Kritik der Gentrifizierungskritik

Die Kritik aufwerten!

Gentrifizierungskritik ist vielerorts notwendig, differenziert ist sie aber selten. Ökonomischen Fehlentwicklungen sollte nicht mit Kulturalismus begegnet werden.

Man kann das Wort Gentrifizierung ja inzwischen kaum noch hören, geschweige denn besonnen darüber diskutieren. Die immer gleichen Protagonisten tingeln durch das Land, um in kleinen Mieterzentren, Stadtteilbüros oder autonomen Jugendzentren Fachreferate über das liebste Thema der Stadtbewegten zu halten. Eine maritime Erläuterung des Gentrifizierungsbegriffs geht so: Die erste Welle schwappt ein paar Künstler auf der Suche nach Inspiration in abgewirtschaftete Quartiere. Angezogen durch billigen Wohnraum und ein attraktives Kulturprogramm, folgen Studenten mit der zweiten Welle. Das Viertel verändert sich, sein Image wird lichter. Spekulanten wittern die Aufbruchstimmung und surfen daraufhin auf der dritten Welle unmittelbar ins gemachte Nest. Am Ende werden Pioniere, Studenten und – entscheidender noch – die Alteingesessenen aus dem Kiez gespült. Diese vierte Welle ist am brutalsten. Wir kennen den Kreislauf. Wir wissen, dass hippe Viertel kippen können. Uns sind alle Argumente in der Debatte über Gentrifizierung vertraut. Es ist genug gesagt.

Der Hype, nicht nur um bestimmte Viertel, sondern vielmehr um Gentrifizierung als Diskurs, erinnert an die Metamorphose des Neoliberalismus vom ökonomischen Modell zum politischen Kampfbegriff. In gleichem Maße wie der Neoliberalismus heute vielerorts einen »entfesselten« Kapitalismus beschreibt, entsteht der Eindruck, dass unter »Gentrifizierung« in Wahrheit eine moderne Form der Segregation verstanden wird, also die geographische Abbildung von Ungleichheit im Stadtbild. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts hatte die »Chicago School« um Robert E. Park die Stadt als Mosaik unterschiedlicher »moral regions« – Orte mit eigenen Gesetzmäßigkeiten – beschrieben. Städte sind stabil und flexibel genug, um Veränderungen an einem bestimmten Ort an anderer Stelle wieder aufzufangen. Hätte der Ökonom Joseph Schumpeter den Begriff Gentrifizierung gekannt, er hätte von kreativer Zerstörung gesprochen: Hier sinkt ein subkulturelles Flaggschiff, während dort bereits am Bug geschraubt wird. Das eigentliche Problem ist deshalb nicht die Verdrängung der Kreativen. Mit dem Ausverkauf ganzer Stadtteile geht in der Regel der Wegzug der weniger kreativen Stammbevölkerung einher. Ja, das ist dramatisch, doch auch hier funktioniert die Stadt als Katalysator. Was in Hamburg und Berlin noch in Frage gestellt wird, ist in Megacitys wie Mumbai und Teheran längst Allgemeingut: Städte sind enorm belastbar. Niemand wünscht sich globale Elendsviertel, allerdings sollten wir ein wenig mehr auf die Selbstheilungskräfte der Städte vertrauen.

Natürlich muss Wohnen bezahlbar, attraktiv und sozial verträglich sein, doch nichts ist in differenzierten Gesellschaften, in denen der Lebensstil eines Menschen mehr über seine Integration aussagt als seine soziale Position, so relativ wie die Frage danach, »wie wir leben wollen« (Toco­tronic). Stadt, Stadtteil, Kiez und Nachbarschaft sind eben auch Geschmackssache. Freilich wird auch diese Einsicht von Herrschaftsverhältnissen geprägt, denn Geschmack ist normativ, dennoch trügt die »99 Prozent«-Attitüde vieler Gentrifizierungsgegner, deren Forderungen nach kollektiven »Freiräumen« häufig auf unzulässigen Vereinfachungen beruhen. Mit anderen Worten: Die Diskussion um Gentrifizierung selbst schreit nach Aufwertung!
Drei Denkfehler sind charakteristisch für die Gentrifizierungsdebatte. Die gegenwärtige Auseinandersetzung um Gentrifizierung scheint erstens bipolar gestört: auf der einen Seite die Befürworter, also Investoren im Schulterschluss mit Stadtplanern und Kommunalverwaltungen, auf der anderen Seite die Gegner, in diesem Fall lokal unterschiedlich organisierte Stadtteilbewegungen. Deren Forderung nach einem »Recht auf Stadt« – eine Hommage an den französischen Soziologen Henri Lefebvre – erklingt jedoch von Hamburg bis New Orleans, was die Bündnisse im Grunde wieder eint. Scheinbar eindeutige Frak­tionsbildungen wie diese sollten nicht nur kritisch in Fragegestellt werden, sie laufen auf eine poli­tische Pattsituation hinaus und fordern einen nüchternen dritten Blick auf Gentrifizierung förmlich heraus.
Zweitens wird das globalisierte Stadtquartier in der Debatte über Gentrifizierung vor allem von deren Kritikern kulturalistisch überhöht. Der Kiez wird semantisch wieder als Gemeinwesen konzipiert, er wird zum politischen Kampfterminus, zum Faustpfand gegenüber dem Ausverkauf lokaler Ressourcen und ihrer vermeintlichen Urtümlichkeit. In den Städten wird ein Stellvertreterkonflikt ausgetragen, dessen globale Ursache – sei es der Kapitalismus, der Neoliberalismus oder was auch immer – sich um ein Vielfaches komplexer darstellt, als dass sie in einer kleinräumigen Projektionsfläche eine angemessene seriöse Entsprechung finden könnte.

