Christian Marazzi im Gespräch über die Zukunft der Eurozone und Deutschland als Feindbild

»Austerität ist eine Ideologie«

Sein Buch »Verbranntes Geld« (Diaphanes, 2011) wurde als »das Buch zur Krise« bezeichnet. Darin analysiert der Politologe und Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Lugano die Finanzialisierung der Wirtschaft und die Ursachen und Folgen der Schuldenkrise. Mit der Jungle World sprach er über die Spaltung der Eurozone, das Feindbild Merkel und Widerstandstrategien gegen Krise.

George Soros sagte vergangene Woche, Deutschland habe zwei Optionen, entweder Eurobonds einzuführen oder die Eurozone zu verlassen. Halten Sie das für eine Provokation oder ist das ein realistisches Szenario?
Es ist nicht das erste Mal, dass von einem Austritt Deutschlands geredet wird. Ich sage seit langer Zeit, dass dieses Szenario zwar nicht unmittelbar bevorsteht, aber durchaus möglich ist. Denn die Widersprüche innerhalb der Eurozone verschärfen, die Wachstumsraten in den Euro-Ländern sind sehr unterschiedlich. Das europäische Krisenmangement hat bisher nicht die erhofften Resultate erbracht, sondern eine Spirale in Gang gesetzt, die dazu führt, dass die nördlichen Euro-Länder immer öfter eingreifen müssen, um die südlichen Länder vor dem Bankrott zu bewahren. Diese Dynamik wird die inneren Spannungen in den nördlichen Ländern verschärfen, insbesondere in Deutschland, wo man denkt und auch immer lauter sagt: »Wir haben schon zu viel gegeben!« Die Idee, Deutschland dazu zu bewegen, Eurobonds einzuführen, ist ein Versuch, Druck von außen auf eine Situation auszuüben, die nicht mehr so stabil ist. Die Gründung der deutschen Anti-Euro-Partei ist dafür bezeichnend. Auch wenn die Politik der EZB seit 2011 darauf ausgerichtet ist, den Euro zu retten, schließe ich nicht aus, dass die internen Spannungen zu einer Spaltung Europas führen könnten.
Was würde das konkret bedeuten?
Eine Rückkehr zur D-Mark oder die Einführung zweier Währungen – eines stärkeren und eines schwächeren Euro – mit einer Orientierung des nennen wir ihn deutschen Blocks Richtung China und Russland. Der andere Block, mit Frankreich, Italien und den schwächeren Euro-Ländern, würde sich an den USA orientieren. Es wäre das, was ich die Enteuropäisierung Europas genannt habe.
Soros ist nicht der einzige, der behauptet, Eurobonds hätten für die verschuldeten Länder eine positive Wirkung und würden die Gefahr des Staatsbankrotts bannen. Sind Eurobonds wirklich das Wundermittel gegen die Schuldenkrise?
Das sind sie für die verschuldeten Länder, weil Eurobonds eine Mutualisierung der souveränen Schulden bedeuten würden. Für Deutschland sieht es anders aus, denn die Einführung einer Euro-Anleihe würde auch einen gemeinsamen Zinssatz für alle Euro-Staaten bedeuten, was für Deutschland unvermeidlich eine Erhöhung der Zinsbelastung bringen würde. Kein Wunder, dass die Bundesregierung sich dagegen sperrt, zumal auch Deutschland sich nicht gerade in einer Wachstumsphase befindet. Der deutsche Widerstand zeigt deutlich, dass die Eurozone stark von na­tionalen Interessen beeinflusst wird, sich also nicht in Richtung einer Vergemeinschaftung der Schulden bewegt, sondern in die entgegengesetzte Richtung.
Sie haben im Zusammenhang mit der Verwaltung der souveränen Schulden von einer Renationalisierung gesprochen. Welche politischen Folgen hat dieser Prozess?
Das haben wir in den vergangenen Wochen während der sogenannten Zypern-Krise gesehen. Diese war ein weiterer Schritt in die Richtung, die aus den Dynamiken der europäischen und weltweiten Finanzmärkte resultierenden Problemen national zu lösen. Zypern war ein ernster Präzedenzfall. Man ist noch weiter in die Richtung einer Renationalisierung gegangen, was nichts anderes bedeutet als eine Fragmentierung der Eurozone. Dabei ist allen klar, dass man den anderen Weg gehen sollte, wenn man den Euro retten will.
Im vergangenen Jahr hat sich die Kritik an der Rolle Deutschlands verschärft. Diese kommt nicht nur von Finanzexperten oder von populistischen Politikern aus den sogenannten Krisenländern, die oft nur Ressentiments schüren. Seriöse internationale Zeitungen berichten immer kritischer über die deutsche Hegemonie. Der Guardian etwa greift die »Merkiavellismus«-These des deutschen Soziologen Ulrich Beck auf und warnt vor einem »zu starken Deutschland«. Giorgio Agamben schreibt in Libération sogar von einem »lateinischen Reich« als einm Mittel gegen die deutsche Dominanz. Was halten Sie von solchen Gedanken?
