Evolution und Selbstoptimierung

Der Kurzschluss mit der Bio-Logik

Die Suche nach dem Optimum der körperlichen Leistungen ist keineswegs »Evolution-in-Action«. Sie folgt vielmehr nur einer Logik: der Abwendung von der Geschichte und der Hinwendung zur Züchtung.

Vielleicht haben Biologen zu oft von der beständigen Selbstoptimierung biologischer Systeme gesprochen, die sich aus dem Wechselspiel von zufälligen Mutationen und natürlicher Selektion ergebe. Die Behauptung jedenfalls, dass Selbstoptimierung nichts anderes sei als »Bio-Logik« oder »Evolution-in-Action«, scheint in einem direkten Zusammenhang mit der Biologie oder dem Leben selbst zu stehen.
Die Rede von der »Evolution-in-Action« findet sich in keinem Lehrbuch über Evolutionstheorien, sondern in einem Ratgeber für die tägliche Selbst­optimierung von menschlichen Individuen in Arbeitsleben und Alltag. Wahrscheinlich wird die Verschaltung von Bio und Action aber ebenso in Effizienzsteigerungsseminaren für Staubsaugervertreter wie in Workshops für den akademischen Mittelbau zur Verbesserung der Veröffentlichungspraxis ihre Anwendung finden. Die Evolution selbst in die Hand zu nehmen, scheint auf der Höhe der medizinisch-industriellen Entwicklung – auch trotz oder wegen des Falles des Radfahrers Lance Armstrong – das Gebot der Stunde zu sein.
So konnte man kürzlich im Sportteil der Süddeutschen Zeitung lesen, dass sich der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht auf einer Tagung für eine partielle Freigabe von Doping ausgesprochen habe, auch um zu testen, inwieweit man die bisherigen menschlichen Leistungsgrenzen überschreiten könne.
Das ist natürlich keine neue Tendenz. Seit der Entstehung der modernen Biologie in der Zeit der französischen Revolution wandert der Blick von der Oberfläche der Körper in ihr Inneres. Und dass sich dann auch Leute finden, die die Befindlichkeit nicht nur von Individuen, sondern von ganzen Gesellschaften an der Zusammensetzung der Darmflora und -fauna ablesen, gehört zu dieser Entwicklung. Was angesichts der wirklich faszinierenden neuesten Erkenntnisse zum Tiergetümmel im Darmgeschlinge noch halbwegs verständlich ist, wird sehr unangenehm bis widerlich, wenn es sich dem Design individueller Körper zuwendet. Die Suche nach dem Optimum der körperlichen Leistungen folgt nämlich immer nur einer Logik: der Abwendung von der Geschichte und der Hinwendung zur Züchtung.
Der Zusammenhang von Selbst­optimierung und Evolution ist kompliziert. Evolutionstheorien waren und sind nie nur empirisch konzipiert, sie sind immer auch Geschichtswissenschaft. Der bedeutende Evolutionstheoretiker Ernst Mayr, der 2005 starb, wurde bis zuletzt nicht müde, die Evolutionstheorie als Geschichtswissenschaft gegen das molekulargenetische Paradigma in Stellung zu bringen. Für Mayr war es nur in den seltensten Fällen, bei bestimmten Erbkrankheiten zum Beispiel, möglich, ein Phänomen aus nur einer Ursache zu erklären, wie etwa der genetischen Ausstattung eines Individuums. Die Gestalt und das Verhalten von Pflanzen und Tieren waren für ihn eine Folge der Gegebenheiten und Ansprüche des Lebensraums und des Erbes einer langen Reihe von Vorfahren. Sein pluralistisches Konzept der Evolution konnte nicht einer Ursache, wie den Genen, den Vorrang vor anderen Faktoren geben, wie der jeweiligen Umwelt der Lebewesen und den Gesellschaften beziehungsweise Populationen, in denen sie leben. Zufall und Notwendigkeit blieben für Mayr die Elemente, die den evolutiven Prozess konstituieren. Das eine war ohne das andere nicht zu haben.

