Vor 30 Jahren kam »Flashdance« in die Kinos

Rocky getanzt

Wenn man verstehen will, warum wir im Sommer Strickstulpen tragen und in heruntergekommenen Fabriketagen ein Künstlerleben führen wollen, muss man diesen Film kennen: Vor 30 Jahren kam der Tanzfilm »Flashdance« in die Kinos.

Der Tanzfilm ist ein weitgehend unterschätztes Genre. Das liegt möglicherweise daran, dass viele ihn völlig zur Unrecht in dieselbe Schublade wie das Musical einordnen. Zwar spielt bei beiden Genres Musik eine zentrale Rolle, und natürlich wird auch in den meisten Musicals getanzt oder zumindest herumgehopst, doch sollte man sich von derlei Oberflächlichkeiten nicht in die Irre führen lassen. Während das Musical im Grunde nichts anderes darstellt als eine an den modernen Massengeschmack angepasste Variante der Operette, ist der Tanzfilm, wie wir ihn seit den Achtzigern kennen, eher so etwas wie der große Bruder des Musikvideos.
Es ist kein Zufall, dass die erste Welle des modernen Tanzfilms nahezu exakt mit den Anfängen von MTV zusammenfällt. Als MTV 1981 auf Sendung ging, zeichnete sich diese Entwicklung durch Filme »Saturday Night Fever« (1977), »Grease« (1978) und »Fame« (1980) zwar bereits ab. Doch erst das Musikfernsehen verhalf dem Tanzfilm zu voller Blüte. Die Tanzszene in einer leerstehenden Fabrik in »Footloose« (1984) etwa ist überdeutlich von der Ästhetik der frühen Musikvideos geprägt, und »Girls Just Want to Have Fun« (1985) verlegt gleich einen großen Teil seiner Handlung in die Tanzshow eines fiktiven Senders namens Dance TV.
Kurz darauf war mit »Dirty Dancing« (1987) bereits das Ende des Hypes erreicht, und das Genre fiel in einen tiefen Winterschlaf, bis Anfang des neuen Jahrtausends mit Kinoproduktionen wie »Save the Last Dance«, »Honey« und »Step Up« der Tanzfilm mit viel HipHop einem Update unterzogen wurde und das Genre auf ein neues Level gehievt werden konnte.
Wirklich begonnen hat all das allerdings vor genau 30 Jahren, im April 1983, als ein Film in die US-amerikanischen Kinos kam, der das Genre prägte wie kein zweiter – »Flashdance«. Die Geschichte einer jungen Frau, die sich mit zwei Jobs herumschlägt und davon träumt, an einer renommierten Tanzschule angenommen zu werden, war vom Plot her vielleicht nur halbwegs originell. Die Umsetzung allerdings war so gelungen, dass die Leute in Scharen in die Kinos strömten. Am Ende des Jahres war »Flashdance« hinter »Die Rückkehr der Jedi-Ritter« und »Zeit der Zärtlichkeit« der dritterfolgreichste Film an den amerikanischen Kinokassen.
Dabei sprach eigentlich nicht wirklich viel für einen Erfolg des Films. Mit Jennifer Beals war die Hauptrolle mit einer bis dahin absolut unbekannten Schauspielerin besetzt worden. Ihr Filmpartner Michael Nouri war zuvor fast ausschließlich in Fernsehfilmen aufgetreten, und auch die anderen Schauspieler und Schauspielerinnen kannte das große Kino meist nur aus der Ferne – mit Ausnahme der großen, alten Lilia Skala, die hier in einer ihrer letzten Rollen zu sehen ist.
Regisseur Adrian Lyne, der vor »Flashdance« überhaupt nur einen einzigen Kinofilm gedreht hatte, war auch nicht gerade eine große Nummer im Filmgeschäft. Allerdings kam er vom Werbefilm, einer Kunstform, die dem Musik­video, das zumindest damals im Grunde nicht viel mehr war als ein kurzer Werbefilm für eine Schallplatte, nicht ganz unähnlich war.
Falls es überhaupt etwas gab, was von vornherein für den Erfolg des Films sprach, dann die Tatsache, dass Irene Cara für den von Giorgio Moroder produzierten Titelsong gewonnen werden konnte, denn immerhin hatte sie bereits bei »Fame« den gleichnamigen Titelsong gesungen und mit der dazugehörigen Single den ersten Platz der britischen Charts belegt. Und tatsächlich bekam »Flashdance … What a Feeling« sowohl einen Oscar als auch einen Golden Globe und erreichte ebenso die Spitze der US-Charts wie das von Michael Sembello gesungene »Maniac«, der zweite zentrale Song des Films. Das Album dazu wurde zudem einer der 15 erfolgreichsten Filmsoundtracks aller Zeiten.
