Die Ausstellung »Matin Scorsese«

Der Archivar packt aus

Von der Familie zum Großformat: In der Deutschen Kinemathek widmet sich eine Ausstellung dem Künstler Martin Scorsese.

Schon als elfjähriger Junge imaginierte sich Martin Scorsese als Hollywood-Regisseur, »The Eternal City« sollte sein Werk heißen, das Genre: ein Sandalenfilm; für die Hauptrollen hatte er keine Geringeren als Richard Burton, Alec Guiness und Robert Taylor vorgesehen. Gut ein Drittel seines minutiös gezeichneten Storyboards, das derzeit in der Ausstellung »Martin Scorsese« im Museum für Film und Fernsehen in Berlin zu sehen ist, geht allein für den Vorspann drauf: »Marsco Production«, »Cinemascope«, »75 mm«, »Directed and produced by Martin Scorsese«, das Symbol eines machtvollen Adlers, umgeben von so genauen Crew-Angaben wie »Special Effects« und »Wardrobe Direction« – eine ebenso großspurige wie charmante Vision.
Zum Großformatigen – mit »The Last Temptation of Christ« (1988) gab es sogar den ersehnten »Sandalenfilm« –, hat sich Scorseses Werk dann ja auch entwickelt, das in seinen Anfängen noch so familiär, intim und geographisch begrenzt war. Sein Abschlussfilm »Who’s That Knocking at My Door« (1967) ist etwa rund um die New Yorker Elizabeth Street in Little Italy angesiedelt, wo Scorsese in den fünfziger Jahren im italienischen Großfamilienverband aus Eltern, Geschwistern, Großeltern, Tanten, Onkeln, Cousins und Cousinen aufgewachsen war – ein kränklicher Junge, der seine Erfahrungen mit dem Film zunächst durch übermäßigen Fernsehkonsum erwarb. »Stadt« und »Familie« sind in Scorseses Filmen kaum zu trennen. Es ist der urbane Mikrokosmos der italienischen Immigranten, der Scorseses Kino zunächst antreibt, die raue Welt der Straßengangs, aber auch das Leben im Schutz- und Repressionsraum Familie: Katholizismus, die italienische »Mamma« (häufig gespielt von Catherine Scorsese, seiner Mutter), lebhafte Tischrunden mit viel Essen, wildem Durcheinandergerede und theatralen Gesten, schließlich die Mafia, in der sich die familiären Strukturen fortsetzen. Über seine Eltern drehte Scorsese später den Dokumentarfilm »Italianamerican« (1974), der beispielhaft die Geschichte einer italienischen Einwandererfamilie im 20. Jahrhundert in den USA erzählt. In dem Film erinnert sich Scorsese etwa an seine sizilianischen Großeltern, die weder Englisch sprachen noch die amerikanische Staatsbürgerschaft erwarben, und daran, wie in der Elisabeth Street Sizilien »nachgebaut« wurde.
Erst in den späteren Filmen weitete sich der Radius vom nachbarschaftlichen Umfeld über die Grenzen Little Italys aus, nach Mid Town und schließlich auch nach Brooklyn und Queens (»Good Fellas«, 1990), bald kommt die zeitliche Ausdehnung hinzu: das historische New York des 19. Jahrhunderts in Filmen wie »Age of Innocence« (1993) und »Gangs of New York« (2002). Diese sehr spezifische New Yorker Geographie, die den Filmemacher nicht zuletzt zum Chronisten der Stadt macht, lässt sich in der Ausstellung an einem Modell nachvollziehen, das alle markierten Drehorte zu einem dichten Netz von Linien verwebt.
Die Ausstellung versammelt rund 600 Exponate, die meisten davon aus der privaten Sammlung des Regisseurs. Scorsese ist ein leidenschaftlicher Sammler und Archivar – beispielhaft ist etwa sein Engagement für den Erhalt des internationalen Filmerbes im Rahmen der von ihm mitbegründeten »The Film Foundation« –, was die Ausstellung zu mehr macht als einer bloßen Werkdokumentation. Das Material ist lebendig (keine Selbstverständlichkeit gerade in Filmausstellungen) und umfasst zahlreiche öffentliche und private Quellen. Zu den Exponaten zählen unter anderem Setfotos, handschriftlich kommentierte Drehbuchauszüge, Kostüme und Requisiten, Briefe, Familienfotos und Filmplakate.
