Der Post-Gangsta-Rapper Kendrick Lamar

Guter Junge, krasse Stadt

Kendrick Lamar hat den Gangsta-Rap von Goldklunkern und Gang-Klischees befreit. Auf seinem Album »Good Kid, M.A.A.D City« wird das Leben im Ghetto wie in einem Entwicklungsroman entfaltet.

Endlich mal wieder eine richtig grandiose HipHop-Platte mit allem, was dazugehört: Ohrwurm-Appeal und Street Credibility, virtuose Raps und Storytelling, kreative Produktionen und mitreißende Beats, dazu ein konzeptalbumgleicher Gesamtzusammenhang. Ob in Europa oder den USA, egal ob bei den divenhaftesten Großkritikern oder in den Internetblogs von nerdigen Teenagern – Kendrick Lamar gilt als der neue Superstar der Szene.
Der 25jährigen MC, der seine Karriere unter dem Namen K-Dot begann und in den Ghettos von South Central in Los Angeles aufwuchs, hat in einer Zeit, in der HipHop nicht mehr besonders viel zu melden hat, ein großartiges Album produziert. Mit »Good Kid, M.A.A.D City« ist ihm die Erneuerung von HipHop als Kunstform und Rap als Pop gelungen. Man müsste schon in die frühen Tage von Kanye West zurückgehen, um eine ähnlich erfolgreiche Fusion zu finden.
Sicher gab es auch im vorigen Jahr, wenn man sich die Mühe machte, jenseits der großen Namen zu suchen, spannenden HipHop. Ob alte Bekannte wie der Outcast-Rapper Big Boi oder populäre Newcomer wie Azelia Banks, abstrakte Indie-Positionen von El-P und Aesop Rock, der Homohop von Kreayshawn, Le1f undMikki Blanco oder seltsam Psychedelisches wie The Internet und die Odd Future-Gang – im Rap gibt es zahlreiche Neuerungen.
Kendrick Lamar stammt aus Compton, dem sozialen Brennpunkt von Los Angeles und derGeburtstätte des Gangsta-Rap. Compton wurde schon vor zwei Jahrzehnten von NWA mit düsteren Geschichten über Gewalt und Gegengewalt ein Denkmal gesetzt. Angeblich hat Lamar in seinem achten Lebensjahr auf MTV »California Love«, ein Musikvideo von Tupac Shakur und Dr. Dre, gesehen und wurde damit zum Jünger des Gangster-Rap, ging es hier doch genau um das, was Kendrick aus seiner Nachbarschaft kannte.
Mit 16 begann er als K-Dot, Mixtapes zu veröffentlichen, spätestens sein Tape »Overly Dedicated« machte ihn 2010 in Insider-Kreisen bekannt. Prominente Künstler wie Snoop Dogg, Lil’ Wayne und Dr. Dre wollten mit ihm arbeiten, weil sie erkannten, dass dort jemand nicht nur kredibel aus der Hood berichtete, sondern dies mit besonderer Musikalität und aus der ambivalenten Erfahrung der jüngeren Generation heraus tat. Sein erster Underground-Hit »Ignorance is Bliss« erzählt zwar auf den ersten Blick in bekannter Hollywood-Manier vom harten Leben auf der Straße, endet aber mit dem selbstkritiaschen Fazit: »Ignorance is Bliss – We dont know what we do.«
Im August 2011 erhielt der junge MC dann die offiziellen Weihen der HipHop-Heiligen. Bei einem Konzert der Gangster-Rap-Legenden Dr. Dre, Snoop Dogg und The Game ernannten die drei ihn vor frenetisch jubelndem Publikum zum »neuen König der Westküste«. Grund dafür war Lamars I-Tunes-Album »Section 80«, das schon alle Stärken erkennen lässt, die an seinem neuen Album von allen so begeistert gepriesen werden. »Section 80« spielt auf die Generation an, die wie Lamar in den Achtzigern aufgewachsen ist, das Stück erhielt zahlreiche Preise in wichtigen HipHop-Online-Medien. »Rapgenius«, eine Website, die sich vor allem mit den Lyrics von bekannten und unbekannten Rappern beschäftigt, ernannte das Album gar zur Platte des Jahres. Das Konzeptalbum erzählt die Geschichte von zwei Afroamerikanerinnen und deren Alltagserfahrungen zwischen Beziehungsdramen, dem Zerbrechen der Black Community unter dem Einfluss von Crack und Kokain, den Härten der Prostitution und dem Aufwachsen im Amerika Ronald Reagans.
