Ein Porträt der bekanntesten Breakdance-Crew Bagdads

Bagdad’s Smooth Criminals

Fünf junge Männer, ein Ghettoblaster und eine Leidenschaft für Breakdance. Eine Tänzer-Crew aus Bagdad erzählt vom HipHop, der Liebe zu Michael Jackson und dem Alltag in einer Stadt, in der junge Leute versuchen, Orte für sich zu erkämpfen.

Tanzen im Schatten der Shahrazad. Es klingt wie der Titel einer der Geschichten aus »Tausendundeine Nacht«, aber an diesem Freitagnachmittag ist es eine Breakdance-Crew, die auf dem Platz mit Sicht auf den Tigris auftritt, zwischen der Statue der Märchen erzählenden Prinzessin und der des Sultans.
Es ist Feiertag und der Platz befindet sich mitten im Stadtzentrum. An Zuschauern wird es heute vermutlich nicht fehlen, was allerdings eher für Anspannung sorgt. Den Betonboden haben die Tänzer für die Gelegenheit nass gemacht, einer nach dem anderen treten sie vor und zeigen ihre Moves. Kleider, Schuhe, Basecaps und sogar der alte Ghettoblaster sehen aus, als würden sie aus der Requisitenkiste von »Do the Right Thing« von Spike Lee stammen.
Das ist die Power Group, die sich selbst als »die bekannteste Breakdance-Crew« im Irak bezeichnet. Azher (Speedy), Ramey (Dance), Adel, Yasser, und Ahmed sind stolz, ausländische Journalisten zu ihrem Publikum zu zählen, sie stürzen sich vor die Kamera, sie wollen ihr eigenes Märchen aus dem Nahen Osten erzählen.

Ihre Geschichte beginnt vergangenes Jahr, als Azher auf einer Weihnachtsfeier Adel tanzen sieht. Die beiden entdecken, dass sie eine gemeinsame Leidenschaft haben, es entstehen eine Freundschaft und ein Projekt. Und jetzt stehen sie hier mit den weiteren Dreien, die sich der Gruppe später angeschlossen haben. »Seit zehn Jahren tanze ich zu HipHop vor dem Spiegel und versuche, mich zu verbessern. Ich habe es selbst gelernt, in meinem Zimmer«, erzählt Azher. »Dann hatten wir die Gelegenheit, eine Gruppe zu gründen, aber wir sind zuerst Freunde und dann eine Tanz-Crew.« Azher, mit seinen 25 Jahren der Älteste der Gruppe, ist außerdem ziemlich sicher: »Wir sind die Besten unter denjenigen, die in Bagdad irgendwas mit HipHop machen.« Der 16jährige Ahmed, der jüngste unter den Breakdancern, zeigt sich auch sehr selbstbewusst: »Wir haben es drauf«, so einfach sei das.
Aber der Alltag in der irakischen Hauptstadt nach zehn Jahren Krieg und nach dem Abzug der US-amerikanischen Truppen im Jahr 2011 bietet alles andere als eine entspannte Atmosphäre, in der sich junge Künstler entwickeln können. »Oft sind wir zusammengeschlagen, festgenommen oder verhaftet worden, einfach weil wir in der Öffentlichkeit getanzt haben«, erzählt Adel. »Die haben gesagt, wir würden den Islam beleidigen und die arabischen Sitten verletzen. Die sagten sogar, wir seien Amerikaner und schwul«, lacht er. »Aber uns ist das egal. Uns interessiert nur der HipHop. Das, was wir machen, kennen die meisten Leute hier nicht, deshalb halten die uns für Freaks.«

