Ríos Montt ist verurteilt worden

Das Ende der Straflosigkeit

Der ehemalige Diktator Efraín Ríos Montt ist in Guatemala wegen Genozids und Verbrechen gegen die Menschheit zur Höchststrafe verurteilt worden. Der Prozess ist in Lateinamerika einzigartig.

Alvaro sitzt in der ersten Reihe links, ganz nah an der Anklagebank. Er hält ein Buch in der Hand, als sei es die Bibel und er sitze in der Kirche. »Ríos Montt – Diktator oder Diener des Volkes?« steht auf dem Umschlag. »Hier drin steht die Wahrheit über ihn«, sagt Alvaro. Was denn die Wahrheit sei? »Nicht das, was sie über ihn sagen. Er ist ein guter Christ. Und sie müssen ihn freilassen.« Warum er hier sei? »Er hat uns beschützt, heute wollen wir ihn schützen.«
Efraín Ríos Montt, Putschist, Evangelikaler, General, Präsident – und Völkermörder. Am Freitag vergangener Woche endete vor dem Corte Suprema de Justicia (Obersten Gericht) in Guatemala-Stadt der Prozess gegen den heute 86jährigen, der 1982 und 1983 die schlimmsten Massaker des guatemaltekischen Bürgerkriegs an der ländlichen Maya-Bevölkerung verüben ließ. 200 000 Menschen starben insgesamt während des 36jährigen bewaffneten Konflikts. 91 Prozent dieser Tötungen, so hat es später die UN-Wahrheitskommission festgestellt, gehen auf das Konto der Armee. Ríos Montts Regierungszeit gilt als die blutigste Phase des Kriegs.
Die vorderste linke Ecke des Gerichtssaals, in der auch Alvaro sitzt, ist die Sympathisantenecke. Auch Montts Tochter Zury Ríos Sosa ist hier. Etwa 40 Sympathisanten mögen es sein, alle sind hellhäutig, elegant gekleidet, die Frauen stark geschminkt, sie erinnern an die Besetzung einer lateinamerikanischen Telenovela. Doch als Ríos Montt den Gerichtssaal durch eine Seitentür betritt, lassen sie alle Eleganz fahren, sie springen auf, recken die Fäuste. »Es lebe die Armee Guatemalas! Es lebe das guatemaltekische Volk! Es lebe Ríos Montt«, brüllen sie gegen Hunderte Anwesende an, die den ehemaligen Diktator zur gleichen Zeit ausbuhen. Diejenigen, die Ríos Montt hassen, stellen die große Mehrheit im überfüllten Saal.
Es ist das erste Mal, dass ein früherer Präsident Lateinamerikas im eigenen Land wegen Völkermords vor Gericht steht. Und bis zu jenem Freitag voriger Woche hat keine staatliche Stelle in Guatemala je eingeräumt, dass der Feldzug der rechten Generäle gegen die linke Bauernguerilla die Kriterien eines Genozids erfüllt. 13 Jahre ist es her, dass Angehörige von Ermordeten und Verschwundenen die ersten Klagen gegen die damalige Militärführung eingereicht haben – seither leben sie in steter Angst vor Angriffen. Doch erst am 16. März 2013, ein Jahr nachdem Ríos Montt aus dem Parlament ausschied und dadurch seine Immunität verlor, wagte es das Gericht, dem noch immer mächtigen ehemaligen General den Prozess zu machen (Jungle World 15/2013).

