Ein Suchtstoff namens Gerhard

Berlin Beatet Bestes. Folge 181. Lille Gerhard: Iwan Iwanowitsch (1961).

Süchtig zu sein, ist nicht immer schlecht. Zum Glück rauche ich nicht, trinke nicht, nehme keine Drogen, keine Medikamente und bin auch nicht spielsüchtig, aber süchtig bin ich dennoch: Ich bin tanzsüchtig und sammelsüchtig. Wenn ich ein paar Tage nicht getanzt habe, werde ich unruhig. Ich suche dann irgendeine Swingtanzveranstaltung und fahre mit dem Fahrrad durch Frost, Schnee und Regen, nur um wieder dieses schwebende Gefühl zu bekommen. Es ist definitiv eine Sucht und ich zeige auch tatsächlich Symptome von Abhängigkeit. Aber: Bisher halte ich diese Sucht für gesund. Meine Knie machen noch mit, weil ich zwischendurch immer wieder tagelang Pausen einlege, und so­zial habe ich mich auch noch nicht komplett in der Tanzszene verloren, weil ich noch genug Leute außerhalb der Szene treffe. Ich bin und fühle mich auch körperlich fitter als noch vor zwei Jahren. Ein mehrstündiger Tanzabend erschöpft mich nicht vollständig und ich muss nur selten einer Tanzpartnerin einen Korb geben, weil ich außer Atem bin. Eigentlich sehe ich keinen Grund, diese Sucht aufzugeben.
Mit der Sammelsucht sieht es schon etwas anders aus. Auch hier spüre ich regelmäßig Unruhe, die mich aus dem Haus treibt. Ich liebe es, eine Platte zu finden, die ich noch nie gesehen habe, und Musik zu hören, die noch kaum jemand sonst gehört hat oder die vor Jahrzehnten vergessen wurde. Schallplatten, diese kunstfertig gemachten Objekte, können mich immer wieder aufs Neue inspirieren und begeistern. Aber meine Impulse sind leicht aus dem Ruder gelaufen. So wie ein Raucher, der ans Rauchen denkt, sobald er von weitem eine Zigarette sieht, bekomme ich schon Lust, Platten zu kaufen, sobald ich auch nur die Zeichnung einer Schallplatte sehe. Erschwerend kommt hinzu, dass ich bereits seit über 30 Jahren ohne Unterbrechung süchtig bin. Wenn ich dieses Kribbeln verspüre, dann treibt es mich sogar in die übelsten, von den trostlosesten Plattendealern geführte Geschäfte. Die schlimmste Nebenwirkung dieser Sucht ist aber letztlich das Material. Meine Sammelleidenschaft geht mittlerweile in Richtung Messietum. Noch spielt meine Freundin mit und kommentiert nur gelegentlich den größer werdenden Haufen in der Mitte meines Zimmers. Das Ende ihrer Geduld kann ich aber schon erahnen. Ich muss mich also beeilen, in Kürze einen Teil meiner Sammlung loszuwerden. Nur wohin damit? Ebay? Dauert zu lange. In die Trödelläden, aus denen die Platten stammen? Peinlich. In den Müll? Zu schade. Ich werde wohl reihum gehen. Hauptsache, das Zeug kommt weg.
Währenddessen häufe ich fröhlich weiter an. An dieser Platte konnte ich letzte Woche unmöglich vorbeigehen. Lille Gerhard, der schwedische Elvis, phantasiert von einem russischen Rock’n’Roller namens Iwan Iwanowitsch, der mit der Balalaika Millionär wird. Eine schwedische Originalpressung von 1961. Auf blauem Vinyl! Konnte ich doch unmöglich liegen lassen, oder?