Eckhard Henscheids »Denkwürdigkeiten«

Was nicht okay ist

Leuten zuzuhören, die lang und breit von sich selber reden, fällt oft schwer. Bei Eckhard Henscheids »Denkwürdigkeiten« ist das anders.

Autobiographien sind meistens langweilig. Sie erzählen von Dingen, die längst geschehen und, sofern es sich um Erinnerungen halbwegs Prominenter handelt, bereits knapper und unterhaltsamer andernorts nachzulesen sind. Weil sie das wissen, schreiben bedeutende Autoren kaum je ihre Memoiren. Die es taten, sind zu recht für ihren großspurigen Stil und ihre narrative Inkontinenz berüchtigt. Man denke an Jean-Jacques Rousseaus »Bekenntnisse«, eine Fremd­scham erregende Mischung aus stereotypen Onanistenphantasien, vulgärphilosophischem Poesiealbumssalbader und Endlostiraden voller Selbst- und Menschenhass, die nicht von ungefähr als Gründungsdokument moderner Subjektivität gilt. Oder an Goethes »Dichtung und Wahrheit«, jene so stilsichere wie moralisch zweifelhafte Selbstrechtfertigung des berühmtesten Berufsschriftstellers der bürgerlichen Geschichte, in der das traurige Schicksal Prekärer wie Lenz, Kleist und Hölderlin mit wenigen Worten als Kollateralschaden des eigenen, über Hunderte Seiten hinweg organisch vor sich hin wachsenden Lebenslaufs abgehakt wird. Oder gar an die zahllosen Frauenselbsterfahrungsautobiographien, die als Innerlichkeitsnachhall des politischen Feminismus in den achtziger Jahren mit redundanter Akribie unter Beweis stellten, dass die Subjektivität der weiblichen Spätbürgermonaden mindestens ebenso ausgehöhlt und öde ist wie die ihrer männlichen Konkurrenten. Sogar halbwegs gelungene Beiträge zur Memoirengattung, wie die Autobiographien von Thomas Bernhard und Elias Canetti, neigen zur Weitschweifigkeit, was nur deshalb nicht auffällt, weil ihre Autoren ohnehin nie für Lakonie bekannt gewesen sind.
Angesichts dessen nimmt Eckhard Henscheid einen gleich zu Beginn seiner Selbstbiographie »Denkwürdigkeiten. Aus meinem Leben« für sich ein, indem er seinem Buch nicht nur Goethes Sentenz » … und Dichter sind schwatzhaft«, Robert Gernhardts Maxime »Ist der Mensch nicht mehr im Bilde,/bleibt ihm doch die Altersmilde« und Karl Valentins Ausspruch »Alt schon, aber gut«, sondern auch eine selbstkritische Einsicht des längst und leider vergessenen Satirikers Heino Jaeger voranstellt: »Es würde den Rahmen sprengen, würde ich alles erwähnen.« Mit Zitaten arbeitet Henscheid in seiner Autobiographie überhaupt gern, weisen sie doch darauf hin, wie wenig die Menschen sich alleine und wie viel sie »der Sprache« (Karl Kraus) respektive »der Welt« (Arthur Schopenhauer, Axel Springer) zu verdanken haben. So führt Henscheid Friedrich Schleiermachers »Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit von Gott« als etwas an, das auch ihm selbst schon »öfter begegnet« sei, beantwortet die Frage nach der Humorentwicklungsfähigkeit der Deutschen in Rekurs auf einen Aphorismus Franz Josef Strauß’ mit »Ich hab jetzt keine Zahlen bei mir«, nennt ein Musikstück Edvard Griegs in Entlehnung eines Worts von Martin Bangemann »unbezahlbar« und bedient sich mehrfach Boris Beckers berühmter Leitmetapher »mental«. Erprobte Henscheid-Exegeten werden unschwer auf weitere, unmarkierte intertextuelle Bezüge wie »Omina odiosa sunt«, »Quatsch« und »Leute, ich sag’s euch, zieht euch warm an!« stoßen.