Der große Kunstgriff der Macher von »Flashdance« bestand darin, dass sie einen Weg fanden, gleich mehrere Sequenzen in den Film einzubauen, die im Grunde nichts anderes waren als Musikvideos, sich aber dennoch in die Handlung einfügten, ohne deplatziert zu wirken. Da wäre zum einen natürlich das für damalige Verhältnisse atemberaubende finale Vortanzen, das nicht umsonst später sowohl von Jennifer Lopez als auch von Ex-Spice-Girl Geri Halliwell in Musikvideos kopiert wurde und in dem neben Beals nicht weniger als drei verschiedene Tanzdoubles zu sehen sind – eine professionelle Tänzerin, eine Bodenturnerin und ein männlicher Breakdancer. Da wäre aber auch die legendäre Warm-Up-Szene, in der Jennifer Beals sich schwitzend durch Sembellos »Maniac« tanzt und die einen gehörigen Teil dazu beigetragen haben dürfte, dass der Film in den USA als nicht jugendfrei eingestuft wurde.
Vor allem aber sind da all die Tanzszenen, in denen Beals alias Alexandra Owens oder eine ihrer Kolleginnen in dem Nachtclub Mawby’s als exotic dancers auftreten, um das überwiegend männliche Publikum zu unterhalten. Allerdings wären einem echten Arbeiterklassepublikum der frühen Achtziger ihre stark von New Wave und avantgardistischen Strömungen des Modern Dance inspirierten Tanzeinlagen wahrscheinlich doch etwas zu arty und bei aller Erotik dann doch zu wenig explizit gewesen. Billigen Voyeurismus bedienendes Animiergehampel würde aber zu diesem Film auch gar nicht passen, und noch weniger zu seinen Protagonistinnen, denn im Grunde geht es in dem Film nicht nur um Liebe und um Tanz, sondern vor allen Dingen um eines – um Emanzipation.
Alexandra Owens oder Alex, wie ihr genderneutraler Spitzname lautet, eignet sich wie kaum eine andere Figur des Kinos der achtziger Jahre als rebellisches Role Model. Sie ist jung, weiblich, eine Person of Color, und sie hat offenbar keine saturierte Familie, an die sie sich wenden könnte, wenn sie irgendetwas braucht. Um sich irgendwie durchzuschlagen und ihren Lebensunterhalt zu finanzieren, arbeitet sie nachts im »Mawby’s« und tagsüber als Schweißerin in einem Stahlwerk.
Es ist die Figur Alex mit all ihrer Empathie, ihrer Loyalität gegenüber Freundinnen und Freunden und ihrer selbstbestimmten Sexualität, aber auch deren charmante Darstellerin Jennifer Beals, die es schwer machen, sich dem Sog des Films zu entziehen. Dass Beals später, als ihre Rolle der Belle Porter in der queeren Serie »The L Word« ihrer Karriere eine Fortsetzung bescherte, immer wieder als lautstarke Unterstützerin der LGBT-Community in Erscheinung getreten ist, macht sie nur noch sympathischer. Irgendwie wäre es falsch, wenn eine Schauspielerin, die eine derart starke Frauenrolle gespielt hat, wie es sie selbst heute nur in Ausnahmefällen gibt, nicht ihre Stimme gegen Sexismus und Homophobie erheben würde.
Eine weitere Stärke des Films ist die Darstellung Pittsburghs. Es ist die Steel City mit ihrer Altindustrieromantik, ihrem spröden Charme und ihren unzähligen Brücken, die den Film prägt. Vielleicht ist »Flashdance« für Pittsburgh, was »Rocky« für Philadelphia ist – ein hervorragender, doch vom Feuilleton sträflich unterschätzter Film, der in einer ebenso unterschätzten Stadt spielt und dessen Sozialrealismus eher an das zeitgenössische britische Kino als an die Werke Hollywoods erinnert. Natürlich geht es bei »Rocky« ums Boxen und bei »Flashdance« ums Tanzen, und in beiden Filmen geht es um Liebe und darum, von ganz unten allen Widrigkeiten zum Trotz nach oben zu kommen – der gute, alte American Dream halt. Diese Filme geben aber auch einen realistischen Einblick in den Alltag der working class abseits von New York und Los Angeles. Sie sind wie Bruce Spring­steen und Prince, die auch nicht eben aus Hochburgen der Unterhaltungsindustrie kommen, sondern aus New Jersey beziehungsweise Minneapolis. Sie beide verkörpern, so verschieden sie auch sind, den amerikanischen Traum genauso wie Rocky Balboa oder Alexandra Owens. Doch eigentlich ist der Traum, der in »Rocky« und »Flashdance« geträumt wird, so amerikanisch nun auch wieder nicht. Sein Leben leben, frei und selbstbestimmt, nicht darauf angewiesen sein, als Schläger für einen Kredit­hai zu arbeiten oder aufreizend zu tanzen für irgendwelche Männer in einer dunklen Spelunke, das sollte doch etwas sein, auf das sich alle einigen können.