Ein aufschlussreicher Brief der KZ-Aufseherin Hermine Braunsteiner

»Im festen Glauben an Gerechtigkeit«

In der Wohnung seiner Mutter in Graz stieß ein junger Österreicher auf die Erinnerungsstücke seiner Großmutter. Darunter waren auch Briefe und Fotos, die die KZ-Aufseherin Hermine Braunsteiner seiner Oma geschickt hatte. Aufschlussreich ist ein Brief, den Braunsteiner, die als Vorbild für die Hauptfigur in Bernhard Schlinks Roman »Der Vorleser« gilt, kurz nach ihrer Verhaftung in der amerikanischen Untersuchungshaft geschrieben hat.

Ostersonntag 1973 in New York. »Ihr werdet sicher auch sehr überrascht sein und zu gleicher Zeit darüber entsetzt sein, wo ich mich zur Zeit befinde«, schreibt Hermine Braunsteiner nach Österreich an ihre alte Freundin Hilde und deren Ehemann. »Leider«, schreibt sie, »ist es nun schon die fünfte Woche, dass man mich verhaftete und (ich) so auch das amerikanische Gefängnis von innen kennenlernen muss. Es ist nicht leicht für mich zu ertragen, es ist eine andere Welt für mich, um mit dieser Sorte Menschen zusammen leben zu müssen.« Es ist vor allem Braunsteiner selbst, die es nicht glauben kann, dass ausgerechnet sie im Gefängnis sitzen muss – sie, die gute Hausfrau aus Queens, die treue Ehefrau eines amerikanischen Soldaten und fürsorgliche Hundebesitzerin.
Der handschriftlich auf Gefängnispapier verfasste Brief, der jetzt in einem Privathaushalt in Graz ausgegraben wurde, zeigt, mit welchem Selbstverständnis eine der grausamsten Kriegsverbrecherinnen des Nationalsozialismus auf ihre Taten schaute und wie überaus selbstmitleidig sie dabei war. Nicht zuletzt zeigt das Schreiben, dass Braunsteiner, die zu diesem Zeitpunkt Ryan hieß, nach wie vor eine hassgeladene Antisemitin war. »Wie ich«, schreibt sie im Brustton der Überzeugung, das eigentliche Opfer zu sein, »mein so trautes Heim, meinen herzensguten Russ (ihren Ehemann Russell Ryan, H. K. R.) und meine treuen Vierbeiner vermisse, kann ich mit Worten erst gar nicht beschreiben. Dieses habe ich alles meinen lieben Freunden den J. und auch dem deutschen Staat zu verdanken, die es für nötig halten (auf den enormen Druck und Geldmacht der so beliebten Rasse) mich nach 34 Jahren für schuldig machen wollen, und so meine Auslieferung fordern, um mich aufs neue wieder zu verurteilen, für all das, was damals der deutsche Staat anordnete und ausführen ließ.« Ohne Zweifel meint Braunsteiner mit »den J.« die »Juden«.

