Sami Tahri im Gespräch über die Islamisten in Tunesien

»Al-Nahda befindet sich im Sinkflug«

In den vergangenen Wochen gab es vor allem im Landesinneren Tunesiens soziale Proteste und Streiks, die in mehreren Fällen von Anhängern der Regierungspartei al-Nahda und der Polizei angegriffen wurden (Jungle World 50/2012). Am 23. Juni, ein Jahr und neun Monate nach der Wahl zur Verfassungsgebenden Versammlung, sollen die nächsten allgemeinen Wahlen stattfinden. Die Jungle World sprach mit Sami Tahri über das repressive Vorgehen der Islamisten und den Widerstand dagegen. Tahri ist der stellvertretende Vorsitzende des tunesischen Gewerkschaftsdachverbands UGTT. Gemessen an der Bevölkerungszahl des Landes ist die UGTT mit rund 750 000 Mitgliedern einer der größten Gewerkschaftsverbände in Afrika und im Mittelmeerraum.

Am 17. Dezember 2010 begann im tunesischen Sidi Bouzid der »arabische Frühling«. Ende 2012 kam es in Tunesien erneut zu sozialen Protesten. Wiederholt sich die Geschichte?

Die Gründe sind beide Male dieselben: die soziale und wirtschaftliche Unzufriedenheit. Arbeitslosigkeit und Unterentwicklung in den küstenfernen Regionen bestehen nach wie vor. Aber heute handelt es sich weniger um einen revolutionären Prozess, es soll vielmehr Druck auf die Regierung ausgeübt werden, die sich aus der Verantwortung zu stehlen versucht. Die Regierung will Zeit gewinnen, um die kommenden Wahlen hinter sich zu bringen. Sie hat ihre Glaubwürdigkeit verloren und versucht, vor den Wahlen wenigstens ein paar Pluspunkte für ihr Lager zu sammeln. Zum Beispiel will sie den Staatsapparat übernehmen und die Regierungskoalition aus den drei Parteien reorganisieren, deren Differenzen immer offener zu Tage treten. Al-Nahda als stärkste Regierungspartei verbirgt immer weniger ihre Ziele: den Tunesiern einen veränderten Lebensstil wie in den Golfstaaten zu verpassen.

Was braucht al-Nahda, um die für Juni geplanten Wahlen zu gewinnen?

Ein Wunder! Sie haben die Probleme nicht gelöst, sei es die Arbeitslosigkeit, die Entwicklung der strukturschwachen Landesteile oder das Sicherheitsproblem. Bei letzterem geht es um den Schmuggel an den Grenzen, die steigende Kriminalität. Auch die Korruption ist nicht zurückgegangen und auf lokaler Ebene sind nun Mitglieder von al-Nahda darin verwickelt, um sich ökonomische Vorteile zu sichern. Es gibt überall Unruhen. Al-Nahda befindet sich im Sinkflug.
Ohne Gewalt, Manipulationen des Gremiums zur Wahlaufsicht und Stimmenkauf wird al-Nahda nicht an die Regierung zurückkehren. Als Oppositionspartei wird sie eventuell stärker sein als die jetzige Opposition, aber sie wird keine Mehrheit haben.

War es nicht kontraproduktiv für die Islamisten, dass al-Nahdha-Anhänger am 4. Dezember 2012 den Sitz der UGTT belagerten und angriffen? Das geschah am Tag des Gedenkens an den Gründer der UGTT, Farhat Hached, den französische Agenten 1952 ermordeten.

Ein historisches Symbol anzugreifen wie das Gedenken an Farhat Hached, das in Tunesien parteienübergreifend respektiert wird, wird nicht so leicht vergessen werden. Infolge dieser Attacke kam es zu regionalen Generalstreiks in fünf ­tunesischen Provinzen und für den 13. Dezember wurde im gesamten Land ein Generalstreik angekündigt.

Am Vorabend des 13. Dezember sagte die UGTT diesen Generalstreik ab und kündigte an, im Januar über neue Aktionen beraten. Warum wurde der Streik verschoben?

Es hat direkte Verhandlungen mit der Regierungskoalition gegeben, nachdem wir das »Angebot« abgelehnt hatten, mit Rachid al-Ghannouchi, dem Vorsitzenden von al-Nahda, zu verhandeln. In einer Vereinbarung verurteilten schließlich beide Seiten den Angriff auf die Zentrale der UGTT. Darin ist ferner vorgesehen, innerhalb eines Monats einen gemeinsamen Untersuchungsausschuss einzurichten. Auf der Grundlage von dessen Arbeit soll der Chef der amtierenden Übergangsregierung dann Maßnahmen zur Auflösung der »Ligen für den Schutz der Revolution« einleiten. Der Vorstand der UGTT hat diese Vereinbarung akzeptiert, ruft jedoch gleichzeitig zu Wachsamkeit auf, bis zur Bekanntgabe der Ergebnisse der Kommission, die uns zwingen können, weitere Beschlüsse zu fassen. Die UGTT hat den Kampf für die Freiheit und gegen die politische Gewalt gewählt.