Klar muss dabei sein, dass es »den« Stadtteil so nicht gibt. Stadtteilgeschichte ist immer die erzählte Geschichte der Bewohner vor Ort, also das Produkt dessen, was die Leute glauben, über ihren Stadtteil zu wissen, bzw. zugespitzt: was sie wissen wollen. Somit wird beispielweise die Eigenlogik ehemaliger Arbeiterstadtteile von Stadtteilbewegungen häufig eher übertrieben dargestellt. Sie bleibt, um mit dem Sozialpsychologen Harald Welzer zu sprechen, Produkt des »kollektiven Gedächtnisses« der Leute. So gesehen dient der fiktive Eigensinn eines Stadtteils als politische Legitimation des Kampfes gegen angebliche »Eindringlinge«. Wohl gemerkt: Hier soll nicht der Immobilienspekulation das Wort geredet, sondern dafür plädiert werden, dass ökonomische Fehlentwicklungen nicht kulturalistisch pariert, sondern auf sozialpolitischer Grundlage problematisiert werden. Die These ist so schlicht wie einleuchtend: Will Gentrifizierungskritik mehr sein als ein lokaler Abwehrreflex gegen das Immobilienkapital, muss sie sich auf ihre sozioökonomischen Argumente konzentrieren. Der kulturelle Common Sense der Debatte muss vom Ökonomischen getrennt werden. Anders formuliert: Die soziokulturelle Ideologie der Gentrifizierungsgegner konterkariert ihre berechtigten sozioökonomischen Argumente. Die unreflektierte, in ihrem Kern xenophobe Praxis vieler Stadtteilaktivisten führt hingegen zu drastischen, gleichwohl erwartbaren Resultaten: Peinlich wird der lokale Antiimperialismus als Farce entlarvt, wenn sich im Nachherein herausstellt, dass die angezündete Nobelkarosse keinem »Multi«, sondern einem türkischen Migranten gehörte.
Auch viele Künstler und Intellektuelle scheinen nicht zu reflektieren, dass die Problematisierung heute zunehmend verräumlichter sozialer Konflikte vielerorts mit einer reflexhaften politischen Fixierung auf »das Lokale« einhergeht. Eine fiktive Initiative »Recht auf Dorf« würde aus dem gleichen Selbstverständnis heraus argumentieren wie das Hamburger Aktionsbündnis »Recht auf Stadt«, nur dass Forderungen nach »nichtkommerziellen Freiräumen«, »Vergesellschaftung von Immobilien« oder »Erhaltung von öffentlichen Grünflächen« nun politisch einen faden Beigeschmack bekämen. Die Formulierung von räumlichen Grundrechten entspricht den Reproduktionsbedingungen globalisierter und differenzierter Gesellschaften immer weniger. Sie ist provinziell und konservativ. Im transkulturellen Zeitalter, das die Behauptung von Identität nur noch als Hybris zulässt, als flexible und mehrfach ver­ortete Konstruktion, ist auch »Raum« nicht länger statisch. Wer dennoch meint, räumliche Identität formulieren zu müssen, soll aufs Land ziehen. In metropolitanen Kontexten kennt »Heimat« keine physischen Grenzen.
Aus den hier skizzierten Reflexionen kann drittens die Forderung nach einer differenzierten Stadtkritik abgeleitet werden. Einer Kritik, die Denkanstöße gibt, ohne zu moralisieren. Fremden Trolleys gegenüber ist sie so offen wie den Menschen, die sie hinter sich herziehen. Stadtentwicklung ist ein gesamtstädtischer Prozess, und die Ursachen innerstädtischer Wanderungsbewegungen müssen nicht zwingend in der schleichenden »Neoliberalisierung« eines hippen Quartiers liegen. Um eine wirkliche Verdrängung einkommensschwacher Haushalte aus einem Quartier nicht nur belegen, sondern auch tatsächlich auf Gentrifizierung zurückführen zu können, bedarf es gesicherter Daten. Die Demokra­tisierung öffentlicher Räume zu fordern, ist richtig – ihre Begleitung durch eine kosmopolitisch denkende und handelnde Zivilgesellschaft die Voraussetzung.