Sogar den Umschlag der »Denkwürdigkeiten« hat Henscheid anderswo her. In leicht archaischer Schreibschrift ziehen sich Autorname und Titel über einen dezent hellgrauen Hintergrund. So sahen einst die Simmel & Konsorten-Romane aus, die man als Kind in den Regalen der Tanten und Onkel gefunden hat, während die Verwandten am Kaffeetisch genauso redeten wie die Figuren jener Bücher. Dazu passt die altbackene Fotosammlung in der Mitte der »Denkwürdigkeiten«, die Henscheid in den verschiedenen Phasen seines abwechslungsreichen Werdegangs zeigt: als Baby mit Familie, als Baby mit Teddy, am Flussufer in seiner Heimatstadt Amberg sitzend, beim Musizieren und beim Skilanglauf, in angeregtem Gespräch mit Prominenten wie Herbert Wehner, Egon Bahr und F. W. Bernstein, händehaltend mit seiner Frau Regina vor einem Schild mit der Aufschrift »Trauung – Bitte nicht stören«. Die Bilder atmen allesamt die mollige Piefigkeit früher »Derrick«-Folgen und zeugen von einer Zeit, in der die Langeweile noch irgendwie interessant und der Ernst des Lebens eher albern als tödlich gewesen sein muss. Henscheids Erinnerungsfragmente, chronologisch vage geordnet zwar, sich aber doch immer wieder zerstreuend in Anekdoten, sprachkritische Notizen und Kalauer, sind durchzogen von dem Tonfall, den Namen, Farben und Bildern jener Jahre, die man heute gern als verdientermaßen versunkene Epoche abqualifiziert, in der Deutschland zwar politisch geteilt, aber einheitlich grau, verbiestert und verbiedert gewesen sei. Nur »intermittierend« (Adorno) bricht in Henscheids Buch die bunte, brutal weltoffene und schamlos arschlöcherige Gegenwart des neueren Deutschland ein, nicht zuletzt als »Siegeszug des inzwischen richtig störrisch omnipräsent-multifunktionalen ›okay‹ (gespr. meist ›okee‹, ›oukey‹, ›okai‹ o. ä.)«, ja als die »Okeehaftigkeit des Menschengeschlechts insgesamt«, bei der, so der Autor (einige Barbie-Killer_innen werden ihn schon auf ihre Sexistenliste gesetzt haben), »die Frauen knapp vorndran« marschieren.
Es lohnt sich, bei Henscheids Okay-Kritik noch etwas länger zu verweilen, weil sie mehr über die Jetztzeit aussagt als jeder sogenannte Gegenwartsroman. Das »Teufelsdreckswort« sei, so Henscheid, »ein Passepartout für alles und jedes« geworden, es bedeute nicht einfach nur »geht in Ordnung«, »sowieso«, »genau« und »prima«, sondern auch »aha«, »rede weiter«, »gut so«, »mach schneller« oder eben »okäh«. Dass es »bei schnellquakenden Frauen« sogar bis zu »elfmal« pro Minute vorkomme, auch diese womöglich zweifelhafte Privatstatistik werden die ideellen Teilhabegerechtigkeitsbeauftragten der Nation Henscheid wohl als altsäckige Unbotmäßigkeit ankreiden, statt darüber nachzudenken, was seine Beobachtung aussagt über die Inflation vermeintlich kommunikativer und emotionaler Kompetenzen, die als soft skills und als »weiblich« gelabelte Sozialtechniken mittlerweile jedem abverlangt werden, der nicht als eigenbrödlerisches Fossil aus dem globalen Sprachmüllverkehrsstrom ausgeschlossen werden will. Wo das »okay« nicht mehr nur reflexhafte Affirmation signalisiert, sondern das Gegenüber latent erpresserisch, ja drohend dazu anhält, »weiterzureden« und »schneller zu machen«, kommt die anschmiegsam konformistische Formel als Verbalinjurie zu sich selbst, in der sich der omnipräsente Stress, den alle ebenso ertragen wie einander einreden, rhetorisch fortsetzt und verstärkt. Der populäre Gleichberechtigungsappell, Männer möchten künftig bitte ebenso »weibliche« wie Frauen »männliche« Sozialkompetenzen erwerben, auf dass alle sich besser in die Rollen aller anderen einfühlten, erweist sich angesichts dieser Konvergenz von Verstehens- und Kommandorhetorik als Aufforderung nicht zur glücklichen Aufhebung, sondern zur Liquidation des Unterschieds. Den freilich begreift Henscheid – darin ist er allerdings von gestern – nicht als »konstruiert«, sondern als historisch geworden.