Ich finde sie angesichts der deutschen Austeritätspolitik verständlich, halte sie aber für gefährlich und grundsätzlich falsch, weil sie in vielen Fällen die Realität vereinfachen, oder, genauer gesagt, sie können missbraucht werden, um politische Propaganda zu machen, etwa die Karikaturen von Angela Merkel mit Hitler-Bärtchen. Denn erstens, wenn man sich die deutschen Verhältnisse genauer anschaut, sind die Verantwortlichen für das gefürchtete »deutsche Modell«, also das, was die Bundesregierung heute anderen europäischen Ländern aufzwingen will – dabei wird oft von einer »Germanisierung Europas« geredet – bei der rot-grünen Koalition zu suchen. Sie hat damals eine Reihe sparpolitischer Maßnahmen und die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes mit den Hartz-Reformen eingeführt. Zweitens wird bei dieser nur auf Deutschland zielenden Kritik ein sehr wichtiger Aspekt ausgeblendet, nämlich die Finanzialisierung der Wirtschaft, die Deutschland und alle Krisenländer gleichermaßen betrifft. Wenn man unbedingt einen Sündenbock finden will, sollte man ihn lieber im Finanzkapitalismus suchen. Es ist unbestritten, dass Deutschland von der Einführung des Euro, die von einer am Ordoliberalismus orientierten Wirtschaftspolitik begleitet wurde, profitiert hat. Aber eine ähnliche Politik haben sozialdemokratische Regierungen auch in anderen europäischen Ländern betrieben, etwa in Frankreich und Italien. Schließlich finde ich, dass diese Deutschland-Kritik, die mit dem Finger auf eine Person zeigt, in diesem Fall Angela Merkel, unangenehme politische Folgen haben könnte, die Wahlen in Griechenland und Italien haben das gezeigt. Anstatt über ein lateinisches Reich nachzudenken, sollte man sich lieber über eine europaweite soziale Bewegung gegen den Finanzkapitalismus Gedanken machen. Es ist die Schwäche der europäischen sozialen Bewegungen, die dazu führt, dass Deutschland dämonisiert wird. Aber das Deutschland-Problem ist ein europäisches Problem.
Wird die Politik Angela Merkels also zu Unrecht kritisiert?
Die von vielen Seiten geäußerten Kritik an der deutschen Haltung des Klassenbesten, der nach dem Motto agiert: »Wir haben schon gespart und unsere Wirtschaft in den Griff bekommen, jetzt sind andere dran«, ist richtig, aber sie greift zu kurz und trägt außerdem dazu bei, dass sich auch in Deutschland eine viktimisierende Haltung durchsetzt, die aggressive Gegenreaktionen auslösen kann – natürlich auf der diskursiven Ebene. Ich kann mir vorstellen, dass, je näher die Bundestagswahlen rücken, der Ton umso rauer wird. Die reißerische Titelseite des Spiegel diese Woche (»Die Armutslüge. Wie Europas Krisenländer ihre Vermögen verstecken«, Anm. d. Red.) ist ein Beispiel dafür. Ein weiterer problematischer Aspekt dieser Debatte über die Rolle Deutschlands in Europa ist, dass sie hoch moralisierend geführt wird, und zwar von allen Seiten.
Austerität ist mittlerweile zu einem Begriff geworden, der mehr bezeichnet als eine rein ökonomische Strategie des Krisenmanagement.
Absolut. Der Begriff der Austerität ist heute auch ein Problem der diskursiven Ordnung, eine Ideologie geworden, damit gewinnt oder verliert man Wahlen. Es geht noch tiefer, und das gilt auch für den Begriff der Schulden, wie etwa David Grae­ber und Maurizio Lazzarato in ihren Büchern analysieren. Die Folgen dieser Krise können nicht nur aus einer finanziellen, rein rechnerischen Perspektive betrachtet werden, die Krise hat auch eine anthropologische Dimension bekommen. Denn die aktuellen Austeritätsmaßnamen beeinflussen in den Krisenländern das materielle Leben, den konkreten Alltag der Menschen. Wenn das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit zu einem Verhältnis zwischen Schuldnern und Gläubigern wird, setzt sich ein Herrschaftsdispositiv in Gang, das Subjektivitäten produziert.
Sie haben Lazzarato erwähnt, der in »Die Fabrik des verschuldeten Menschen« die Krise als Machtverhältnis, als ökonomischen, politischen und subjektiven Zustand untersucht. Können sich aus dieser Analyse Widerstandsstrategien entwickeln?
Das ist in meinen Augen wünschenswert, aber schwierig, weil dieses Dispositiv, das mit Begriffen wie Schuld arbeitet, auf die Individuen so einwirkt, dass es die Möglichkeiten des Kollektiven zerstört. Die Frage ist, ob es möglich ist, kollek­tive Interessen zu formulieren und durchzusetzen. Ich sehe derzeit nur in der Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen – nicht als Arbeitslosenhilfe, sondern als Einkommen gegen die Krise, die Armut, die Prekarisierung – ein solches Interesse. Entscheidend ist in meinen Augen, dass sich dieser Widerstand auf europäischer Ebene artikuliert und nicht nur in den Ländern, in denen die Krise zum Alltag geworden ist. Wenn sich zum Beispiel in Deutschland kein Widerstand organisieren lässt, sehe ich kaum Chancen für ein kollektives Handeln gegen die Krise.
Auch die Debatte über das Insolvenzrecht als politische Strategie gegen die Schuldenkrise ist zu unterstützen, aber um ehrlich zu sein, finde ich, dass man an diesem Punkt nicht weitergekommen ist. Als sich die Krise in Griechenland zugespitzt hat, wurde viel über ein Schuldenaudit und illegitime Schulden diskutiert. Die sozialen Bewegungen in Spanien und Italien diskutieren zwar über die Commons, aber wenn es darum geht, was das konkret bedeutet, kommen wir immer auf die Forderung nach einem Grundeinkommen zurück.