Der Kompromiss zur Vermeidung des fiscal cliff

Klippensturz vermieden

Der Kompromiss zwischen Demokraten und Republikanern hat es in sich. Er bringt erhebliche Mehrbelastungen auch für Lohnabhängige mit mittleren und geringeren Einkommen.

Die USA wurden zwischen Weihnachten und Neujahr vom Streit um die vermeintlich drohende Zahlungsunfähigkeit der Regierung, der sich seit Monaten abgezeichnet hatte, im Bann gehalten. In apokalyptischem Tonfall wurde ein ums andere Mal die Gefahr beschworen, die der US-Wirtschaft drohe, falls Republikaner und Demokraten im Kongress sich nicht auf ein gemeinsames Haushaltsbudget einigen könnten, das die gigantische Staatsverschuldung der USA beherrschbar mache. Der Sturz von der »Fiskalklippe« allerdings hätte nicht etwa die sofortige Zahlungsunfähigkeit der Regierung bedeutet, sondern vielmehr automatisch in Kraft tretende drastische Steuererhöhungen und Haushaltskürzungen, die insbesondere den Militäretat und das Sozialbudget betroffen hätten. Existenziell bedroht hätte dies vor allem zwei Millionen Langzeitarbeitslose, deren Zahlungen mit sofortiger Wirkung ausgeblieben wären. Nach zermürbenden Verhandlungen beschlossen Senat und Repräsentantenhaus schließlich einen Kompromiss, mit dem die Regierung zwei Monate Zeit gewinnt, der jedoch keine Seite wirklich zufriedenstellt.
Der Kompromissvorschlag, dem der Senat und nach einigem Ringen auch das Repräsentantenhaus zustimmten, sieht Steuererhöhungen für Haushalte mit einem Jahreseinkommen von mehr als 450 000 Dollar vor. Damit ist nach einer Schätzung des Tax Policy Center nur etwa ein Prozent der Bevölkerung davon betroffen, während die von Präsident Barack Obama geforderte Steuererhöhung für Einkommen ab 200 000 Dollar zumindest die obersten zwei Prozent etwas stärker belastet hätte. Der Erbschaftssteuersatz steigt von 35 auf 40 Prozent, wobei weiterhin Erbschaften bis zu fünf Millionen Dollar von der Besteuerung ausgenommen werden sollen. Obama hatte zunächst einen Satz von 45 Prozent bei Ausnahmen bis zu 3,5 Millionen Dollar verlangt. Zugleich steigen die Steuersätze für Kapitalgewinne und Dividenden für Bezieher von Einkommen von 400 000 Dollar und mehr von 15 auf 20 Prozent – einschließlich eines Zuschlags für die Gesundheitsreform sogar auf 23,8 Prozent. Steuerliche Abzugsmöglichkeiten bei der Einkommensteuer werden für Einkommen ab 250 000 Dollar (bei Familien ab 300 000 Dollar) begrenzt.
Die im Zuge der Finanzkrise verlängerte Bezugsdauer von Arbeitslosenunterstützung wird abermals für ein Jahr aufrechterhalten. Mehr als zwei Millionen Langzeitarbeitslose werden damit auch im neuen Jahr finanzielle Hilfe erhalten. Eine Reihe von Steuerabzügen und Steuerboni (Earned Income Tax Credits) für Familien mit niedrigeren Einkommen und für Bildung sollen für fünf Jahre festgeschrieben werden. Steuersubventionen für erneuerbare Energien werden um ein Jahr verlängert. In den Medien wenig beachtet wird, dass der Kompromiss erhebliche Mehrbelastungen auch für Lohnabhängige mit mittleren und geringeren Einkommen mit sich bringt. So steigen im neuen Jahr die Beiträge der Arbeitnehmer zur Rentenversicherung (Social Security) um zwei Prozentpunkte. Zugleich erhöht das Gesetz zur Beilegung des Haushaltsstreits die Steuern für 77 Prozent aller Haushalte, indem es eine zweiprozentige Reduktion des Lohnsummensteuerabzugs wegfallen lässt. Eine Familie mit einem jähr­lichen Einkommen von 50 000 Dollar muss dieses Jahr 1 000 Dollar mehr Bundessteuern bezahlen. Das dürfte Auswirkungen auf den Konsum haben, von dem die US-Ökonomie zu 70 Prozent abhängt.