Was hat es mit den »Ligen« auf sich, über die Sie sprachen? Diese Gruppen werden beschuldigt, den Angriff auf die UGTT-Zentrale initiiert zu haben.

Wir fordern die Auflösung dieser »Ligen zum Schutz der Revolution«. Man kann sie auch als Milizen bezeichnen. Die ursprünglichen Ligen zum Schutz der Revolution waren Gruppen, an denen Gewerkschafter und demokratische Aktivisten beteiligt waren. Sie sind drei bis vier Monate nach dem Sturz von Präsident Ben Ali Anfang 2011 verschwunden. Damals, als die Polizei des alten Regimes für einige Wochen aus dem öffentlichen Leben verschwand, gab es nur die Armee und selbstorganisierte Stadtteilgruppen, um Plünderungen und Übergriffe zu verhindern. Als dann die Polizei nach einigen Wochen wieder auftauchte, verließen die meisten Leute diese Gruppen und widmeten sich anderen Aktivitäten.

Ich erinnere mich an einen Artikel, der von einem Zusammenschluss mehrerer solcher Stadtteilkomitees im August 2011 im Großraum Tunis sprach.

Das hängt dann nicht mehr mit den ursprünglichen Stadtteilkomitees zusammen, sondern mit al-Nahda. Diese Partei hat seit dem Sommer 2011, vor den Wahlen im Oktober, die leere Hülle übernommen und gefüllt. Dies geschah allmählich und unspektakulär; man dachte damals nicht daran, dass diese Ligen irgendwann als Schläger für al-Nahda wirken könnten. Später begannen dann Attacken auf Parteibüros und auf Demonstrationen für die Rechte von Frauen.

Auch auf Gebäude der UGTT?

Dahinter steckten wiederum die Salafisten, oftmals gemeinsam mit alten Polizeispitzeln. Es sind im Wesentlichen Spitzel und Schläger, die früher vom alten Regime benutzt worden sind: Leute aus armen Vierteln, die gegen Bezahlung zu allem bereit sind.

Wenn die Milizen ursprünglich eher demokratische Formen der Selbstorganisation und Selbstschutzes ersetzten, täuscht dies die Bevölkerung nicht über die wahre Natur dieser Gruppen hinweg?

Man kann nicht sagen, dass dieser Unterschied der gesamten Gesellschaft klar geworden ist. In Wirklichkeit war al-Nahda in den Tagen der Revolution selbst gar nicht in Tunesien präsent. Die Partei reorganisierte sich erst nach der Rückkehr von Rachid Ghannouchi aus dem Exil, zweieinhalb Wochen nach dem Sturz von Ben Ali.

Bei Massenprotesten von Ende November bis Anfang Dezember vorigen Jahres in der Kreisstadt Siliana wurde sehr repressiv gegen die Demonstrierenden vorgegangen.

Es hat ungefähr 300 Verletzte gegeben, davon erlitten 24 Personen Augenverletzungen durch die von der Polizei eingesetzte Schrotmunition. Sechs von ihnen könnten ein Auge dauerhaft verlieren. Es war das erste Mal in Tunesien, dass Schrotmunition gegen Demonstranten eingesetzt wurde. Unter dem alten Regime von Ben Ali hätte man gleich mit scharfer Munition gefeuert, um zu töten. Heute geht es darum, Angst zu verbreiten und Menschen zum Teil erheblich zu verletzen, aber ohne Tote zu hinterlassen.

In manchen Berichten aus Siliana wurden auch Schüsse mit scharfer Munition erwähnt.

Das waren Schüsse, die in die Luft abgefeuert wurden, nicht direkt auf die Demonstrierenden. Die Verletzungen gehen auf Schrotmunition zurück, aber auch auf Tränengasgranaten. Mein eigener Bruder erlitt eine Platzwunde am Arm, die achtfach genäht werden musste, weil eine Tränengasgranate auf ihn fiel.
Wir stellten uns die Frage, woher die Schrotmunition kam. Sie wurde von Katar an Tunesien geliefert. Es handelt sich um Munitionsbestände, die in den USA fabriziert, von dem Golfstaat gekauft und dann an die tunesische Regierung verschenkt wurden. Eine Woche vor den Ereignissen in Siliana traf eine Lieferung aus Katar ein. Ein Geschenk von 70 gepanzerten Polizeifahrzeugen. Wir wissen, dass auch Munition dabei war, auch wenn die Regierung es offiziell nicht erwähnte.