Das neue Album von Dean Blunt

Der Erlöser des Blues

Wer Dean Blunt wirklich ist, weiß der Londoner Musiker nur selbst. Sein neues Album »The Redeemer« entfaltet sich wie ein Epos und lässt Grenzen verschwimmen.

Schon lange gilt Dean Blunt als Geheimtipp. Britische und US-amerikanische Medien überschütteten den Londoner Musiker und seine Band Hype Williams in den vergangenen Jahren mit Lob. Im damals noch wenig gentrifizierten Einwanderer-Stadtteil Hackney geboren, wuchs Dean Blunt in prekären Verhältnissen und ohne die Privilegien eines Universitätsabschlusses auf. Die Armut führte ihn zu einer kurzen Karriere als Boxer, die, wie er einmal erzählte, mit einer großen Menge an Knockout-Erfahrungen einherging. Doch plötzlich, wie so oft, veränderte sich alles: Ihm fiel, nach diversen Gelegenheitsjobs, ein Tape-Recorder in die Hände. Wie ein Süchtiger experimentierte er fortan mit allen erdenklichen künstlerischen Mitteln: er schrieb, nahm Musik auf, zeichnete und modellierte. Ein weißes Londoner Upper-Class-Girl, mit dem er eine Affäre hatte, erklärte ihm schließlich, dass das, was er da mache, »Bildende Kunst« sei. Der Rest ist, wie The Guardian es formulierte, Geschichte.
Die musikalisch wirre Melange von Blunts Band begeistert seit ihrem Bestehen Nerds, Freaks und Hipster gleichermaßen: Electro und New Wave, Trip Hop und catchy Pop-Melodien – Hype Williams passen perfekt in den Schmelztiegel Londons, der sich nach dem Ende des Trip-Hop-Hypes seine Offenheit für hybride Entwürfe bewahrt hat. Die Band trägt, zufällig oder nicht, den Namen des bekanntesten Rap-Musikvideo-Regisseurs der USA. Blunts Name soll genauso erfunden sein wie der seiner russischen Mitmusikerin Inga Copeland. Wie Blunt auf diese traf, ist nicht überliefert. Sie schweigt lieber in Interviews oder erzählt zusammenhanglosen Quatsch. Überhaupt verbreiten die beiden Gerüchte über sich. So ließen sie nicht nur verlauten, dass sie mit ihrer Musik gefüllte USB-Sticks in Äpfel steckten, um sie auf dem Markt in Brixton zu verkaufen – der Dubstep-Producer Kode 9 soll dort ein besonders schönes Exemplar erstanden und dem Szene-Label Hyperdub übergeben haben. Auch von Copelands Bewerbung beim Frauenfußballteam von Arsenal London war zu hören sowie von gemeinsamen Diebstählen von nordamerikanischen Waschbären. Was nachweislich der Wahrheit entspricht: Blunt und Copeland haben eine Weile in Berlin gelebt. Ihr zynisches Fazit: »Berlin ist das größte Kaffeehaus der Welt: Nichts passiert. Ein Fegefeuer für Zugezogene, die in ihren Heimatländern nichts auf die Reihe gekriegt haben.«
Stilistisch zwingender als das eklektizistische, maßlose Werk von Hype Williams sind Blunts Solo-Produktionen, die von der britischen Presse nicht grundlos als Goth-R&B bezeichnet wurden. Man könnte allerdings auch von einer Neuformulierung des Blues mit anderen Mitteln sprechen. Auf seinem jüngsten Mixtape inszenierte er sich eindrucksvoll als »Narcissist«, der in sadomasochistischer Intensität von allen Verhängnissen einer Liebesbeziehung berichtet. Als »Redeemer«, also Erlöser, tritt Blunt nun auf, verzichtet dabei jedoch auf die überzogene Pose des Weltverbesserers. Vielmehr scheint er darauf abzuzielen, sich und seine Hörer mindestens für den Moment von den emotionalen Überwältigungen und täglichen Zumutungen der Welt zu heilen. Das Album klingt mit seiner außergewöhnlichen Dramaturgie abgründig, es entfaltet sich wie ein Epos. Blunt schafft eine gespenstische Dimension, die der britische Autor Marc Fisher mit Jacques Derridas Konzept der Hauntologie beschrieben hat. Fisher erklärt, dass atmosphärische und echolastige Musik wie Dubstep sich von der Rhetorik der Kulturindustrie löse, indem sie weder die Performance ständiger Neuheit imitiere, noch in reine Vergangenheitsbesessenheit verfalle. Stattdessen beschreiben die melancholischen Sounds von Künstlern wie Burial die Unmöglichkeit vollkommener Weltflucht durch Echos und Störgeräusche, die als Rest oder Wunde in der Gegenwart erscheinen.
Mit der Weltabgewandtheit eines Bedroom-Producers bewegt sich Blunt durch alle emotionalen Abgründe und konstruiert fesselnde Minidramen, die mal als kurzes Zwischenspiel, mal als weit ausholende Oden oder freie Formen inszeniert werden. Die Unterscheidung von Track, Song und Interlude wird in diesen expressiven Lo-Fi-Epen aufgelöst, die in ihrer Zerrüttung und Skizzenhaftigkeit eine Chronik der Gefühle entwickeln. Zweifel und Momente des Scheiterns gehören genauso zur Erfahrungswelt Blunts wie Katharsis und Schmerzüberwindung. Zwischen Field-Recordings und bombastischem Glockenläuten, Chören und melodramatischen Streichern, verzerrten Beats und schrägen Gitarren, entfaltet »The Redeemer« seine düstere, neurotische, doch nie ganz hoffnungslose Stimmung. Der britische Musikkritiker David Keenan hat solche rhizomatischen Hörstücke, die einen Raum zwischen Traum und Wachsein eröffnen, »Hypnagogic Pop« genannt. Damit beschreibt er ein neues musikalisches Genre, das auf hypnotische Weise vergangene kulturelle Versatzstücke mit aktuellen kombiniert – eine Art Aktualisierung von Psychedelic.
Blunt bespielt dabei verschiedene vermeintlich weiße Musikstile mit einer aktuellen afro­britischen Grammatik. Es waren Popstars wie Elvis Presley, die den Schwarzen den Blues nahmen, um mit seinen musikalischen Elementen Karriere zu machen. Der inhaltliche Bezug dieser Stile, die individuelles Leid in universelle Töne überführten, Geschichten und Erfahrungen von Ausgrenzung und Kolonialismus erzählten, wurde dabei getilgt. In den letzten Jahren drehten Rapper wie Mos Def und Lil’ Wayne diesen Prozess wieder um. Sie ließen sich mit E-Gitarren ablichten und machten die Rock-Musik – wenn auch wenig überzeugend – für sich fruchtbar. Dean Blunt hingegen hat zu einer eigenen Sprache gefunden, die nicht auf strategische Zitate oder symbolische Aneignungsgesten reduzierbar ist. Vielmehr hat er einen sehr persönlichen und über szenische Distinktion erhabenen Vorschlag formuliert, wie sich die Logik des Blues ohne konservativen Traditionskult aktualisieren lässt.

Dean Blunt: The Redeemer. Hippos in Tanks (Cargo Records)