Mit unzähligen Eingaben und Widersprüchen, mit offenen Drohungen und einer nationalistischen Kampagne gegen »ausländische Menschenrechtler« hatten konservative Seilschaften und Ríos Montts Verteidiger Francisco García Gudiel versucht, ihn zu retten. Am Vortag der Urteilsverkündung hatte Gudiel einen »absoluten Freispruch« für seinen Mandaten und sogar »Dankbarkeit« der Guatemalteken dafür verlangt, dass Ríos Montt ihr Land vor der Guerilla gerettet habe.
Auf der rechten Seite des Gerichtssaals sitzen die Überlebenden der Massaker, um die es geht: Maya der Ethnie Ixil, eine lange isoliert lebende, etwa 100 000 Menschen zählende Bevölkerungsgruppe aus der unzugänglichen Hochlandregion im Nordwesten Guatemalas. Während des Bürgerkriegs galten sie als Basis der Guerilla »Ejercito de los Pobres« (Armee der Armen). Rund 150 Ixil sind gekommen, die Frauen tragen traditionelle Röcke, Blusen und Kopfgebinde aus bunten Webstoffen. Sie verfolgen die Verhandlung per Kopfhörer, viele sprechen kaum Spanisch. Um sie herum sitzen Hunderte Unterstützerinnen und Unterstützer und Vertreter von Menschenrechts- und Solidaritätsorganisationen aus Guatemala und Nordamerika. Manche haben seit Jahrzehnten für diesen Tag gestritten, sich die Sühne der Kriegsverbrechen in Lateinamerikas schlimmstem Bürgerkrieg zur Lebensaufgabe gemacht. Viele tragen weiße Buttons mit einem roten Herz, auf denen »Mein Herz ist Ixil« steht.
Um 16 Uhr kommt die Richterin Yasmin Barrios in den Saal, sie wird mit Applaus empfangen. Erst vor wenigen Wochen verurteilte sie Milizionäre rechter paramilitärischer Gruppen wegen Kriegsverbrechen zu insgesamt 7 700 Jahren Gefängnis. Ríos Montt wird später erklären, schon mit gepackten Koffern gekommen zu sein. Es ist eine neue Ära der guatemaltekischen Justizgeschichte: Die Jahrhunderte alte unverbrüchliche Einheit zwischen der herrschenden Klasse und der Judikative beginnt zu bröckeln.

»Die Armee hat die Ixil für Rebellen gehalten und dabei nicht zwischen Zivilisten und Guerilleros unterschieden«, beginnt Barrios ihre Urteilsbegründung. »Ixil zu sein wurde zu einem tödlichen Vergehen.« Vergewaltigungen seien »Teil der militärischen Strategie« der Vernichtung der Ixil gewesen, ebenso der Mord an Kindern, Alten und Schwangeren. »Wir haben hier Frauen gehört, die von 20 Soldaten vergewaltigt wurden. Es war ein Krieg der absoluten Entmenschlichung.« Es gebe eine »historische Linie des Rassismus seit dem 17. Jahrhundert bis in unsere heutige Zeit«, erklärt die Richterin. »Die Indigenen galten seit jeher als minderwertige Rasse, das hat es leicht gemacht, sie als Staatsfeinde zu brandmarken und vernichten zu wollen. Der Rassismus war Basis für die Gewalt.« Und dann stellt sie fest, was der guatemaltekische Staat noch nie eingeräumt hatte: »Ja, es war ein Genozid und Ríos Montt trägt daran die Schuld.« Sie verurteilt ihn zu 50 Jahren Haft wegen Völkermords und zu 30 Jahren wegen Verbrechen gegen die Menschheit – in beiden Fällen die Höchststrafe. »Wir wissen, dass kein Mensch lange genug lebt, um ein solches Strafmaß abzusitzen, trotzdem erscheint es uns angemessen, um den Frieden in diesem Land zu sichern.«
Unter den Menschenrechtlern im Saal bricht Jubel aus, nur die Ixil sitzen völlig ungerührt da, als könnten sie nicht glauben, was sie da gehört haben. Ríos Montt steht auf, sein Anwalt will ihn aus dem Saal schieben, doch die Richterin befiehlt der Polizei, ihn aufzuhalten. Die Menge jubelt lauter, sie ruft: »Richterin, Richterin!« Einige Minuten geht es so, und dann steht Barrios tatsächlich auf, winkt der Menge zu und verbeugt sich, als habe sie gerade ein Theaterstück aufgeführt.
»Das ist eine politische Show«, behauptet Ríos Montt dann auch nach der Verhandlung. Das Urteil basiere auf »Mutmaßungen« und werde »die Seele des guatemaltekischen Volkes beflecken«. Er hingegen werde »in Frieden leben«, weil er niemals seine »Hände mit Blut beschmutzt« habe. Um 17.40 Uhr wird der General von Polizisten aus dem Saal geführt und in das Militärgefängnis Matamoros gebracht.
Am Abend schaltet das Fernsehen live zu Reportern, die vor dem Gefängnis stehen, in dem nun der prominenteste Gefangene des Landes sitzt. Dann kommen Experten zu Wort, sie sagen das Gleiche wie Ríos Montts Verteidiger: Das Urteil sei eine bloße Folge »ausländischen Drucks« und »ausländischer Aktivitäten«, es sei keine Entscheidung der souveränen guatemaltekischen Justiz. García Gudiel prophezeit, der Richterspruch werde im Berufungsverfahren fallen. Doch vorerst kann er Ríos Montt nicht aus dem Gefängnis befreien. Für Montag dieser Woche ordnet Barrios seine erneute Vorführung an. Dann will sie über mögliche Entschädigungen für die Ixil verhandeln.