Über den Umgang mit Homosexuellen in Libanon

Tests der Schande

Der Libanon gilt als das Gay-Paradies des Nahen Ostens. Doch trotz des liberalen Image ist Homosexualität dort verboten und der Staat geht teilweise brutal gegen Schwule vor, insbesondere wenn es darum geht, die Homosexualität »wissenschaftlich« zu prüfen.

»Manchmal machen sie es vor allen anderen Polizisten. Sie sagen dir, wenn du dich weigerst, landest du im Knast. Sobald es losgeht, fangen alle an zu lachen. Es ist sehr erniedrigend.« Der junge Mann, der anonym bleiben möchte, beschreibt, was bei einem Analtest passiert, einer demütigenden Untersuchung des Analbereichs, die das Ziel hat, illegale homosexuelle Handlungen festzustellen.
Wir sind in Beirut, der libanesischen Hauptstadt, die auch als Gay-Hauptstadt des Nahen Ostens bekannt ist. Insbesondere das hippe Viertel Hamra ist in der gesamten Region für sein schrilles Nachtleben berühmt, das allerdings nicht ausschließlich gay ist. Tagsüber kommt man hierher zum Shoppen, abends wimmelt es von jungen Leuten, die meisten von ihnen aus der Upper Class, etwa Studenten, die nach einem Brunch, den Vorlesungen an der Amerikanischen Universität, oder einer Squash-Session die angesagten Lokale besuchen. Hier herrscht der American lifestyle, was dieses Viertel für Homosexuelle, auch aus den streng religiösen Nachbarländern wie Saudi-Arabien, Vereinigte Arabische Emirate und Bahrain, attraktiv macht.
Doch Hamra ist nur eine kleine liberale, gay-friendly Insel in Beirut, der Umgang von Staat und Gesellschaft mit Homosexualität ist im Libanon viel problematischer.
Das wissen die Aktivistinnen und Aktivisten der LGBT-Organisation Helem, die mitten in Hamra ihr Büro hat, sehr gut. Homosexualität ist nicht explizit als Straftat definiert, aber »nach Artikel 534 des Strafgesetzbuchs wird jede Form ›widernatürlichen‹ Verhaltens mit bis zu zwei Jahren Haft bestraft. Wir Homosexuelle sind ständig in Gefahr«, sagt Simon, Mitarbeiter von Helem. Die Organisation setzt sich für die Sichtbarkeit und gegen die Diskriminierung von LGBTs im Libanon ein, sowie gegen die erniedrigenden Behandlungen, etwa die Analtests, die Homosexuelle häufig erleben müssen, und gegen die Repression und Einschüchterung durch Staat und Polizei. Der junge Mann, der seinen Namen nicht nennen möchte, schildert weiter die Ereignisse, die er selbst erlebt hat. »Eines Abends machte die Polizei eine Razzia in einem Lokal, hier in der Nähe, in dem eine Party gefeiert wurde. Es war keine explizite Gay-Bar, Homo-, Heterosexuelle und andere waren dort«, erzählt er und präzisiert: »Ehrlich gesagt schien es den Anwesenden ziemlich egal zu sein, welche Arten der Sexualität dort vertreten waren.« Anders als der Polizei, die in das Lokal reingestürmt sei und Leute willkürlich festgenommen habe: »Ich war unter den Festgenommenen und wurde mit den anderen zur Polizeistation geführt. Dort haben sie mich gefragt, ob ich schwul sei. Ich habe ›nein‹ gesagt, weil ich tatsächlich nicht schwul bin.« Das sei den Beamten nicht genug gewesen, erzählt der junge Mann weiter: »Sie haben mir nicht geglaubt und gesagt, das müsse jetzt geprüft werden.« Die Polizisten hätten dann einen Arzt geholt, der den Test durchführen sollte. »Er sagte, ich soll mir keine Sorgen machen, wenn ich nicht schwul bin, sei alles in Ordnung«, und gleichzeitig habe der Arzt ihm gedroht, »falls ich mich weigere, würde ich in große Schwierigkeiten geraten. Was hätte ich tun sollen? Ich habe mich umgedreht, er hat einen Handschuh angezogen und mir einen Finger in den Anus gesteckt. Schließlich hat er bestätigt, dass ich nicht schwul sei. Ich solle mich glücklich schätzen, dass ich nicht im Gefängnis gelandet sei, haben sie gesagt. Es war furchtbar.«
Das ist eine von vielen Geschichten von Erniedrigung und Diskriminierung, die trotz des liberalen Image des Landes immer wieder stattfinden, auch wenn es seitens der Zivilgesellschaft immer mehr Bestrebungen gibt, das Land hinsichtlich des Umgangs mit LGBTs an die westlichen Standards anzunähern. Fälle von Polizeigewalt gegen sexuelle Minderheiten sind keine Seltenheit, und es ist auch der Arbeit von Organisationen wie Helem zu verdanken, dass diese Vorfälle skandalisiert werden.