Es hat in der Biologie aber immer wieder Versuche gegeben, den Entwicklungsgang nach Notwendigkeiten und einer daraus folgenden zwangsläufigen Gestaltung der Lebewesen abzusuchen und damit dann der Evolution doch ein Ziel zu unterstellen. Ein Ziel, an dessen Ende dann die bestangepassten Lebewesen mit den bestmöglichen Verhaltensstrategien stehen. Eine solches methodisches Suchen widerspricht zwar Charles Darwins grundlegender Einsicht, dass der Evolutionsprozess prinzipiell ziellos verläuft, ist aber aus der biologischen Forschung und Theoriebildung nie ganz verschwunden. Für einen kurzen Zeitraum, von der Mitte der siebziger bis zum Ende der achtziger Jahre, hat die Suche nach notwendigen Gestaltungen und Verhaltensformen zu einem immens anregenden Boom in der Hypothesenbildung und ihrer experimentellen Überprüfung geführt. Wissenschaftsgeschichtlich kann man diese Periode sehr gut beschreiben. Sie begann mit Richard Dawkins Weltbestseller »Das egoistische Gen«, im englischen Original 1976 erschienen, und endete mit dem Siegeszug der Verhaltensökologie als Leitwissenschaft in der Verhaltensforschung irgendwann in den Neunzigern. Von Bedeutung sind hier die Begriffe »egoistisches Gen«, »evolutiv stabile Strategie« (ESS) und das Konzept der Optimalitätsmodelle. Die derzeitigen Selbstoptimierungstechniken von der Hautarztpraxis bis zur musikalischen Früherziehung bei noch nicht geborenen Babys stehen in einem direkten Zusammenhang mit den mathematischen Optimalitätsmodellen der Verhaltensökologie. Es hat dabei aber eine begriffliche und konzeptuelle Veränderung stattgefunden, die das ursprüngliche Ziel der Verhaltensbiologen bis zur Unkenntlichkeit transformiert – ein Vorgang, den man sehr gut an einem anderen biologischen Konzept erläutern kann, das heute in alle Bereiche der Gesellschaft Einzug gehalten hat, nämlich dem Mobbing.

Mobbing ist ein in der Verhaltensbiologie entwickelter Begriff. Mobbing beschreibt die aktiven Angriffshandlungen eigentlich wehrloser Singvögel, von der Amsel bis zur Krähe, gegenüber Greifvögeln wie Habichten oder Bussarden. Fasziniert hat die Biologen am Mobbing immer, dass es eigentlich wehrlose Elstern schaffen, in gemeinsam koordinierten Angriffen sogar viel stärkere Seeadler aus ihren Revieren zu verjagen, ohne selbst Schaden zu nehmen. Es handelt sich beim Mobbing also um Handlungen zwischen zwei verschiedenen Arten und nicht um innerartliche Konkurrenzkämpfe. Im Alltagsgebrauch ist nur das Wort gleich geblieben, der Inhalt, wenn er üble Handlungen unter Kollegen am Arbeitsplatz beschreibt, hat nichts mehr mit seinem Ursprung in der Biologie zu tun.
Und so ist es auch bei den Selbstoptimierungsverfahren. Die Verhaltensökologie ging davon aus, dass sich tierisches Verhalten immer in der Auseinandersetzung mit der Umwelt entwickelt und dass sich dieses Verhalten evolutiv in den Genen manifestiert hat. Verhalten ist nach dieser Sicht kein unkalkuliertes Zufallsprodukt, sondern hat sich in Anpassung an die verschiedensten Bedingungen mehr oder weniger optimal entwickelt. Es gibt, und das ist der Knackpunkt der verhaltensökologischen Theorien, schlecht und gut angepasste Tiere und Pflanzen. Ob ein Verhalten gut oder schlecht angepasst ist, lässt sich über theoretisch entwickelte Optimalitätsmodelle empirisch überprüfen.
Optimalitätsmodelle sind aus der Ökonomie entlehnte Kosten-Nutzen-Rechnungen, mathematische Modelle, die Verhaltensvorhersagen erlauben. Ein Verhalten wird dann als optimal eingeschätzt, wenn der Aufwand an Energie nie den Ertrag übersteigt, sondern immer in der Energiegewinnzone bleibt. Wenn zum Beispiel Spatzen zwischen einem ergiebigen Futterplatz, der aber die Gefahr erhöht, von einem Greifvogel gefasst zu werden, und einem weniger ergiebigen Futterplatz, der dafür wesentlich sicherer ist, wählen können, sollten sie sich nach dem Optimalitätskonzept für den sicheren Platz entscheiden, weil der ihr Überleben sichert. Was die Spatzen auch tun.

In diesen sehr begrenzten und konkreten Fragen ist die Verhaltensökologie sehr erfolgreich. Ein allgemeines Verhaltenskonzept, das die gesamte Evolution bestimmt, ließ sich daraus aber nicht ableiten. Denn auch wenn sich Tiere manchmal so verhalten, als ob sie Kosten-Nutzen-Rechnungen anstellten, nehmen in der Biologie nicht einmal die Verhaltensökologen an, dass Tiere oder Pflanzen tatsächlich irgendwelche Kalkulationen anstellen. Optimalitätsmodelle bieten in manchen konkreten Situationen die Möglichkeit, Fragen zu formulieren. Ein generelles Konzept, das dem Prozess des Lebendigen zugrundeliegt, lässt sich aus ihnen aber nicht ableiten, und damit auch nicht die Aussage, dass es in der Evolution ein Streben nach dem Optimalen gebe. Das ist auch der Grund, warum alle Versuche in der Biologie, nichttriviale Gesetzesmuster nach dem Vorbild der Physik zu finden, die die Entwicklung der Menschheit insgesamt bestimmen, komplett gescheitert sind.