Mit einer Plastiktüte kommt Benjamin W. in die Redaktion. Er ist 1978 in Graz geboren und aufgewachsen und schlägt sich jetzt als Fotograf in Berlin durch. In der Tüte sind die Dokumente plus Laptop und USB-Stick. W. möchte nicht mit vollem Namen genannt werden, weil er befürchtet, nach der Veröffentlichung des Funds von Nazis belästigt zu werden. Judenwitze an der Schule, alter Nazimuff und ein erstarkender Neonazismus waren für ihn auch ein Grund, dort wegzugehen und nach Berlin zu ziehen. Eine österreichische Zeitung hat Interesse an der Veröffentlichung des Materials, aus den Redaktionen zweier deutscher Magazine hieß es dagegen, man habe kein Interesse, die Geschichte Braunsteiners sei »auserzählt«.
Es sei kein Familiengeheimnis gewesen. Dass W.s Großmutter in den fünfziger Jahren mit einer Frau befreundet gewesen war, die Jahrzehnte später zu lebenslanger Haft verurteilt worden war, wusste er. Seine Mutter Renate hatte ihm schon vor Jahren davon erzählt. Von den Treffen zwischen der Großmutter und deren Freundin, die für das Kind nur die nette »Tante Hermi« war. »Tante Hermi«, stellte sich Jahre später heraus, war eine berüchtigte KZ-Aufseherin: Hermine Braunsteiner hatte in den KZ Ravensbrück und Majdanek gearbeitet und wurde 1981 im Majdanek-Prozess wegen vielfachen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt.
Um seiner Mutter beim Umräumen der Wohnung zu helfen, war W. zum Jahreswechsel von Berlin nach Graz gefahren. Renate W. wusste, dass irgendwo unter all den Papieren im Haushalt der Gefängnisbrief vergraben sein musste und dass ihr Sohn daran Interesse haben würde. Also wurden alle Papierstapel durchgesehen. In einem Aktenordner fand W. schließlich die Fotografien und die beiden Schreiben von Braunsteiner. Und wusste sofort, dass er seinen Fund weder wegwerfen noch im Familienarchiv belassen wollte. Von einem »wunderschönen Urlaub« Braunsteiners zeugt eine Fotografie aus dem Jahr 1957. Mit Lederhandschuh und Löwenbabys posiert die ehemalige Aufseherin vor der Kulisse der Zugspitze für den Fotografen. »Es ist vor allem dieses Bild, das einen sofort an die ›Banalität des Bösen‹ denken lässt«, sagt W.
Die Biographie Braunsteiners ist gut dokumentiert. Nicht zuletzt wurde durch Bernhard Schlinks Roman »Der Vorleser« das Interesse an ihrem Lebenslauf neu entfacht. Schlink bestreitet zwar, dass Braunsteiner das Rolemodel für seine KZ-Wärterin war, die Parallelen waren aber offenkundig, insbesondere das beflissene Karrieremachen. Braunsteiner wurde 1919 in Wien geboren. Der Beruf ihres Vaters, Metzger, wirkt wie ein bösartiger Scherz in ihrer Biographie und wird doch eine Rolle in ihrer Geschichte gespielt haben. »Wie Schlachtvieh« soll sie Kinder im Lager gepackt und auf die Lastwagen zum Abtransport in die Gaskammer geworfen haben, sagen Zeugen später im Prozess gegen sie aus. Braunsteiner begann ihre Laufbahn als Arbeiterin in einer Munitions­fabrik, bewarb sich als Aufseherin im KZ Ravensbrück, wo sie zur Leiterin der Kleiderkammer aufstieg. Auch nach ihrer Versetzung ins Vernichtungslager Majdanek in Polen fiel sie Vorgesetzten als dienstbeflissen auf und wurde befördert. Bei den Häftlingen war sie als besonders grausam gefürchtet, ihr Sadismus richtete sich vor allem gegen Kinder, die sie als »nutzlose Esser« ansah. Vier Jahre nach Kriegsende war die wegen ihrer Taten in Ravensbrück Verurteilte auch schon wieder frei und startete in ihr neues ziviles Leben.
Über die Jahre bis zu ihrer Auswanderung in die USA 1958 ist nicht allzu viel bekannt. In diese Zeit fällt ihre Freundschaft mit Hilde Sch., erzählt die in Graz lebende 63jährige Renate W. am Telefon. Hilde Sch. und Braunsteiner arbeiteten als Zimmermädchen in Velden am Wörther See. Mit einem Leiterwagen transportierten die Zimmermädchen die Wäsche in eine Bügelei. Bei der Arbeit an der Bügelmaschine freundeten sich die beiden Frauen an. Manchmal durfte Renate ihre Mutter in die Bügelanstalt begleiten. Hier sah sie »Tante Hermi« auch zum ersten Mal. An warmen Sommerabenden nahm die Mutter die Tochter mit, wenn sie mit der Freundin zum Baden an den Wörther See ging. Auch als Renate ins Schulheim kam, besuchte die Mutter sie regelmäßig in Begleitung Braunsteiners. »Einmal«, so Renate W., »tauchte Frau Braunsteiner plötzlich zusammen mit ihrem zukünftigen Mann bei mir im Schulheim auf und lud mich zum Schnitzelessen ins teure Hotel Weitzer in Graz ein. Sie war sehr liebevoll, aber ich wusste nicht ganz, was diese Einladung sollte.« Was ihre Mutter Hilde damals von der Vergangenheit der Freundin gewusst hat, kann Renate W. nicht sagen. Vermutlich hat Braunsteiner – wie viele Täter – eine Version ihrer Vergangenheit erzählt, die sie komplett entlastete. Dass sie in führender Position im Vernichtungslager Majdanek gearbeitet hatte, konnte sie selbst vor ihrem Mann verbergen, der sich bis zu ihrem Tod an die Möglichkeit einer Verwechslung geklammert hatte. Braunsteiner, erzählt Renate W., habe unbedingt schnell nach Amerika gewollt und immer davon gesprochen, einen Ausländer zu heiraten und Österreich zu verlassen. »Da hat meine Mutter geahnt, dass was nicht stimmt«, sagt sie. Die jetzt gefundene Weihnachtskarte schrieb Braunsteiner 1959 bereits als glücklich verheiratete Hermine Ryan aus den USA, die sie zu ihrer »zweiten Heimat« machen wollte. Das klappte jedoch nicht ganz.
Das Simon Wiesenthal-Zentrum zählt Braunsteiner zu seinen wichtigsten Fällen. Es waren drei Überlebende, deren Erzählungen über »die Stute von Majdanek« die Aufarbeitung des Falls ins Rollen brachte. Simon Wiesenthal hatte die ehemaligen Häftlinge in Israel getroffen und von der besonderen Grausamkeit der wegen ihrer Stiefeltritte und Peitschenhiebe »Kobyla« (dt. Stute) genannten Aufseherin gehört. Wiesenthal fand heraus, dass Braunsteiner lediglich für ihre Taten im KZ Ravensbrück, aber nicht für das Morden in Majdanek verurteilt worden war, und dass sie inzwischen als Hausfrau im New Yorker Stadtteil Queens lebte.
Legendär wurde der auf Hinweise von Wiesenthal zustande gekommene Hausbesuch des Korrespondenten der New York Times, der die ahnungslose Braunsteiner überrumpelte, sie mit den Vorwürfen konfrontierte und darüber seinen aufsehenerregenden Bericht mit dem Titel »Ehemalige KZ-Aufseherin, heute Hausfrau in Queens« veröffentlichte. Damit wuchs der Druck auf die Behörden, tätig zu werden. 1973 wurde Braunsteiner im Vorfeld des Düsseldorfer Majdanek-Prozesses von den US-amerikanischen Behörden festgenommen und in Untersuchungshaft gebracht. Hier schrieb sie den Brief an Hilde Sch., hier ließ ihr »fester Glaube an den Herrgott und eine Gerechtigkeit« die »große Hoffnung (freizukommen, H. K. R.) nicht sinken«.

