Richard Wagner und die Deutschen

Der Herr des Rings

Im Jahr 1813 wurde die Armee Napoleons in der Leipziger Völkerschlacht besiegt. Damit wurde der Boden für den deutschen Nationalstaat bereitet. Fünf Monate zuvor war in Leipzig der Komponist Richard Wagner zur Welt gekommen. Zwei unheilvolle Ereignisse für die Geschichte Europas.

Woody Allen schrieb einmal: »Ich kann nicht so viel Wagner hören. Ich kriege sonst den Drang, Polen zu erobern.« Das hätte Heiner Müller eine Warnung sein müssen. Als der sich 1993, drei Jahre nach dem letzten großen Nationaltaumel, daran versuchte, in Bayreuth Wagner zu inszenieren, wurde ihm eines Morgens im Badezimmer so übel, dass er notierte: »Hier wurde Auschwitz geboren im Seifengeruch.« Dennoch ist es möglich, selbst Richard Wagners monumentales Hauptwerk »Der Ring des Nibelungen« als berauschendes Gesamtkunstwerk zu erleben, ohne dabei an Weltkriege, Gaskammern und die deutsche Geschichte zu denken. Allerdings nur, wenn man von all dem noch wenig weiß. So erging es mir, als ich den »Ring« zum ersten Mal sah. Ich war zwölf Jahre alt und eine Zeichentrickverfilmung von Tolkiens »Herr der Ringe« hatte mich mit einer sonderbaren Leidenschaft für Zwerge, Zauberringe und Helden mit Breitschwertern infiziert. Entsprechend begeistert war ich, als mich das bayerische Regionalfernsehen eines Nachts zu magisch dräuender Musik mit Göttervater Wotan, Drachentöter Siegfried und dem goldgierigen Zwergen-Diktator Alberich bekanntmachte. Dass sich in der Figur des Alberich der fanatische Antisemitismus Wagners ausdrückte, war mir ebenso wenig bewusst wie der Einfluss, den Wagners Opern und Schriften auf Adolf Hitler gehabt hatten. Schon gar nicht ahnte ich, dass mir hier ein bis heute wirkender deutscher Nationalmythos entgegenflimmerte, die Ästhetisierung einer gemutmaßten völkischen Überlegenheit inklusive Führerglaube, Welterlösungswahn und Untergangssehnsucht. Ein Werk, so ambivalent und vielfältig ausdeutbar, dass es bis heute nicht nur Opernfans fasziniert. Es ist mehr als die theatralische Darstellung alter Mythen, es ist selbst ein Mythos. Um es mit des Schöpfers eigenen Worten zu sagen: »Es ist gewiss das der arischen Rasse eigentümlichste Kunstwerk.«

Bis Napoleon 1806 die Auflösung des Heiligen Römischen Reiches erzwang, waren die deutschsprachigen Gebiete Europas ganz gut ohne gemeinsamen Nationalmythos ausgekommen. Zwar befanden sie sich mehrheitlich innerhalb der Reichsgrenzen, aber das Selbstverständnis dieses Reiches war von jeher multinational gewesen. Erst nach Napoleons Niederlage in der Leipziger Völkerschlacht wurde die Idee eines deutschen Nationalstaates virulent. Der Wiener Kongress 1814–15 hatte mit dem Deutschen Bund jedoch nur ein föderales Gebilde unabhängiger absolutistischer Kleinstaaten hervorgebracht, das zudem Preußen und Österreich riesige exterritoriale Gebiete beließ. Ein »Deutschland« war das nicht. Genau danach aber verlangte das Bürgertum, das im Zuge der langsam und verspätet einsetzenden industriellen Revolution zu erstarken begann. Man wollte eine gemeinsame Fahne, eine Hymne, eine Verfassung und vor allem einen Mythos. Da genügte es nicht mehr, sich auf die römische Reichstradition zu berufen, eine spezifisch deutsche Urgeschichte musste her. Schon im 18. Jahrhundert hatte man damit begonnen, die Germanen (eigentlich ein römischer Sammelbegriff für die wilden Stämme östlich des Rheins) einzudeutschen, nun verbreiteten sich romantisierende Rückbezüge auf deren vorgebliche Historie und Religion, entlehnt aus mittelalterlichen Schriften wie dem »Nibelungenlied« oder der »Edda«.
Anfangs war es durchaus unklar, in welche Richtung dieses verspätete deutsche nation building sich entwickeln würde. Republikanische und sozialistische Ansätze gingen Hand in Hand mit der Sehnsucht nach einem neuen Kaiser und damit verbundenen Großmachtträumen. Was aber, wenn die sich belauernden deutschen Fürsten keinen solchen Kaiser hervorbringen würden?