Die Anspannung, mit der die fünf Jungs aufgrund ihrer Leidenschaft für den HipHop und das Tanzen täglich leben müssen, sieht man ihnen auch an diesem friedlichen Freitagnachmittag deutlich an. Jeder Passant, der neugierig anhält, könnte ein potentieller Informant der Polizei oder ganz einfach ein frommer Bürger sein, der sich von dem, was er sieht und hört, »beleidigt« fühlt. Daher wird jeder der Herumstehenden erst einmal misstrauisch gemustert, jedes abbremsende Auto auf dem nahen Highway bedeutet eine potentielle Kontrolle. »Keine Sorge, das sind Verkehrspolizisten, die können uns nichts antun«, sagt Azher. »Es ist sowieso unmöglich vorauszusehen, wann jemand kommt, um dich zu kontrollieren. Ich habe es gelernt, als ein Bulle mir die Nase brach, weil ich auf der Straße tanzte.«
An dieses Risiko haben sich die fünf Tänzer inzwischen gewöhnt, aber auch für alle anderen Bewohner und Besucher Bagdagds ist Vorsicht im Alltag geboten. Immerhin ist Bagdad eine Stadt, in der alle 500 Meter ein Checkpoint steht und es immer ratsam ist, zu wissen, wem der Boden, auf dem man sich gerade befindet, gehört, und welche Regeln zu befolgen sind. Denn man muss kein Verbrecher sein, um Opfer einer Schikane durch die Polizei zu werden, oft reicht es, wenn man auf der falschen Liste landet.
Der irakischen Verfassung zufolge soll die Gesetzgebung demokratisch sein und dem »islamischen Gesetz« folgen – ein nicht auflösbarer Widerspruch. Im Alltag versuchen Staat und religiöse Milizen die Verbote und Vorschriften der Sharia durchzusetzen. Daher gilt der Import von Trends aus der »westlichen Welt« als Todsünde.
»Aber ich fühle mich als Brite, nicht als Araber«, sagt Adel. »Ich mag alles an der britischen Kultur und gar nichts an unserer.« Warum ausgerechnet Großbritannien? »Meine Eltern haben dort viele Jahre gelebt. Dann wurde mein Vater krank und sie beschlossen, zurückzugehen. Mit dem, was ich mache, hat meine Familie überhaupt kein Problem«, sagt er stolz und verrät seinen Traum: »Ich will auch dahin eines Tages. Bald. Mein Onkel wohnt immer noch dort. Ich liebe alles an Großbritannien, ich bin kein Araber.« Der junge Tänzer hat Bagdad bisher noch nie verlassen.
Auch Azher erzählt, dass er sich nicht vor der Familie verstecken muss, wenn es ums Tanzen geht. »Ganz im Gegenteil, mein Vater hat sich darüber gefreut. Vor Jahren hat er versucht, eine Erlaubnis zu bekommen, um nach Belgien auszuwandern. Er bekam sie nicht, deshalb hofft er, das wenigstens ich meinen Traum verwirklichen kann.« Denn auch er hat einen Wunsch: bloß weg hier.

Der Alltag in Bagdad, wo man fast ausschließlich vollverschleierte Frauen sieht, wo Rap und HipHop als »teuflische Musik« gelten, wo junge Menschen ihre Sexualität verleugnen und verstecken müssen, ist sehr weit entfernt von den Träumen dieser jungen Iraker, die es trotz ihres unbestreitbaren Talents vermutlich sehr schwer haben werden, sich als Künstler zu entwickeln. Im Gegensatz zu den Älteren der Gruppe hatten die Jüngeren bereits mit ihren eher traditionellen Familien Probleme, als sie sich als Tänzer »outeten«. Ramey erzählt, wie er Breakdance und HipHop kennengelernt hat: »Ich habe die Jungs hier einmal tanzen sehen und dachte, das könnte auch was für mich sein. Ich habe Videos aus dem Internet heruntergeladen und habe in meinem Zimmer so lange geübt, bis ich ein paar Moves konnte«, erzählt er, »aber heimlich, wenn niemand zu Hause war, ansonsten bin ich ins Fitnessstudio gegangen.« Ramey sagt, dass er zu Hause die CDs mit der »Satan-Musik« hören oder die »amerikanischen« Kleider tragen darf.
Die Power Group ist aber nicht eine bloße Imitation US-amerikanischer Vorbilder. Die Fünf tragen keine Baggy Pants, Basecaps oder die kitschigen Goldketten, die Gangsta-Rapper in den neunziger Jahren trugen. »Damit kannst du in Bagdad nicht so einfach herumlaufen«, sagt Azher lachend, »da würden wir einen Riesenärger kriegen. Aber uns interessiert dieser Schnickschnack nicht, nur die Musik ist wichtig.«