Die Razzia in einem als Cruisinglokal bekannten Kino in Bourj Hammoud im August 2012 ist das jüngste Beispiel davon. Bourj Hammoud ist ein Viertel nicht weit vom Stadtzentrum, in dem viele Armenier wohnen, wie man anhand der an den Balkonen hängenden Fahnen sehen kann, aus den unzähligen Restaurants in den schmalen Straßen strömt der Geruch der armenischen Fleischgerichte. Das Lokal stand lange im Verdacht, ein Sexkino zu sein. Als die Polizisten hereinkamen und nur Männer im Publikum vorfanden, war dies schon Beweis genug, dass es sich um ein schwules Kino handele, obwohl es nicht gerade üblich ist, dass Frauen Sexkinos besuchen, erst recht nicht in einem arabischen Land, aber auch im aufgeklärten Westen ist das nicht anders. Die 36 Kinobesucher wurden also der Homosexualität verdächtigt, festgenommen und auf die Polizeistation Makhfar Hbeish gebracht, wo bei jedem von ihnen ein Analtest durchgeführt wurde. Das zweifelhafte Ergebnis: Nur sechs der Festgenommenen hätten möglicherweise gleichgeschlechtlichen Sex gehabt. Die anderen wurden entlassen.
Helem und andere Organisationen organisierten öffentliche Kundgebungen gegen die Willkür und die diskriminierende und menschenunwürdige Behandlung durch die libanesische Polizei, auch in TV-Talkshows wurden die Razzia und allgemein der Umgang mit Homosexuellen in der Gesellschaft thematisiert. Es wurde öffentlich und teilweise sehr kritisch über die staatliche Politik diskutiert. Das ging so weit, dass Justizminister Shakib Qortbawi zunächst die politischen Parteien dazu aufrief, die Praxis der Analtests zu »überdenken«, und wenig später stimmte das Parlament dafür, dass diese Tests künftig nicht mehr als »entscheidender Beweis« für die Homosexualität einer Person gelten sollen. Abgeschafft sind sie zwar noch nicht, wie die LGBT-Aktivisten es sich wünschen, »aber es war ein kleiner Sieg«, sagt Simon. »Die Polizisten können weiterhin solche Tests durchführen lassen, wenn sie wollen, deshalb war und bleibt unser Ziel weiterhin die endgültige Abschaffung des Artikels 534.«
Es mag ein kleiner Sieg gewesen sein, aber er ist der Beweis dafür, dass sich in der öffentlichen Debatte etwas verändert. Davon ist Ziad, der Verantwortliche für die Kommunikation der NGO Alef – Act for Human Rights, fest überzeugt und schildert einen Vorfall, der in seinen Augen in direkter Verbindung mit der Razzia steht: »Einige Tage vor der Razzia in Bourj Hammoud hatte ein bekannter MTV-Moderator heftige homophobe Äußerungen gemacht und Schwule als widernatürliche Personen definiert.« Die Rede ist hier von Joe Maalouf, der in einer Show auf MTV Ende Juni mehrmals gegen den angeblich »unmoralischen Lebenswandel« von Homosexuellen in Libanon hetzte. So forderte er in seiner Sendung die Polizei auf, etwas gegen die »Unzucht und Prostitution der Perversen« an Orten wie Sexkinos zu unternehmen. Maalouf beteuert zwar, er habe kein bestimmtes Kino gemeint, allerdings sehen viele in seinen Aussagen den Auslöser für die Polizeiaktion in Bourj Hammoud. Maalouf habe ausgesprochen, was die Mehrheit in der Gesellschaft denke, »so kann man sagen, dass die Razzia irgendwie angekündigt war. Aber seitdem hat man begonnen, öffentlich über Homophobie zu diskutieren.« Das sei mit Sicherheit NGOs und LGBT-Aktivisten zu verdanken, aber auch einigen libanesischen Intellektuellen und einigen Vertretern der aufgeklärten, liberalen Bourgeoisie. »Nicht nur der Justizminister hat sich kritisch über diese Tests geäußert. Der Ärzteverband hat gefordert, die Analtests abzuschaffen, und sie als illegal, unwissenschaftlich und unseriös bezeichnet. Und dann sind viele Menschen dagegen auf die Straße gegangen«, sagt Ziad und fügt hinzu: »Bis vor zehn Jahren wäre dies in Libanon vollkommen undenkbar gewesen.« Klassenunterschiede in der Gesellschaft spielten in Hinblick auf Homophobie und Polizeiwillkür ein große Rolle, weiß Ziad: »Homosexualität ist ein Verbrechen nur für die Ärmsten.«