Produkt der gesamtgesellschaftlichen Versoft­skillung sind jene multiflexiblen Teilzeitmonstren, auf deren Namensschildern »Maybrit I.« oder »Fl. Silbereisen« steht und die nur der Vorschein dessen sind, was noch kommen kann, jedoch – auch in seinem moderaten Fortschritts­pessimismus ist Henscheid Derrick näher als Spengler – nicht unbedingt kommen muss: »Mag ja sein, dass wir schon irreversibel auf eine neue Kinder- und Jugendspezies von Futuristischen oder je nachdem Regredierten zusteuern oder längst bei ihnen angelangt sind. Aber sobald man dann realisiert, wie z. B. am 10. Dezember 2010 auf der Weißwiese bei Eglsee sieben Kinder nach Schulschluss bei glitzerndem Sonnenschein in tiefem Pulverschnee mit ihren Schlitten herumwackeln und -kugeln, nicht anders als im Jahr 1550 auf den Bildern von Pieter Brueghel und dann wieder 1840 auf den Federzeichnungen von Ludwig Richter sowie 1950 bei mir, in meiner Kindheit, dann – dann wird vielleicht doch noch alles, alles wieder gut.« Sowas klingt natürlich total nach anno Adenauer und wird von allen, die Henscheid als Junge Freiheit-Autor, Antisemiten (für diesen Vorwurf muss man allerdings seine gelegentlichen Äußerungen über Israel mühsam überlesen) oder zumindest als erzreaktionären Sprachmeckeropa outen wollen, begeistert aufgenommen werden. Tatsächlich haben die Bilder bekannter und vergessener vormoderner Maler, die klassische Musik, die als ästhetische Erfahrung wie als eigenes Handwerk in Henscheids Erinnerungen immer wieder vorkommt, und die Erlebnisse, gemeinsamen Bücher und nicht verwirklichten Pläne mit den übrigen Zugehörigen der Neuen Frankfurter Schule für Henscheid alle den gleichen Rang; das ist seine, mit dem überholten Bildungsbürgertum ebenso wenig wie mit der Popkultur vereinbare Weise, den kulturellen Kanon neu zu ordnen.
Doch für solche Subtilitäten haben sich die »Aufpasser- und Denunzianten-Linken«, unter deren Beobachtung freilich auch die Monatszeitschrift Konkret selbst steht, mit der Henscheid inzwischen über Kreuz liegt, seit jeher ebenso wenig interessiert wie die »Hüschs und Wallraffs und Palästekriegserklärer und Büchnerpreisklassenkämpferhelden«, die für Henscheid nur deshalb zu einer einzigen Feindesfront werden können, weil sie selbst verfolgungsirre sind. Gegenüber ihren mit verkniffenen Lippen ausgestoßenen Fortschritts- und Gesinnungsparolen erweist sich die von Henscheid bemühte Kinderhausmärchenweisheit, alles werde vielleicht doch noch wieder gut, als Glutkern revolutionärer Phantasie. Wer derlei glückliche Kindheitserinnerungen, die jeden Berufsbessermacher und Freiheitserzieher vor Neid in Rage bringen, in der eigenen Reflexion bewahrt hat, wer unter Hinweis auf das knechtende Prinzip der »jederzeitigen Erreichbarkeit« (K. Gasseleder) Handy, Fax und E-Mail mit dem wahrhaft mönchischen Satz »Natürlich besitze ich deshalb nichts dergleichen und werde nie besitzen« verschmäht und sich zum Mitglied im »Dachverband der Ewiggestrigen« erklärt, ohne deshalb wie ein Botho Strauß blasiert in die poetischen Fernen stierend auf graumelierten Fotos zu posieren, ja wer sein Leben lang die quakenden Maybrits ebenso dem Hohn preisgegeben hat wie die raunenden Bothos, wer sich überdies rühmen kann, dass J. Habermas ihm einen »unglücklichen Hang zur Satire« bescheinigt hat, und wer, wie Henscheid es in Entlehung einer Idee Robert Gernhardts tut, Adornos in Grund und Boden zitierte Sentenz in den träumerisches Glück verheißenden Satz »Es gibt kein falsches Leben im richtigen« verzaubert – der darf, kann und wird bei der von manchen noch immer so geduldig wie sehnsüchtig betriebenen Suche nach einer Welt, die endlich schön statt okay wäre, kein schlechter Verbündeter sein.

Eckhard Henscheid: Denkwürdigkeiten. Aus meinem Leben. 1941–2011. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt/Main 2013, 416 Seiten, 22,95 Euro