Mit seiner neuen Platte hat Lamar seine Fähigkeiten perfektioniert. Dabei hat er sich wieder dem im HipHop immer noch seltenen Format des Konzeptalbums zugewandt. Doch Lamar ist kein steifer Intellektueller. So ist es auch möglich, sich beim Hören ohne großen Zugang zum Gesamtzusammenhang einfach von der Musik leiten zu lassen, an der über ein Dutzend Produzenten beteiligt waren. Nicht umsonst lautet der Untertitel des Albums »A Short Film«. Auf diesem Album ist Lamar selbst der Held der Geschichte, auch wenn es viele Perspektivwechsel gibt. Mal bewegt er sich in einer gefährlichen Gegend, weil dort die Frau seiner Träume lebt, dann ist er wieder auf der Suche nach Rückzug und Halt im Glauben oder flüchtet vor der allgegenwärtigen Kriminalität in den Schoß seiner Familie, die in kurzen akustischen Zwischenspielen durch Originalaufnahmen vertreten ist.
Anders als in den Klassikern des Genres geht es aber hier nicht darum, den härtesten Gangster des Blocks zu performen. Vielmehr entwirft Lamar einen akustischen Coming-of-Age-Roman, der in Compton angesiedelt ist. Drogen, Morde und Gangs kommen zwar vor, werden aber weder abgefeiert noch verurteilt, sie sind Teil einer Welt, in der der 17jährige Erzähler nun mal aufwächst, ohne dass er es sich ausgesucht hat. Laut eigener Aussage gehörte Lamar nie zu irgendwelchen Gangs vor Ort, wie den Crips oder den Bloods. Die Unsicherheit, nicht zu wissen, wo er hingehört, schärft seinen Blick auf die Regeln und Rituale des Ghettos. In dem locker in drei Akte aufgeteilten Opus fragt sich der Protagonist zunächst neugierig, was die Welt für ihn zu bieten hat, dann wird ihm bewusst, dass die Welt ihm nicht besonders freundlich gesonnen ist, gleichgültig ob er es mit schwarzen Gangstern oder weißen Cops zu tun hat. Im Finale des Albums entscheidet er, dass eine Rap-Karriere der eines Gangsters immer noch vorzuziehen ist.
In einem Interview erklärte Lamar einmal pathetisch, dass ihm die ermordete Ghetto-­Legende Tupac Shakur im Traum erschienen sei und ihm befohlen habe, sein Werk fortzuführen. Dies ist Lamar gelungen, verabschiedet er sich doch nicht nur von den meisten Rollen­klischees seiner Vorbilder, sondern auch von deren oft musikalisch stereotypen Sound-Entwürfen zwischen Hardcore-Bars und G-Funk-Kitsch. Seinen Erfolg verdankt Lamar nicht zuletzt seinem produktiven Umfeld. Black Hippy heißt seine Crew, zu der auch die MCs Schoolboy Q, Ab-Soul und Jay Rock gehören, unterstützt von dem Produzentenkollektiv Top Dawg Entertainment. Noch wartet man zwar auf deren gemeinsames Album, doch bemerkenswerte Soloalben haben sie alle schon veröffentlicht. Ob Jay Rocks »Follow Me Home«, Ab-Souls »Longterm Mentality« und »Control System« oder Schoolboy Q’s »Setbacks« und »Habits and Contradictions«, der Black-Hippy-Werkkorpus ist längst kein kleiner mehr. Dargestellt werden die Gesetze der Straße, mal identifiziert man sich mit ihnen, mal werden sie in Frage gestellt. Dieser Post-Gangster-Rap klingt nach gutem Indie-Hop, in dem der MC viel Platz für die Reimkunst bekommt und die Sounds andere Ziele verfolgen als sich in Sachen Härte und Düsternis zu überbieten. Sicher ist »Good Kid, M.A.A.D City« das bisher kompakteste und anspruchsvollste Album aus der Black-Hippy-Community. Doch den Weg dahin nachzuverfolgen, kann auch seinen eigenen Reiz haben.

Kendrick Lamar: Good Kid, M.A.A.D City
(Aftermath / Universal)