Die Korrekturen
Gäbe es die FDP nicht, man müsste sie gründen. Schon allein, um all jenen einen Gegenbeweis zu liefern, die behaupten, wir lebten im »postideologischen Zeitalter«. Ein Paradebeispiel liefert derzeit die öffentliche Diskussion über den Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung.
Der Süddeutschen Zeitung war aufgefallen, dass dieser in seiner aktuellen Fassung in etlichen Punkten von dem Entwurf abweicht, den Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) Mitte Sep-tember den übrigen Ministerien zur Abstimmung vorgelegt hatte. Der Satz »Die Privatvermögen in Deutschland sind sehr ungleich verteilt« steht nun nicht mehr in der Einleitung, auch Passagen über wachsende Ungleichheit und sinkenden Gerechtigkeitsglauben wurden gestrichen oder poliert. Hinter den Aufhübschungen wird insbesondere Philipp Rösler, Vorsitzender der FDP und Wirtschaftsminister, vermutet, der zum ersten Entwurf sagte, er entspreche »nicht der Meinung der Bundesregierung«.
Entspräche die »freie Marktwirtschaft« einer artgerechten Haltung von Menschen, hätten ihre Verfechter eine solche Schönfärberei nicht nötig. Schließlich spiegelt der Bericht genau das wider, was mit der »Deregulierung des Arbeitsmarkts« und anderen Segnungen der Agenda 2010 beabsichtigt war: Der Niedriglohnsektor blüht, die fortschreitende Entsolidarisierung der Gesellschaft sorgt dafür, dass Widerstand gegen die herrschenden Zustände nicht zu befürchten ist.
Da wir es aber nun einmal mit Ideologie zu tun haben, verhält sich die FDP wie ein Homöopathiegläubiger, der mit tausendundeiner Anekdote über wundersame Heilungen aufwarten kann, aber stur jede Studie ignoriert, die belegt, dass Zuckerkügelchen keinerlei Wirkung haben. Und so rechtfertigte Rösler die kleinen Überarbeitungen – derlei sei in der Abstimmung der verschiedenen Ressorts ganz normal. Und wenn der Eindruck erweckt werde, es gehe den Menschen schlecht, dann sei dies »der falsche Eindruck«. Den Leuten, die Mülleimer nach Pfandflaschen durchsuchen, geht es also prima, und bestimmt wählen sie nächstes Jahr die FDP.
Die Dogmatiker des Neoliberalismus wären aber nicht die, die sie sind, wenn einige ihrer kleinen Korrekturen nicht unfreiwillig aufrichtig wären. Der Passus über ein verletztes Gerechtigkeitsgefühl der Bürger wurde durch den Hinweis ersetzt, die sinkenden Reallöhne seien »Ausdruck struktureller Verbesserungen am Arbeitsmarkt«, schließlich seien viele neue Jobs im unteren Lohnbereich entstanden. Und genau das war schließlich das Ziel der Auftraggeber der Agenda 2010.
Das könnte auch der Grund sein, warum die Empörung der Opposition über den Vorgang eher gedämpft ausfiel. Zwar meldeten sich die üblichen Verdächtigen von SPD, Grünen und Linkspartei pflichtschuldig zu Wort; aber wenn sich beispielsweise die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth echauffiert, die Regierungskoalition wolle die Wähler »für dumm verkaufen«, fällt einem sehr schnell eine Partei ein, die die Rhetorik der Heuchelei zu ihrer Paradedisziplin entwickelt hat. Andrea Nahles (SPD) beschränkte sich darauf, der Regierung »Vertuschung« vorzuwerfen, hütete sich aber, die Ursachen der in dem Bericht geschilderten Zustände zu erwähnen. Sonst könnte sich ja jemand erinnern, wer den sozialen Kahlschlag auf den Weg gebracht hat. Oder, schlimmer noch, auf den Gedanken kommen, dass dahinter ein Programm stecken könnte, bei dem sich die ganz große rotgrünschwarzgelbe Koalition im Grunde einig ist.