Die Experimentalmusikerin Ashley Paul

Impro für alle

Die Experimentalmusikerin Ashley Paul entdeckt den Pop. Für sie sind Songstrukturen und Melodien eine persönliche Revolution.

Der Clash unterschiedlicher Welten liegt unter der Oberfläche. Zwischen verstörendem Saxophonspiel, dem Hang zum Experiment und zur Improvisation auf der einen Seite und der Vorliebe für gesungene Melodien auf der anderen.
»Line the Clouds«, das neue Album der in New York lebenden Experimentalmusikerin Ashley Paul, ist ein sorgfältig verwobenes Geflecht aus grundverschiedenen Ebenen. Bei aller Komplexität vermittelt es ein so einnehmendes Hörerlebnis, dass es sich selbst Personen erschließt, die in ihrer Freizeit nicht nur avantgardistische Musikbildungsveranstaltungen besuchen. Und darin liegt die Leistung dieser Veröffentlichung, genau dieses Unterfangen ist nämlich häufig zum Scheitern verurteilt.
Angesichts von Ashley Pauls Biographie ist die Andeutung von Melodie und klassischer Songform ein geradezu revolutionärer Akt. Statt Boybands verehrte sie als Teenager den Jazz-Saxophonisten Paul Desmond. Sie kommt aus einer Familie, in der ein künstlerischer Beruf zum Standard gehört, und studierte am New England Conservatory in Boston, einer bedeutenden Ausbildungsstätte US-amerikanischer E-Musikkultur. »Ich habe schon mit fünf Jahren davon gesprochen, dass ich Saxophonistin werden möchte – und hatte eine ganz klare Zukunftsvision«, sagt Paul.
Das New England Conservatory ist ein Ort, von dem sie begeistert erzählt, angeblich voller musikalischer Kompetenz und einer inspirierenden Gesellschaft Gleichgesinnter. Dort lernte Paul zwei wichtige Personen ihres jetzigen Lebens kennen: ihren Ehemann Eli Kezler – Soundkünstler und Betreiber von Rel Records –, mit dem sie in unterschiedlichen Projekten Musik macht. Und Anthony Coleman, damals Dozent für Moderne Improvisation, der unter anderem durch seine Kollaboration mit John Zorn beim Konzept der Radical Jewish Culture bekannt wurde. Die kleine Fakultät beschreibt sie so: »Dort studieren Leute, die sich dafür interessieren, musikalische Grenzen zu hinterfragen und Musik zu machen, die nirgendwohin passt.«
Paul kommt also aus einem Milieu, das den Attributen typischer Popsongs eher wenig Begeisterung abgewinnen kann. Nicht nur deshalb fiel es ihr schwer, statt ausschließlich angriffslustiger und schräger Instrumentalklänge eine zurückhaltende Platte mit leisem Gesang aufzunehmen. »Ich war auf fast allen Stationen meines musikalischen Lebens, sei es im Bereich von Jazz und Improvisation oder experimenteller Musik und Noise, die einzige Frau«, so Paul. Und tatsächlich sind auch ihre musikalischen Partner – und davon gibt es eine Menge – zufällig alle männlich. Das Stereotyp weiblicher Gefühligkeit ist unpassend, will eine ernst genommen werden. Paul erklärt: »Ich wollte deswegen immer besonders stark sein. Verletzlichkeit in meiner Musik zuzulassen und mich damit wohlzufühlen, hat eine Weile gebraucht.« Eigentlich wollte sie Saxophon und Klarinette deutlicher in den Vordergrund stellen, doch alles entwickelte sich in die entgegengesetzte Richtung. Dennoch: Selbst wenn Paul der Ansicht ist, sehr songorientiert gearbeitet zu haben, ist das Album nicht gerade eingängig.
Die leitenden Melodieläufe müssen aufmerksam gesucht werden und die langsam fließenden und sehr reduzierten Sounds werden durch verstreut dissonante Klänge und knarzende Saiten gestört. Auch die dezenten Gesangslinien funktionieren eher als weitere Klangquelle denn als tatsächlich greifbare Text­ebene. Es ist eine Platte, die Zeit und Bereitschaft für musikalischen Widerspruch fordert, statt sich dem Strom der neuen Veröffentlichungen anzubiedern. Das Album bietet – nicht zuletzt durch sein sorgfältiges Arrangement die Möglichkeit –, Hörgewohnheiten auf fast mühelose Weise zu verlassen, und ist zugleich Ausdruck von Pauls Ablehnung des Alltags. Nach einem Intermezzo im Anschluss an ihr Studium kehrte sie in die schützenden Wände der Universität zurück. »Ich wollte meine Stimme als Musikerin finden. Dort hatte ich die Möglichkeit, zehn bis zwölf Stunden nur Musik zu machen und Zeit zum Nachdenken zu finden.« Keine Jobs, keine genervten Nachbarn und keine Bekannten, die nach nächsten Schritten und Plänen fragen. Im Gespräch mit ihrer elektronisch arbeitenden Kollegin Holly Herndon sagt Paul: »Musik ist meine Flucht vor der Realität – sie ist das Gegenteil des Alltagslebens, das ich als überfordernd und stressig empfinde. Es ist der einzige Ort, der wirklich mir gehört und den ich extrem beschütze.«
»Line the Clouds« führt an diesen geschützten Ort. In Ashley Pauls abgeschlossenen Arbeits- und Aufnahmeraum, in dem sie alle Ins­trumente – unter anderem Saxophon, Klarinette, präparierte Gitarre, Glocken und Percussion – allein und abseits vorgeschriebener Spielweisen aufgenommen hat. Sämtliche Sounds wurden entweder von ihr oder befreundeten Musikern erzeugt. Ideen entwickeln sich spontan, aus der Improvisation heraus, den Computer verwendet Paul grundsätzlich so wenig wie möglich. Dabei hat es sie einige Überwindung gekostet, die einfachen digitalen Aufnahmemöglichkeiten mit ihrer Arbeitsweise zu kombinieren – Paul begann erst mit Mitte 20 Musik aufzunehmen, außer dem Mastering macht sie alles selbst. Modernen Produktionsweisen, die von Autotune, akkuraten Drumbeats und Perfektionsdrang bestimmt sind, steht sie kritisch gegenüber. »Besonders gefallen mir die Augenblicke im frühen Jazz, in denen die Musiker schräg spielen oder langsamer und wieder schneller werden. Solche Fehler zu erlauben, in ihnen Schönheit und Spannung zu finden, ist mir wichtig.«
Paul spricht in diesem Zusammenhang von Rohheit. Ihr Ziel ist es, momenthafte und intime Aufnahmen zu schaffen, sich abseits der polierten Oberflächen, aber auch der Verweigerung von Melodie zu positionieren. Das Ergebnis von Pauls Realitätsflucht wird so zu einem Statement im Spannungsfeld von Avantgarde und Pop, die Platte liefert ein Beispiel für die gelungene Verschmelzung dieser ansonsten oft sorgfältig getrennten Bereiche. Paul zeigt so, wie inspirierend es sein kann, gewohnte Wege zu verlassen: sowohl den der stumpfen Verweigerung als auch den einlullender Normschönheit.

Ashley Paul: Line the Clouds. Rel Records