Insgesamt betragen die Steuererhöhungen im Rahmen des verabschiedeten Kompromisses nur rund ein Fünftel der Belastungen, die auf die Amerikaner zugekommen wären. Der Rechnungshof des Kongresses schätzte in einem Bericht, dass das Abkommen das Staatsdefizit in den kommenden zehn Jahren um vier Billionen Dollar mehr erhöhen werde, als wenn die für den 1. Januar festgesetzten Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen in Kraft getreten wären. Der heftig ausgetragene Konflikt zwischen den die Obama-Regierung stützenden Demokraten, deren Ziel es war, die von George W. Bush 2001 eingeführten Steuersenkungen für Wohlhabende endlich zu streichen, und den Republikanern, die mit ihrer Weigerung, Steuererhöhungen zuzustimmen, und ihren Forderungen nach radikalen Kürzungen der Sozialausgaben unverhohlen die Interessen der vermögendsten Minderheit der US-amerikanischen Klassengesellschaft vertraten, kommt zu einem Zeitpunkt, der für einvernehmliche Lösungen im Sinne der Handlungsfähigkeit des bürgerlichen Staatsapparats sehr ungünstig erscheint.

Dabei gibt es durchaus seriöse Berechnungen, die andere Wege aufzeigen, als die Staatsschulden weiter zu erhöhen und die Schuldengrenze anzuheben. So hat etwa ein Forscherteam um den in Berkeley lehrenden Wirtschaftswissenschaftler Emmanuel Saez herausgearbeitet, dass allein die Anhebung der Steuersätze für das reichste Prozent der US-Gesellschaft auf den effektiven Spitzensteuersatz von 45 Prozent, den die Angehörigen dieser elitären Gruppe noch 1980 zu zahlen hatten, dem Staat zusätzliche Steuereinnahmen von 405 Milliarden Dollar bescheren würde. Die Durchsetzung dieser einen Maßnahme würde also einen Großteil der aufgeregten Debatten über einen befürchteten Staatsbankrott der USA gegenstandslos machen, wenn sie denn politisch mehrheits- und kampagnenfähig wäre. Dass sie das nicht ist, haben allerdings spätestens die vergangenen Wochen gezeigt. Warum scheint eine solche Maßnahme gegenwärtig in den USA nicht einmal denkbar? Diverse Kommentatoren versuchen, dies historisch zu erklären, etwa mit dem Verweis auf den antistaatlichen Individualismus des amerikanischen Kapitalismus.
Die Unfähigkeit, etwas zu tun, das in der Geschichte des Kapitalismus durchaus der Logik der Reproduktion des Kapitalverhältnisses entspricht, ist frappierend. Es geht letztlich darum, das Gesamtinteresse des bürgerlichen Staats – in diesem Fall das Interesse an elementarer Handlungsfähigkeit sowohl nach außen als auch nach innen, um den Zerfall einer von starken Klassengegensätzen gekennzeichneten Gesellschaft mit integrierenden und stabilisierenden Maßnahmen zu verhindern – gegen destruktive Einzelkapitale durchzusetzen. Deren Programm würde in seiner Konsequenz nichts anderes bedeuten als den Zerfall der staatlichen Macht. Zugleich ist der längerfristige ökonomische Abstieg der USA unverkennbar; das Hauptmarkenzeichen der USA ist längst nicht mehr Warenexport, sondern Kapi­talimport, der Niedergang der US-amerikanischen Autoindustrie seit den siebziger Jahren ist hierfür nur ein Beispiel.
Gerade die ungünstige ökonomische Entwicklung hat in den vergangenen zehn Jahren zu erheblichen Steuerausfällen geführt, während ein aufgeblähter militärisch-industrieller Komplex und eine Reihe langwieriger und kostspieliger Kriege Verteidigungsausgaben erzwangen, die den Staatshaushalt bis an die Belastbarkeitsgrenze strapazierten. So stieg der Verteidigungsetat, der im Jahr 2000 noch bei 375,9 Milliarden Dollar gelegen hatte, seitdem auf 662 Milliarden Dollar im Jahr 2012 an (im Jahr 2011 lag er gar bei 698 Milliarden Dollar). Der Friedensnobelpreisträger Obama setzte in dieser Hinsicht die Rüstungspolitik seines Vorgängers George W. Bush konsequent fort. Die Konjunktur- und Bankenrettungsprogramme infolge der Krise seit 2007 waren dann nur noch die letzte große Bürde, die ein Land zu tragen hat, dessen Infrastruktur teilweise zerfällt und in dem manchen der individualistische Rückzug aus einer von sozialen Gegensätzen und anomischer Gewalt durchzogenen Gesellschaft wie die Flucht von einem sinkenden Schiff erscheint.