Ein Storyboard, kein fiktives, sondern das zu »Taxi Driver«, initiierte die Werkschau. Zu sehen war es in der Storyboard-Schau vor etwa zwei Jahren – eine Ausstellung, in der einige sehr virtuos gezeichnete Arbeiten gezeigt wurden, von Spezialisten, deren Könnerschaft teilweise sogar an die von Comic-Zeichnern heranreicht. Scorsese gehört sicherlich nicht zu dieser Gruppe, doch seine Storyboards, gezeichnet im Wesentlichen aus hingeworfenen Horizontalen, Diagonalen, Vertikalen und Kreisen, gehören dennoch zu den interessantesten Beispielen ihres Genres, schließlich folgen sie einer perfekten Ökonomie: Alles ist da an Informationen, angefangen von Einstellungsgrößen über Bewegungen und Positionen im Raum bis hin zu Ausstattungsdetails. Im Storyboard zu »Taxi Driver« markiert etwa ein grober Strich in der Mitte des Scheitels de Niros Irokesenschnitt, selbst das Blut sitzt an der richtigen Stelle. Damals reichte ein kurzer Blick in Scorseses Sammlung aus, um eine Ahnung von den dort verborgenen Schätzen zu bekommen – für die gegenwärtige Ausstellung haben die Kuratoren Kristina Jaspers und Nils Warnecke schließlich eine ganze Woche im Archiv verbracht. Gegliedert ist die Werkschau nicht chronologisch, sondern nach allgemeinen Themen wie »Familie«, »Brüder«, »Lonely Heroes«, »New York« bis hin zu den eher technischen Bereichen »Schnitt«, »Musik« und »Kamera«. Sicherlich wäre eine spezifischere motivische Ordnung auch denkbar gewesen, allerdings funktionieren die Exponate ohnehin so themenübergreifend, dass diese auf den ersten Blick etwas unoriginelle Struktur dennoch eine originelle Ausstellung ermöglicht.
Der Sound der Ausstellung, der aus den verschiedenen Videoprojektionen und Filmausschnitten entsteht, ist ein Gemisch aus Jazzklängen, Geräuschen von Boxschlägen, lautem Geschrei und Polizeisirenen. Scorseses filmisches Universum, das ungefähr 50 Titel umfasst, darunter 30 abendfüllende Filme unterschiedlicher Genres (Gangsterfilm, Musical, Thriller, Biopic, Musikfilm, Dokumentation, Melodram, Kinderfilm), gilt als maskulin dominiert; »Alice Doesn’t Live Here Anymore« (1974), einer der wenigen Filme über ein Frauenschicksal, erscheint in diesem Zusammenhang fast wie eine Rarität. Allerdings hat Scorsese auch für die sogenannten Männerfilme immer sehr gute Frauenrollen geschrieben, von Iris in »Taxi Driver« bis Ginger in »Casino« (1995) – Figuren, die sich trotz widriger Umstände in eine Opferrolle nicht fügen wollten. Und auch wenn die Ausstellung ein wenig den Eindruck erweckt, Scorsese habe sich in seinen dokumentarischen Arbeiten ausschließlich für alternde Rockstars wie Bob Dylan, George Harrison und die Rolling Stones interessiert, ist dem mit Sicherheit nicht so. Mit »Public Speaking« (2010) etwa drehte Scorsese ein Porträt über die so unterhaltsame wie bissige New Yorker Autorin und Kolumnistin Fran Lebowitz, die im schwindelerregenden Stakkato ihre Ansichten zu Genderfragen und Rassenkonflikten abfeuert. Einen ganz neuen Blick auf Scorseses Werk eröffnet eine Mehrfachprojektion am Ende des Ausstellungsparcours, die Ausschnitte aus Scorseses Filmen zu einer raumgreifenden Videoinstallation montiert. Von ihrem narrativen Kontext isoliert, wirken die Bilder noch monumentaler und fast artifiziell. Scorseses Kino lässt sich hier in seinen feingliedrigsten Strukturen ­betrachten – ein so intensives wie exzentrisches Zusammenspiel aus Sätzen, Sounds, ­Gesichtern und Blicken, aus Gesten und Bewegungen.

Martin Scorsese, Deutsche Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen, Berlin, läuft noch bis 12. Mai