Die Bilder von Toulouse-Lautrec

Der Tiger schläft nie

Was uns die Bilder von Henri de Toulouse-Lautrec angehen.

Belle Epoque – wenn dieser Begriff fällt, horchen Kulturfreunde auf. Klingt nach dem letzten Urlaub in der Provence mit pflichtbewusstem Paris-Abstecher. Dass diese kulturelle Epoche Anfang des 19. Jahrhunderts aber eine gar nicht so schöne, sondern vielmehr eine Zeit größter sozialer Umwälzungen und subkutaner Konflikte zwischen Aufklärung und Gegenaufklärung war, das zeigt jetzt eine Konzeptschau mit drei kritischen Chronisten des Jugendstils. Alle drei gelten als herausragende Exzentriker im vermeintlich exzentrischen Paris von damals: der Teufels-Zeichner Francisco de Goya, der larmoyante Maler und Zeichner Honoré Daumier und der arbeitswütige Henri de Toulouse-Lautrec, der insgesamt über 5 000 Werke schuf. Um diese alte Kunst als neuestes Event bewerben zu können, wurde der Titel »Der exzentrische Blick« gewählt. Das Attribut »exzentrisch« zieht immer. Ohne bittersüße Assoziationen wäre die Kunst der Aufklärung wohl ermüdend für das Publikum. Den Ausstellungstitel halten die Kuratoren sicherlich für gelungen, klingt er doch nach Genie und Wahnsinn, Sex und Verderbnis, nach Ausschweifung und Verfall, nach Schlüssellochblick und Voyeurismus, nach »verrücktem Künstler« mit schlimmer Macke und nach »Kokshuren« ohne Tabus.
Während Goyas Vorahnung herannahender Schrecken für das Publikum schon verbraucht scheint, vereint Toulouse-Lautrec in seiner Person, seinen Werken, seiner Herkunft und seiner Biographie alles, wonach die Kulturindustrie, die nach der Freakshow wie dem Melodram und dem Porno lechzt, immer sucht. Heute wäre der Künstler perfekt für eine Trashseite wie TMZ.com: Hochkultur und Gossenaffinität, Krankheiten, Kleinwuchs und Hochbegabung, Drogentod und enttäuschte Lieben, großbürgerliche Eltern und Dirnen, unbändiger Lebensmut und tiefe Depressionen. Es sind stets dieselben Projektionen, die den verklemmten Ressentimentbürger an- und aufregen: die Moral und osteuropäische »Zwangsprostituierte«, Jörg Immendorf, seine todbringende Krankheit und seine Sexorgien. Fast scheint es, als wollten die Medienindustrie und ihre Konsumenten, je mehr sie über Sex reden, um so mehr ihn bannen wie einen Dämon, als den reuige Sünder wie Tiger Woods ihn bezeichnet haben. Dumm nur, dass dieser teuflische Tiger nie schläft.
Dabei wäre es gerade Auftrag der Kulturindustrie und der Kunst, den vielleicht auch teuflischen Trieb immer wieder aus dem Gefängnis der Merkantilisierung der Sinne zu befreien. So wie Aufklärer vom Schlage eines Marquis de Sade oder eines Casanova es wohl wollten – und so wie Toulouse-Lautrec es versuchte. Seine Salon-Darstellungen sind Imaginationen einer Zeit der frühbürgerlichen Selbstfindung, seine Strichführung, die man gerne »impressionistisch« nennt, nimmt das Klar-Lineare des Comicstrips vorweg und zitiert dabei die herrschaftlichen Gemälde der Florentiner Renaissance. Aber Toulouse-Lautrec zeigt vor allem »die da unten«, mal hässlich, mal schön, aber mit der Hingabe eines Menschen, der seine Modelle und ihren Seelenzustand nur zu gut kennt und wie verliebt auf die Leinwand trägt. Seine Akte entblößen nicht die Intimität, sie verewigen das Momentum der Privatheit. Selbstüberschätzung und Eitelkeit – all das Alberne der menschlichen Komödie wird dem Ausstellungsbesucher zu einem verheißenden Krimi der Charakterologie. Kein innigeres, anrührenderes Bild einer Frau gibt es vielleicht als Toulouse-Lautrecs Interpretation der sitzenden Marcelle Lender.