Es war Richard Wagner, der Ende der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts eine Antwort auf diese Frage fand. In Berlin gescheitert, hatte er eine Kapellmeisterstelle in Riga angetreten und schrieb dort an seiner Oper »Rienzi«. Darin installiert ein gegen intrigante Adelsfamilien revoltierendes Bürgertum nicht nur eine freiheitliche Verfassung, sondern auch einen »Volkstribun« aus seiner Mitte. Zwar geht dieser am Ende in einer Feuersbrunst unter, aber das ist eine Konstante bei Wagner. Ob Rienzi oder Siegfried – die wahre Größe seiner Helden manifestiert sich erst im flammenden Untergang.
Es ist belegt, dass »Rienzi« zur Lieblingsoper des jungen Wagnerianers Adolf Hitler wurde, der knapp 100 Jahre später versuchen würde, Wagners auch gesellschaftlich gemeinte Idee eines »Gesamtkunstwerks« Realität werden zu lassen und »Volkstribun« von seinem Geiste zu werden, ein neuer Siegfried auf dem Weg zu Weltenbrand und Götterdämmerung. Die Vielzahl der direkten Bezüge von Hitler auf Wagner verrät zwar eine Menge über die Psyche des Letzteren, aber wenig über die gesellschaftliche Bedeutung des ersteren.
Selbst die Analyse von Wagners Antisemitismus greift in der Regel zu kurz. Man kann es zwar als feuilletonistischen Erfolg werten, dass heute nur noch selten versucht wird, den Judenhass des Komponisten zu leugnen oder auf persönliche Ressentiments gegen seinen Kollegen Giacomo Meyerbeer zu reduzieren. Aber auch die Erkenntnis, dass Wagners Antisemitismus »sich von den damals gängigen Vorurteilen deutlich ab(hob)«, indem er »für Juden nur eine einzige Perspektive versprach: den Untergang«, wie Matthias Küntzel kürzlich in der Welt am Sonntag geschrieben hat, kann das Nationaldenkmal Wagner nicht zu Fall bringen. Die Verteidigungsstrategie gegen solche Vorwürfe hatte der Spiegel mit seinem Titel »Das wahnsinnnige Genie« vom 30. März bereits auf den Punkt gebracht. Beides gehöre eben irgendwie zusammen, führte der dazugehörige Artikel aus, und präsentierte als Kronzeugen ausgerechnet den inzwischen zum Wagner-Apologeten geläuterten Autor Joachim Köhler. Und weil der Wahn eben Teil des Genies ist, kann man nach Belieben Gedenkmünzen mit Wagners Konterfei schmücken und Kritik an den Auftritten der Kanzlerin bei den Bayreuther Festspielen auf modische Fragen reduzieren.

