Gentrifizierung in Paris

Jenseits der Banlieues

In Frankreich führt die Gentrifizierung zur Verdrängung auch der Mittelschicht aus den Innenstädten. Noch vor den Vorstädten siedeln sich nun diejenigen an, die sich die City nicht leisten können, die migrantisch geprägten Banlieues aber meiden.

Gentrifizierung trägt in Frankreich einen allen bekannten Namen: bobos. Dieser Begriff ist die Abkürzung für bourgeois bohèmes und bezeichnet ungefähr die sich sozialromantisch gebenden, besserverdienden Yuppies. Gerne unterstellt man ihnen einen Hang zu Altbauwohnungen in historisch gewachsenen Stadtteilen und eine Vorliebe für ein entwickeltes Kulturleben mit einem multikulturellen Touch. Gefürchtet werden sie aus unterschiedlichen Gründen, in erster Linie jedoch deswegen, weil ihnen nachgesagt wird, dass ihre Anwesenheit die Mietpreise in die Höhe treibe.
In Wirklichkeit hat die Kritik an den bobos oder die naserümpfende und ironische Rede von dieser sozialen Gruppe mindestens zwei Seiten. Auf der Rechten, im weiteren Sinne, dient die Bezeichnung bobos als Kampfbegriff. Aber auch bei den Linken sind sie unbeliebt. Bei ihnen ist die Grundlage dafür eine Kritik an der Umwandlung ganzer Stadtteile, ja vollständiger Städte – begonnen bei Paris – in Luxuszonen, in denen das Wohnen für weite Teile der Bevölkerung schlichtweg unerschwinglich geworden ist. Das Flair von Weltoffenheit, mit dem die besagten Menschen sich gerne umgeben, täuscht aus dieser Sicht nur die über reale Homogenisierung der sozialen Zusammensetzung dieser Wohngebiete und Stadtviertel hinweg, aus denen de facto immer breitere Schichten vertrieben werden.

Aber es gibt auch einen rechten Diskurs, der sich gegen die bobos richtet. Er besagt im Kern, dass der ganze bildungsbürgerliche, auf »Multikulti-Befürwortung« und Toleranz basierende Wertekanon verlogen sei, weil diejenigen, die ihn im Munde führten, keine Ahnung von den Lebensverhältnissen außerhalb ihrer sozial abgeschotteten besseren Viertel hätten. »Für Ausländer« oder gegen Angstmache hinsichtlich angeblich überall grassierender Unsicherheit einzutreten, ist demnach ein typisches Erkennungsmerkmal von Menschen, denen es umso leichter fällt, ­tolerant zu sein, als sie nicht mit den »daraus erwachsenden Problemen« konfrontiert seien. So tönt es aus einem Teil der konservativen Presse, aus dem Mund von rechtspopulistischen Fernsehjournalisten wie Eric Zemmour, aus der ex­tremen Rechten und aus Teilen des Alltagsbewusstseins.
Dieses Phänomen – eine Verteuerung des Lebens in kernstädtischen Zonen in einem Ausmaß, wie es in Berlin noch unvorstellbar ist, und rechte Ressentiments gegen die bobos – spiegelt eine objektive gesellschaftliche Tendenz wider. Diese besteht darin, dass sich in den vergangenen 15 Jahren in Frankreich neue Formen gleichzeitig sozialer und geographischer Mobilität durchgesetzt haben, die sehr oft mit dem Anspruch auf »Durchmischung« und Öffnung zur Welt einhergehen.