Das bestätigt auch Munhir Sleiman, Richter aus Batroun, einer wohlhabenden, für ihre Strände bekannten Kleinstadt an der nördlichen Küste von Beirut. »Kaum jemand aus der Mittel- oder Oberschicht wird wegen Homosexualität angeklagt und dem öffentlichen Hohn ausgesetzt werden«, sagt der Richter, der 2009 bei einem Prozess wegen Homosexualität in Tripoli ein historisches Urteil sprach. Nicht nur sprach Sleiman alle sechs Angeklagten frei, er begründete sein Urteil damit, dass das Gesetz nicht deutlich definiere, was »widernatürlich« sei, einvernehmliche gleichgeschlechtliche Beziehungen könnten daher nicht »wider die Natur« sein und daher auch nicht nach Artikel 534 verboten werden. Die Urteilsbegründung sorgte für Aufsehen, zumal Tripoli, die zweitgrößte Stadt des Landes, deutlich stärker vom sunnitischen Islam geprägt ist. »Ich habe einfach logisch gedacht«, erzählt der Richter, »wie können wir bestimmen, was widernatürlich ist? Ist es eine Frage der Mehrheit? Wenn Homosexuelle in Zukunft die Mehrheit werden sollten, ist dann der heterosexuelle Geschlechtsverkehr ein Akt gegen die Natur? Ich habe diese Männer dazu ermutigt, sich nicht dafür zu schämen, wie sie sind.«
Der Prozess gegen die sechs Männer in Tripoli gilt als einer der Höhepunkte der Verfolgung von Homosexuellen im Libanon, er zeigte aber auch, dass es mit der gesellschaftlichen Akzeptanz sexueller Minderheiten nicht gerade gut bestellt ist. »Die Massenverhaftung in Bourj Hammoud war ein klarer Fall von Polizeigewalt«, sagt etwa Nizaar Sahrie, einer der Anwälte, der die Angeklagten der Razzia im Kino verteidigt. »Zum Prozess in Tripoli war es hingegen gekommen, weil die Einwohner der Stadt die Männer wegen Verdacht auf Homosexualität angezeigt hatten.« Auch er hat immer wieder erfahren müssen, dass zumeist Menschen aus der Unterschicht zu den Opfern von Diskriminierung und Polizeigewalt gehören. Gemeinsam mit den Aktivisten von Helem engagiert sich Sahrie nicht nur juristisch für die Rechte von LGBTs, sondern auch als Menschenrechtler: Er hat Demonstrationen und Pressekonferenzen, insbesondere gegen die Analtests, organisiert. Er gehört zudem zur Bewegung für die Abschaffung von Artikel 534, aber er ist im Hinblick darauf nicht besonders optimistisch: »Die libanesische Gesellschaft ist sehr gespalten. Der Libanon gilt irgendwie als Gay-Paradies unter den arabischen Ländern. Gleichzeitig ist Homophobie sehr verbreitet, aber wenn es um die Analtests geht, sprechen sich die meisten Leute dagegen aus.« Das Problem sei, dass »das jetzige Parlament weit davon entfernt ist, irgendetwas zu verabschieden, was gegen die Religion ist«.
Die Bezeichnung »Tests der Schande« hat sich zwar in der Öffentlichkeit eingebürgert, trotzdem ist die Meinung, Analtests könnten den wissenschaftlichen Beweis für Homosexualität liefern, um dann Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung zu verfolgen, sehr verbreitet. Dass es sich um eine menschenunwürdige Praxis handelt, daran besteht allerdings kein Zweifel.
»Das Gesetz sieht drei Methoden vor, die Untersuchung durchzuführen«, sagt Dr. Sami Kawass, der diese Tests für die Polizei häufig vornehmen musste, und daher in der LGBT-Community nicht gerade beliebt ist, obwohl er diese Praxis heute ausdrücklich kritisiert. »Man kann manuell vorgehen, dann kann man eine Sonde zur Messung der Öffnung des Schließmuskels benutzen und schließlich kann man ein Foto des Anus machen, um dessen Ausdehnung zu prüfen«, erläutert er sachlich. Die Männer, die dazu gezwungen werden, den Test zu machen nennt Dr. Kawass »Patienten«. »Ich habe viele Analtests durchgeführt. Aber ich muss sagen, dass es in den vergangenen Jahren nicht mehr so häufig vorgekommen ist. Glücklicherweise. Im vergangenen Jahr haben wir durchschnittlich einen Test pro Monat durchgeführt, früher hatten wir einen wöchentlichen Rhythmus.« Er scheint erleichtert zu sein angesichts dieser Entwicklung. »Wissen Sie, wir Ärzte können nicht viel tun. Wenn die Polizei uns ruft und wir uns weigern, können wir in einem Prozess angeklagt werden, weil wir Ermittlungen behindert haben. Deshalb müssen wir den Anus der Verdächtigen fotografieren, das ist der Beweis, dass wir unsere Pflicht erfüllt haben.« Dass die Analtests nichts anderes als ein Einschüchterungsmittel sind, weiß Kawass besser als viele andere: »Keiner der Tests, die wir durchführen, hat eine wissenschaftliche Basis. Es gibt keinen Weg, die Homosexualität einer Person nach medizinischen Kriterien festzustellen. Wir sagen das schon immer. Aber keiner hört auf uns.«

