrikanischer Staaten (Ecowas) übernommen und neben der malischen Armee vor allem Militär aus Ländern der Region eingesetzt werden soll, stand fest. Eine Truppenstärke von etwa 3 000 Soldaten war beschlossen worden, und der im Oktober vom UN-Sicherheitsrat bestellte Interventionsplan liegt mittlerweile vor.

Nur von Eile ist keine Rede mehr. »Alle Experten sind sich einig, dass eine Militärintervention nicht vor September 2013 stattfinden kann«, sagte Romano Prodi, seit Oktober UN-Sondergesandter für den Sahel, am Dienstag vergangener Woche bei einem Besuch in Marokko. Die britische Tageszeitung Guardian, der nach eigenen Angaben die Interventionspläne vorliegen, bestätigt diesen Termin. Begründet wird die lange Vorbereitungszeit – die »Experten« hatten zuvor einen Einsatz im Februar prognostiziert – mit der Notwendigkeit, malische Soldaten und Offiziere auszubilden, doch will Prodi auch Zeit für die »Suche nach einer politischen Lösung« gewinnen.
Das klingt immer gut, doch bleibt unklar, worin diese Lösung bestehen soll. Zweifellos hat Prodi recht, wenn er mahnt, dass »ohne Entwicklung eine Lösung der Krise in Mali nicht möglich« sei. Doch dürfte die »internationale Gemeinschaft« kaum in einem knappen Jahr nachholen, was jahrzehntelang versäumt wurde.
Der wahre Grund für die Verzögerung scheint die Uneinigkeit darüber zu sein, ob die Intervention überhaupt stattfinden soll. Offen gegen einen Militäreinsatz wenden sich vor allem Marokko und Algerien. Seine Regierung sei »nicht enthusiastisch« bezüglich einer Intervention, sagte der marokkanische Außenminister Saad Eddine al-Othmani. Der algerische Innenminister Daho Ould Kablia warnte: »Die territoriale Einheit Malis gewaltsam wiederherzustellen, ist ein Abenteuer, das nicht gelingen kann.«
Meist wird Nordmali als eine potentielle Gefahr für den Rest der Welt betrachtet, weil Jihadisten von dort ausschwärmen können. Man kann sich aber auch darüber freuen, dass Jihadisten aus aller Welt nun nach Nordmali strömen, da sie dann für ihre Herkunftsländer keine Gefahr mehr darstellen. Das scheint die Haltung der Regierungen Algeriens und Marokkos zu sein. Doch spielt die innerafrikanische Machtpolitik wahrscheinlich eine wichtigere Rolle.
Im subsaharischen Afrika kann neben Südafrika nur Nigeria als Regionalmacht gelten. Als mit Abstand bevölkerungs- und ölreichstes Land sowie Finanzzentrum der Region verfügt Nigeria über die stärkste Armee Westafrikas und ist unangefochtene Führungsmacht der Ecowas. Dass bei den jüngsten Einsätzen gegen die Jihadisten von Boko Haram im Norden Nigerias zahlreiche Zivilisten getötet wurden, dürfte die Regierungen Algeriens und Marokkos weniger stören als die Aussicht auf eine Erweiterung des nigerianischen Einflusses.
Für den Erfolg einer Intervention wird jedoch entscheidend sein, wie die Soldaten sich verhalten. Die von westlichen Politikern gern vorgebrachte Behauptung, regionale Truppen kämen besser mit den Verhältnissen in Nordmali zurecht, ist bestenfalls naiv. Die meisten Streitigkeiten und Interessenkonflikte gibt es auch in Afrika unter Nachbarn, so betrachten viele Malier das Nachbarland Burkina Faso, mit dem 1985 ein kurzer Grenzkrieg ausgefochten wurde, und dessen Präsidenten Blaise Compaoré, den Chefunterhändler der Ecowas, mit Misstrauen.

Die Andeutungen über die angestrebte politische Lösung stimmen nicht nur nationalistische Malier misstrauisch. Es ist sinnvoll, den Seperatismusbestrebungen unter den Tuareg mit dem Angebot von Autonomie zu begegnen. Möglicherweise können die Kämpfer der MNLA sogar als Miliz gegen die Jihadisten eingesetzt werden. Die Organisation wird jedoch von ehemaligen Söldnern Gaddafis geführt, und man muss befürchten, dass wiederum einflussreichen Warlords die Macht zuerkannt wird.
Einmal mehr sollen auch die »gemäßigten« Jihadisten integriert werden, zu denen man nun die Kämpfer von Ansar Dine zählt. Die Organisation distanzierte sich Anfang November von »allen Formen des Extremismus und Terrorismus« und erklärte, die Anwendung der Sharia auf die Region Kidal beschränken zu wollen. Gespräche werden bereits geführt. Die politische Lösung könnte in einer legislativen Teilung Malis bei Wahrung der formalen territorialen Integrität gesucht werden, also in der Akzeptanz der – dann vermutlich von den skurrilsten Auslegungen bereinigten – Sharia im Norden.
Die Hofierung »gemäßigter« Islamisten, die in Afghanistan und Somalia die Folge einer verfehlten Interventionspolitik ist, scheint in Nordmali dem Militäreinsatz vorauszugehen. Das Ergebnis ist zunächst, dass den Jihadisten mindestens ein Dreivierteljahr, wahrscheinlich sogar weit mehr Zeit bleibt, um ihre Herrschaft zu festigen.