Nach dem Ende des Ba’ath-Regimes und der strengen kulturellen Zensur sind die Ikonen des US-amerikanischen HipHop auch der Jugend von Bagdad bekannt geworden. Auch für die Tänzer der Power Group sind 50 Cent, Eminem und Tupac Shakur Vorbilder. Allerdings finden sie trotz der Bewunderung den Lifestyle vieler Rapper aus den USA nicht in Ordnung. »Das Gangster-Leben finden wir nicht attraktiv«, sagt Azher. Diejenigen, die aus liberalen Familien stammen, haben in ihren Zimmern Poster von Beyoncé und sie treffen sich mit Freunden, um das Live-Konzert von Britney Spears anzusehen. Unter all den musikalischen Idolen gibt es einen, der über allen anderen steht: Michael Jackson, den sie einfach nur »the king« nennen. »Als ich das Video von ›Smooth Criminal‹ zum ersten Mal gesehen habe, war ich acht Jahre alt, es traf mich wie ein Blitzschlag«, erzählt Adel.
Es geht ihnen nicht nur um die Musik und um den Tanz, sondern auch um den Menschen Michael Jackson. Wenn es um ihren König geht, fangen alle fünf plötzlich sehr laut zu reden an, als wollten sie zeigen, wer ihn am meisten liebt. Von den Skandalen um die Person Michael Jackson wollen sie nichts wissen: »Als er gestorben ist, haben wir geweint und tagelang schwarze Kleider getragen«, sagt Adel, »und wir reden nicht mehr mit Leuten, die Schlechtes über ihn sagen.« Für ausländische Reporter ist das durchaus als Botschaft zu verstehen, den Prozess wegen Kindesmissbrauchs erwähnen wir daher an dieser Stelle lieber nicht.
Für diese jungen Iraker wird es sehr schwer sein zu erreichen, dass die Menschen in ihrem Land »ihre« Musik verstehen und lieben. »Wir haben eine Show für NBC gemacht, und wir haben im Sheraton mit den Leuten der Tanzakademie aus Dohuk (einer der größten Städte in Irakisch-Kurdistan, Anm. d. Red.) getanzt«, erzählt Azher. »Alle fanden uns gut, obwohl ich nicht glaube, dass die richtig begriffen haben, was wir machten. Nach diesen Auftritten ist aber alles beim Alten geblieben«, sagt er enttäuscht.
Von einer Rückkehr zu Normalität nach dem Abzug der US-amerikanischen Truppen kann man im Irak nicht sprechen. Schon der Begriff »Normalität« erscheint nach 30 Jahren Diktatur und mehreren Kriegen wenig angebracht. Das Land ist in Einflusszonen geteilt: die Schiiten im Süden, die Sunniten in der Mitte und die Kurden im Norden, aber die Konflikte zwischen den religiösen Gruppen brechen immer wieder aus. Armut, religiöser Fundamentalismus und die Angst, bei einem Terroranschlag getötet oder verletzt zu werden, bestimmen den Alltag.

Trotzdem gibt es auch in Bagdad angesagte Orte, an denen sich die junge Generation zwischen 20 und 30 trifft und versucht, sich künstlerisch auszudrücken. Zum Beispiel alte, verlassene Theater und Häuser, die noch aus der osmanischen Zeit stammen.
Das alte Haus des Ersten Gouverneurs ist ein solcher Ort: Ein dreistöckiges Gebäude aus Stein am Ufer des Tigris, in dem sich eine Theatergruppe gegründet hat, die dort für ihre Aufführungen probt. Das Restaurant im Garten des alten Hauses ist ein guter Ort, um nach zwei Stunden Breakdance-Performance weiter zu plaudern.
Die fünf jungen Tänzer kennen die Schauspieler, die sich dort treffen: »Wir Künstler in Bagdad sind irgendwie alle miteinander befreundet«, sagt Azher schmunzelnd. »Nach Feierabend proben wir in der Regel ein bisschen und dann kommen wir hierher, um etwas zu trinken oder Leute zu treffen.« Denn zumindest die Älteren in der Gruppe müssen neben dem Tanzen auch ihren Lebensunterhalt verdienen und womöglich auch daran denken, die eigene Zukunft zu sichern. So arbeitet Adel neben dem Jura-Studium in einer Bäckerei. »Ich will irgendwann nach Amerika und muss davor richtig gut Englisch lernen. Aber das tue ich sowieso durch den HipHop«, sagt er. Ramey geht auf ein College, Azher jobbt als Bedienung in einem Fast-Food-Restaurant und Yasser ist Fischer.
Mit gerade einmal 20 Jahren eine Stelle mit festem Gehalt zu haben, ist keine übliche Sache in Bagdad. Denn neben den informellen Jobs, mit denen viele Leute versuchen, über die Runden zu kommen – etwa Taxifahrer und Wasserverkäufer im Straßenverkehr, der die einzig wirklich teuflische Sache in der irakischen Hauptstadt ist – gibt es in Bagdad kaum Möglichkeiten zu arbeiten.
Eine Festanstellung, etwa im öffentlichen Sektor, ist etwas Unerreichbares, es sei denn man kennt die richtigen Leute in den richtigen Ämtern. Diese Art von »Normalität« streben die fünf Tänzer der Power Group sowieso nicht an, in diesem Punkt sind sich alle einig. Sie begreifen sich als Künstler und wissen, dass sie privilegiert sind. Sie haben, wenn auch nicht alle, tolerante Familien und eine Arbeit. Und sie haben eine Leidenschaft. »Wir hängen nicht herum wie viele andere in unserem Alter«, sagt Azher.
Der große Traum ist und bleibt der Westen: Großbritannien, die USA. Aber zunächst müssen sie in Bagdad bleiben und auch hier, meint Azher, gibt es Dinge, die man sich wünschen kann: »Einen Proberaum zu haben, das wäre toll. Wir brauchen einen Ort, wo wir entspannt tanzen können, nicht nur auf der Straße, wo wir jeden Tag fürchten müssen, beleidigt, verprügelt oder festgenommen zu werden.«

Übersetzung: Federica Matteoni