Dass nur Männer Opfer solcher Tests werden, während Lesben weniger verfolgt werden, heißt nicht, dass weibliche Homosexualität akzeptierter wäre als die männliche, und hat vielmehr mit dem Kult der Männlichkeit in einer von Machismus zutiefst geprägten Gesellschaft zu tun – einer patriarchalen Gesellschaft, in der Männer wegen Homosexualität öffentlich angeprangert werden und Frauen eher im Stillen zu Jungfräulichkeitstests gezwungen werden. Junge Frauen werden nicht von der Polizei zu Hause abgeholt und wegen »Nichtjungfräulichkeit« angeklagt, sondern von den eigenen Familien, für die es eine Frage der Ehre ist, zu Untersuchungen gezwungen. In sehr frommen Familien hat der Test den Status eines religiösen Rituals, er ist faktisch eine Vorbedingung für die Eheschließung. Die Familie des Bräutigams verlangt ihn in der Regel, aber auch die Familie der Braut kann ihn ungefragt durchführen lassen. Die Frau, die den Test nicht besteht, muss zwar keine Gefängnisstrafe fürchten, sie wird aber gesellschaftlich auf immer gebrandmarkt, und es macht keinen Unterschied, ob die Jungfräulichkeit etwa aufgrund einer Vergewaltigung »verloren« worden ist.
Der religiöse Fundamentalismus und der Machismus in der Gesellschaft können nur von engagierten Menschen infrage gestellt werden, und von Menschen, die in der Position sind, von innen etwas zu verändern, wie Richter Sleiman, der zum Abschluss eine Anekdote erzählt: »Als ich sagte, dass Artikel 534 nicht auf die Homosexualität angewandt werden kann, wurde ich gefragt: ›Auf was sollen wir ihn denn sonst anwenden?‹, worauf ich antwortete, die Aufgabe eines Richters ist es nicht, Fälle für ein bestehendes Gesetz zu finden, sondern das Gesetz auf einzelne Fälle abzustimmen.« Wenn die libanesischen Politiker Gesetze nach diesem Prinzip verabschieden würden, wäre man vielleicht ein Stück weiter.

Aus dem Italienischen von Federica Matteoni