Den durch Mangel an sozialem Wohnungsbau sehr verknappten Wohnraum in den Kernzonen urbaner Ballungsräume (und vor allem in Paris) teilen sich Franzosen mit dorthin drängenden Vermögensbesitzern aus China, Japan, Russland, Israel, vom Golf, aus den USA oder von den britischen Inseln. Diese starke Internationalisierung des Wohnungsmarkts, die mit dem Prestige der Stadt zusammenhängt, sorgt für eine weitgehende Entkoppelung von sozialem Bedarf an Wohnraum und zahlungskräftiger Nachfrage. Die Immobilienpreise können so irre sein, wie sie wollen – auch wenn selbst immer größere Teile der Mittelschicht beim besten Willen nicht mehr mithalten können, finden sich doch zahlungswillige Bieter. Dies sorgt für einen sich verschärfenden Verdrängungsprozess: Nachdem seit etwa 1970 die Unterschichten aus Paris hinausgedrängt wurden, hat ein ähnlicher Prozess seit etwa 1997 bis 1999 auch für Teile der Mittelschicht begonnen. Für diese wird nunmehr Platz in den reihum angrenzenden Zonen geschaffen, also in den Banlieues mit ihren früheren Arbeiterstädten und -vierteln. Deren soziale Zusammensetzung wird gründlich verändert. Und dies geschieht mit dem offiziell verkündeten Anspruch, nunmehr endlich der mixité, also der »sozialen Durchmischung« statt rein proletarischer Stadtviertel, zum Durchbruch zu verhelfen.
Das Problem mit der »Durchmischung« ist keineswegs, dass es sie gibt, sondern dass sie immer nur in eine einzige Richtung stattfindet: Ärmere müssen Wohlhabenderen Platz machen. In umgekehrter Richtung ist der Prozess blockiert. Es gab zumindest einen Versuch, dies zu ändern: Ein Gesetz unter dem Namen Loi SRU, das Kürzel steht für »Solidarität und städtische Erneuerung«, wurde 2000 unter dem damals noch der KP angehörenden Wohnungsbauminister Jean-Claude Gayssot angenommen. Es schreibt allen Kommunen vor, auf ihrem Gebiet einen Anteil an sozialem Wohnungsbau von mindestens 20 Prozent des Immobilienbestands zu besitzen. Dies bedeutete für einige reichere Kommunen inklusive Paris, dass sie aufholen mussten. Passiert ist jedoch nicht viel: Viele Rathäuser reicherer Städte ziehen es vor, lieber die in dem Gesetz vorgesehenen Geldstrafen abzuführen, als wirklich eine »soziale Mischung«, in dem Falle nach »unten« hin, vorzunehmen.
Die Zeiten sind längst vorbei, als auch manche als progressiv geltenden Kräfte an einer möglichst starken räumlichen Trennung unterschiedlicher sozialer Klassen und Schichten festhielten. In den sechziger Jahren war die französische KP ebenso wie die bürgerliche Rechte sehr dafür, eine solche Segregation vorzunehmen: Konservative und Liberale wollten Angehörige der Arbeiterklasse aus Paris hinausdrängen – was sie weitgehend schafften –, und die KP ihrerseits wollte jene in von ihr selbst regierten Gemeinden rund um die Stadt konzentriert sehen, um soziale und politische Kontrolle über sie auszuüben. Diese Hoffnung hat sich jedoch längst zerschlagen, zumal aus der Arbeiterklasse oft eine Arbeitslosenklasse wurde.

Das Fußvolk der Rechten und die Stammtische reagieren auf eine andere Art auf die Veränderungen. Sie assoziieren die geforderte »Durchmischung« mit der Präsenz von Nicht-Franzosen und dies wiederum mit der Verdrängung von ärmeren Schichten – nämlich durch zahlungskräftige Ausländer. Oder aber sie beklagen die »Zusammenballung von Problemen« durch nicht so reiche Einwanderer. Daraus leiten sie ein Verhalten ab, das man als Abstimmung mit den Füßen bezeichnen kann. Sie entfliehen dem unbezahlbar werdenden Wohnraum und der Präsenz der gutsituierten bobos in den Innenstädten ebenso wie der Drohung, nunmehr in früheren Arbeiterstädten mit hohem Immigrantenanteil wohnen zu müssen. So siedeln sie sich in einem neuen sozial-geographischen Raum an, der erst seit den späten neunziger Jahren an Bedeutung gewinnt: weiter draußen als die klassischen Banlieues, ganz am Rande der urbanen Ballungsräumen, nicht mehr in fünf oder zehn, sondern in 30 Kilometern Entfernung vom Stadtzentrum. Was diesen Menschen dann noch an kulturellen Angeboten bleibt, ist der Fernseher. Zu Demons­trationen zu gehen, wie es für die Menschen in den Kernstädten mehr oder minder gewöhnlich war, ist für sie ebenso schwer vorstellbar wie das Anzünden von Autos. Mangels »kritischer Masse« wie in den Banlieues mit ihrer starken räumlichen Konzentration von sozialen Problemen würde jegliche Aufmerksamkeit der Medien dafür fehlen.
Dieses »Frankreich, das leidet«, aber nicht zündelt, sondern »unsichtbar bleibt« oder vor dem Fernsehbildschirm zu Hause die Fäuste ballt, wird immer häufiger durch die Beraterinnen und Berater der wichtigsten Politiker und durch Experten beschworen. Entscheidenden Einfluss auf die Umgebung Nicolas Sarkozys hatte in diesem Sinne ein Buch, das von dem als eher links geltenden Geographen Christophe Guilluy verfasst und Ende 2010 veröffentlicht wurde: »Fractures françaises«. Sein Verfasser schildert einen Teil der französischen Bevölkerung, der an vielen sozialen Problemen leidet, aber weder mit kollektiven sozialen Unruhen noch mit klassischen Aktionsformen der Arbeiterbewegung wie Streiks und Demonstrationen reagiert. In einem bislang tendenziell als Niemandsland aufgefassten Raum – weder richtig Stadt noch richtig Land – legten die heutigen Bewohner, so eine der Thesen des Buches, ein starkes symbolisches »Bedürfnis nach Grenzen« an den Tag. Grenzen zum Schutz vor den Verheerungen der kapitalistischen Globalisierung durch die Abwanderung von Fabriken, Grenzen zum Schutz vor der Konkurrenz durch ausländische Arbeitskräfte. Und Grenzen zum Schutz vor jenen Problemen, die die klassischen Banlieues auszeichnen: Unruhen, Kriminalität, starke Konzentration von Einwanderern. Auf dieses »periurbane« Frankreich, so lautet die erklärte Strategie der rechten Parteien von Nicolas Sarkozy bis Marine Le Pen, muss die politische Anstrengung konzentriert werden. Hier vermuten sie die politische Zukunft Frankreichs. Hoffentlich behalten sie Unrecht.