»Während über Braunsteiners männliche Kollegen aus den unterschiedlichsten Tatzusammenhängen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik vielfältige Erkenntnisse vorliegen, mangelt es an aussagekräftigen Quellen über Täterinnen«, kommentiert Martin Cüppers, Historiker an der für NS-Täterforschung bekannt gewordenen Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart, die gefundenen Briefe und Bilder. »Fotos und Weihnachtskarte vermitteln einen Eindruck davon, wie unbekümmert die grausame Aufseherin nach 1945 ihr Privatleben genoss. Der Brief aus der Haft belegt, dass sie sich nach der Festnahme wie viele andere Naziverbrecher verhielt. Die Tatvorwürfe waren in ihren Augen späte und ungerechte Konstruktionen der Bundesrepublik. Dahinter vermutete sie, noch immer ganz Antisemitin, die Juden, und so fabuliert sie ausdrücklich von ›Druck und Geldmacht der beliebten Rasse‹.«
Opern hörende Nazis, Babys knuddelnde Nazifrauen, Nazis vor Bergkulissen und in Liegestühlen, man kennt diese Bilder tausendfach und findet die Fallhöhe des Menschlichen dann doch immer wieder frappierend. Was sagen die Bilder aber aus? Cüppers betont, dass Nazikarrieren wie die Braunsteiners nicht allein mit allgemeiner »Beflissenheit« oder »dem Bösen« zu erklären sind, sondern von einem »Bündel an Motiven« angetrieben wurden. »Dazu gehörte das Einverständnis mit der Bandbreite der NS-Ideologie und, wie die Täterin im Brief eigens hervorhebt, vor allem ihr Judenhass.«
Eine Kate Winslet, die ihren Dienst mit übertriebenem Pflichtgefühl zwar, aber völlig ideologiefrei tat und nie ein böses Wort über die Juden verlor, ist Hermine Braunsteiner nicht gewesen.

»Mit dem Brief«, erinnert sich Renate W., »ist die Verbindung zwischen meiner Mutter und Frau Braunsteiner abgerissen. Meine Mutter hat ihr nicht mehr geantwortet. ›Was da alles drinsteht‹, hat sie gesagt, ›das ist unmenschlich.‹« Ihre Mutter sei abgestoßen gewesen von der Freundin, die sich als Verbrecherin entpuppt habe, sagt Renate W. Sie findet es gut und auch couragiert, dass ihr Sohn den Brief öffentlich macht. Ob seine Großmutter das gewollt hätte, weiß Benjamin W. nicht zu sagen. Er will die Dokumente der Forschung zur Verfügung stellen.