Tatsächlich aber war Wagner kein »vergeistigter Künstler«, wie das Stereotyp von »Genie und Wahn« nahelegt, sondern ein nationaler Revolutionär, dessen Opern immer auch Debattenbeiträge zur nationalen Frage darstellten und nicht erst von Hitler als solche wahrgenommen wurden. Als »Rienzi« 1842 in Dresden uraufgeführt wurde, war Wagners Ruf nach einem »Volkstribun« schwerlich anders zu verstehen denn als ein Kommentar zur gerade überstandenen »Rheinkrise«. Die hatte der französische Ministerpräsident Adolphe Thiers ausgelöst, als er den Rhein zur »natürlichen Grenze« zwischen Frankreich und dem Deutschen Bund erklärte. Damit löste er im deutschen Bürgertum einen Sturm patrio­tischer Entrüstung aus, aus dem heraus Hoffmann von Fallerslebens »Lied der Deutschen« und Max Schneckenburgers »Die Wacht am Rhein« entstanden.
1843 begann Wagner mit Vorarbeiten zu seinem »Ring«-Zyklus, in welchem er in den folgenden 25 Jahren allerlei mythologische Versatzstücke zu einem komplexen Konglomerat aus Herrenmenschenattitüde, völkischer »Vorsehung« und sozialrevolutionären Phantastereien verdichtete. Letztere prägten sich bei ihm in den Revolutionsjahren 1848–49 aus. Nachdem der preußische König Friedrich Wilhelm IV. die ihm von der Nationalversammlung angebotene Kaiserkrone im April 1849 abgelehnt hatte, kam es in Dresden zu offenen Aufständen, bei denen der sächsische Hofkapellmeister Wagner Seit’ an Seit’ mit dem russischen Anarchisten Mikhail Bakunin kämpfte. Allerdings sollte er schon ein Jahr später mit dem Essay »Das Judenthum in der Musik« belegen, dass sich hinter seinem persönlichen Furor gegen den »Dämon des Geldes«, gegen Schuld und Zinsen vor allem das verbarg, was wir heute Antisemitismus nennen.
So wirr und unbeholfen aber auch der Revolutionär Wagner agierte, seine künstlerischen Visionen, nun von rassistischen Vorstellungen getragen, waren nicht nur Ausdruck ihrer Zeit, sie prägten sie. In den ersten beiden »Ring«-Abenden, »Das Rheingold« und »Die Walküre«, die 1869–70 uraufgeführt wurden, entwarf er ein janusköpfiges Bild der »jüdischen Rasse«, das es später den Nazis ermöglichte, Kapitalismus und Bolschewismus gleichermaßen mit den Juden zu assoziieren, und kündigte der »arischen Rasse« abermals einen »Volkskönig« an, getragen von »göttlicher Vorsehung«. Inzwischen war ein solcher auch in Sicht: Otto von Bismarck.
Als preußischer Außenminister hatte Bismarck, mittels zweier kurzer Kriege, den allseits ungeliebten Deutschen Bund aufgelöst und trieb nun seinen König zum Krieg gegen Frankreich, der 1871 mit der Kaiserkrönung Wilhelms I. und der Gründung des Deutschen Reichs endete. 1874 vollendete Wagner seine »Ring«-Partitur, und 1876 kam es – in Anwesenheit des Kaisers – zur Uraufführung des kompletten 16stündigen Werkes im neuen Bayreuther Festspielhaus. Zu diesem Zeitpunkt hatte das neue Reich bereits begonnen, zum wagnerschen »Gesamtkunstwerk« zu mutieren.
In den folgenden 40 Jahren wurde mit unzähligen monumental-völkischen Denkmalen ein steinernes Bühnenbild nationalen Größenwahns errichtet. Ein ästhetisches Stelldichein frei erfundener germanischer Helmtrachten mit übergroßen mittelalterlichen Breitschwertern, vom Hermannsdenkmal im Teutoburger Wald über das Völkerschlachtdenkmal in Leipzig bis hin zum Hamburger Bismarckdenkmal. Auch Bürgerinitiativen beteiligten sich, errichteten allerorten sogenannte Bismarcktürme, deren martialischste (Typ »Götterdämmerung«) riesige Feuerschalen trugen, auf dass an nationalen Feiertagen landauf, landab Flammen gen Himmel schlügen. Hitler war nicht der erste »Volkstribun« nach Wagners Bilde. Auch die Mythologie und Ästhetik des NS-»Gesamt­kunstwerks« waren nicht neu, ebenso wenig wie die krude nationalrevolutionäre Ideologie dieser Bewegung. Die ersten Noten für den völkischen Opernzyklus, der hier zur Aufführung kam, wurden spätestens 1848–49 geschrieben, und der Autor hieß Richard Wagner. Hitler 1938: »Das Werk, für das vor neunzig Jahren unsere Vorfahren kämpften und bluteten, kann nunmehr als vollbracht angesehen werden.«
Den perfekten Schlussstrich unter dieses deutsche Wahngebilde hätten die Berliner Philharmoniker ziehen können, als sie bei ihrem Abschiedskonzert am 12. April 1945 das Finale von »Götterdämmerung« durch die Trümmer Berlins tönen ließen. Doch leider hielt es Gerhard Schröder 2003 für eine gute Idee, als erster deutscher Nachkriegskanzler die Bayreuther Festspiele zu besuchen. Dem intellektuell eher unverdächtigen Schröder mag dabei der Symbolgehalt sogar entgangen sein, vielleicht hatte ihn nur Peter Jacksons »Herr der Ringe« motiviert. Seine Nachfolgerin im Amt aber nahm den Vorstoß dankend auf und hat die Pilgerfahrt nach Bayreuth längst wieder zur Kanzlertradition erhoben.