Der Machtkampf in Libyen

Viele Waffen, viele Emire

In Libyen haben die Milizionäre zwar die Blockade von Ministerien beendet, doch ihre Integration erweist sich als schwierig.

Ein Ungemach kommt selten allein. Am Samstag brachen zwar die Milizen, die bis dahin 14 Tage lang das Außen- und das Justizministerium in der libyschen Hauptstadt Tripolis belagert hatten, ihre Blockade ab und übergaben die Kontrolle über die Ministerien einem gemeinsamen Ausschuss aus Regierungs- und Parlamentsmitgliedern. Am folgenden Tag gab jedoch der Ölkonzern BP den Rückzug eines Teils seines Personals – aller »nicht unabdingbaren« Mitarbeiter – aus Libyen bekannt, da dessen Sicherheit nicht gewährleistet sei. Zuvor hatten schon die britische und die US-amerikanische Botschaft einen solchen Schritt unternommen. Am 23. April war eine Bombe an der Umzäunung der französischen Botschaft in Tripolis explodiert, zwei Wächter wurden schwer verletzt. Am Montag explodierte ein Sprengsatz auf einem Parkplatz des Krankenhauses al-Jala im ostlibyschen Bengasi, Angaben aus Regierungskreisen zufolge wurden dabei 15 Menschen getötet. Hunderte wütende Einwohner demonstrier­ten gegen die Milizen, die sie als Urheber des Anschlags betrachten.
In Libyen tobt ein offener Machtkampf. Dabei stehen die offiziellen staatlichen Institutionen Rebellengruppen gegenüber, die im Bürgerkrieg von 2011 entstanden sind. Einige der Milizen, die sich aus den nicht entwaffneten Rebellenverbänden gebildet haben, vertreten rein regionale oder clanbezogene Interessen. Andere dagegen folgen einer mehr oder weniger deutlich ausgeprägten jihadistischen Ideologie. Der Staat wird von Vertretern der »Allianz der nationalen Kräfte« regiert, einer bürgerlich-nationalistischen Partei, die relativ säkular ausgerichtet ist, aber auf den Konservatismus der libyschen Gesellschaft in Fragen der familiären Moral Rücksicht nimmt. An der Spitze der Allianz steht eine wirtschaftsliberale Führung, die zum Teil aus der schmalen Experten- und Funktionärsschicht des alten Regimes unter Muammar al-Gaddafi hervorging.

Als Parteivorsitzender der »Allianz der nationalen Kräfte« amtiert Mahmoud Jibril, der im Jahr 2011 Übergangsministerpräsident war. Von 2007 bis 2010 hatte Jibril nach einer Ausbildung zum Wirtschaftsfachmann in den USA das »Büro für nationale wirtschaftliche Entwicklung« geleitet. Es war in den letzten Jahren unter dem Gaddafi-Regime für wirtschaftsliberale Reformen, Privatisierungen und ähnliche Maßnahmen zuständig.
Seine Partei verwies bei den ersten freien und pluralistischen Wahlen Libyens am 7. Juli vergangenen Jahres den libyschen Ableger der Muslimbruderschaft auf den zweiten Platz. Islamisten unterschiedlicher Schattierung sind jedoch weiterhin in Teilen der libyschen Gesellschaft populär, während eine Linke und eine Gewerkschaftsbewegung, die eine säkulare Idee sozialer Gerechtigkeit vertreten, schwach entwickelt sind. Einer der Gründe dafür ist das weitgehende Fehlen einer Arbeiterbewegung: Im Rentiersstaat Libyen, dessen Sozialpolitik in der Verteilung der Öleinnahmen gemäß den Interessen des Regimes bestand, ließ die Staatsführung jahrzehntelang körperliche und gesellschaftlich gering geschätzte Arbeiten überwiegend von Immigranten aus Asien und Afrika erledigen. Zwar gibt es in jüngerer Zeit einige Arbeitskämpfe, vor zwei Monaten blockierten etwa LKW-Fahrer die Verladung von Erdöl in Bengasi. Aber politisch prägend sind Kräfte der Arbeiterbewegung und der Linken nicht.

Um die oft islamistisch inspirierten Milizen einzubinden, hat die neue Staatsführung ihnen die Integration in die Streitkräfte angeboten. Aber trotz der Eingliederung in die Armee behielten viele Milizen ihre eigenen Kommandostrukturen und fühlen sich mitunter nur ihrem Emir (Befehlshaber) verpflichtet. In den vergangenen Wochen wuchs nun der Druck von ihrer Seite, den Staatsapparat von ehemaligen Funktionären des Gaddafi-Regimes zu säubern. Tatsächlich können solche Funktionäre in vielen Bereichen wie im Justizwesen weiterhin schalten und walten, unter anderem aufgrund eines Mangels an unbelasteten Fachkräften. Unter erheblichem Druck der Milizen nahm das libysche Parlament am vorvergangenen Wochenende ein Gesetz zum Verbot politischer Betätigung für frühere Führungskräfte der Gaddafi-Ära an. Es ist jedoch nicht zu erwarten, dass es bis hin zu hohen Führungskräften wie Mahmoud Jibril Anwendung finden wird.
Es gibt in Libyen jedoch auch positive Entwicklungen. So herrscht eine relativ weitgehende Pressefreiheit, vor allem hat sich die Zahl der Blogs und Websites vervielfacht. In einer Länderliste der NGO »Reporter ohne Grenzen« rangiert Libyen auf dem 131. Platz von knapp 200 Staaten. Das ist kein glorreicher Rang, aber der beste unter allen arabischsprachigen Ländern, vor Tunesien auf dem 138. und Ägypten auf dem 158. Platz.
Ein besonders dunkles Kapitel bleibt die Behandlung von Migranten in Libyen. Mitte April wurde der Tod von acht Nigerern in Abschiebelagern in der libyschen Wüste bekannt. Dort werden noch 3 000 ihrer Landsleute festgehalten. In der dritten Aprilwoche sprach das Außenministerium des Niger eine Reisewarnung für das nördliche Nachbarland aus. Eine Woche später begann in Tripolis eine von der Europäischen Union finanzierte Fortbildung für 26 hochrangige Funktionäre aus dem libyschen Innenministerium. Es ging um die Bewältigung von Migration. Auf der Tagesordnung stand etwa die »Stabilisierung von Risikogemeinschaften«, sprich die Verhinderung der unerwünschten Migration aus oder über Libyen. Die dortige Staatsmacht war bereits unter Gaddafi ein begehrter Bündnispartner der EU und bleibt ein Wächter der Festung Europa.