Toulouse-Lautrec unterscheidet von der gängigen Kulturindustrie, dass er seine Modelle nicht als Objekte vor dem Zirkuspublikum ausstellt und sie vorführt, sondern dass er sie konträr zu ihrer Umwelt vorstellt, um dem Betrachter das Andere, das Ungewohnte, das Abweichende zart wie kühn nahezubringen. Seine Bilder muten dem Publikum die Spannung zwischen Schönheit und Schmerz zu, die Kunst von gefälligem Kunstbetrieb und von subventionslüsternen Kunstprojekten unterscheidet.
Toulouse-Lautrec starb mit 36 Jahren, wohl am Alkohol. Für Ausnahmen wie ihn ist in dieser Welt nun mal kein Platz, sein Talent war nicht unmittelbar kapitalisierbar. Sein Übermaß an ziselierter Wahrnehmung machte ihn zu einem Überflüssigen in einer Welt, die nur spektakulär wahrnimmt. In dieser Welt der realitätsfernen »Besten Freunde« erfüllt der abweichend Behinderte seinen Zweck nur, um den »Normalen« zu zeigen, dass doch alles nicht so schlimm sei. Und selbst deviante Sexualität gerät zur bloßen Triebfeder des laufenden Betriebs, die die Maschinen neu ölt und störenden Sand aus den Zahnrädern der Selbstverwertung putzt.
Ähnlich wie später der Jugendstilarchitekt Henry van de Velde setzte der Werbegraphiker Toulouse-Lautrec der instrumentellen Schnöde die Illusion des Scheins entgegen, um gerade durch diese konzentrierte Verfremdung das Verborgene zu lichten und die Sehnsucht zu befeuern gegen die unerträglichen Verhältnisse: Ästhetik als Waffe, Erotik als Munition. Van de Velde nannte es die »neue Ära der Menschlichkeit und des Sozialen, der Rückkehr der Schönheit auf Erden«. Die damalige Zeit war voller Härten: Die kapitalistisch-bürgerliche Ordnung verfestigte sich, die Industrialisierung wurde forciert, die Sprache entledigte sich der Poesie, der Alltag wurde technisiert, der revolutionierten Sexualität und dem Can-Can rückten die neuen Puritaner namens Suffragetten zu Leibe, die die Körperlichkeit zum unnützen Überfluss erklärten und gestohlene Momente der Dekadenz zum Verbrechen am getakteten Fortschritt.
Cabarets wie das Pariser Moulin Rouge und das Milieu am Montmartre aber wurden zum Refugium der Tagflüchtigen, dem John Huston in seinem raffinierten und farbgewaltigen Klassiker von 1952 ein Denkmal setzte. Die von Toulouse-Lautrec porträtierten Maitressen, Stars ihrer Zeit, wurden durch die aufkommende Prüderie mehr und mehr zu Verdammten, Verfluchten und Ausgegrenzten. Die Hoffnung des Jugendstils auf eine neue, bessere Gesellschaft erfüllte sich nicht, die Versprechen der Aufklärung wurden nicht eingelöst. Toulouse-Lautrec versuchte, das Temperament der Gosse einzufangen, mitsamt seiner schmutzigen Attraktivität, die er ins rechte Licht setzte. Sex als Verderbnis – dieser exzentrische Blick des denunziatorischen Voyeurismus war Connaisseuren wie Toulouse-Lautec fremd. Damit war er schon damals sogar der heutigen Tristesse weit voraus.

Der exzentrische Blick. Goya, Daumier, Toulouse-Lautrec. Hommage an die historische Sammlung Otto Gerstenberg. Berliner Nationalgalerie. Bis 17. Februar 2013