Wie geht es weiter nach der Räumung des Gezi-Parks?

Mit Oma auf der Barrikade

Es war ein Wochenende der Gewalt in ­Istanbul. Ein Bericht.

Eine neue Geräuschkulisse belebt jeden Abend um 21 Uhr die Straßen. Aus den Häusern erklingt das Scheppern von Kochgeschirr. Das kollektive Topfschlagen wird vom An- und Ausschalten der Zimmerbeleuchtungen begleitet. Im Istanbuler Innenstadtviertel Beyoğlu erzittert bei dieser Lärmperformance jeden Abend eine Woge blinkender Fenster. Die Protestierenden drücken damit aus, dass sie sich nicht still in ihr Privatleben zurückziehen wollen, wie die AKP-Regierung es von ihnen erwartet. Die Besetzung des Gezi-Parks steht vor allem für eine Verteidigung des öffentlichen Raumes. »Holt eure Kinder aus dem Park nach Hause«, rief der Istanbuler Gouverneur Hüseyin Mutlu am Donnerstag vergangener Woche die Familien der Protestierenden auf. Er erreichte genau das Gegenteil. Die Menschenkette der Mütter wurde zu einem eindrucksvollen Bild der Proteste. Die Mütter und Großmütter der Demonstrierenden umringten am Abend den Gezi-Park und stellten sich schützend um die seit drei Wochen durch Reizgas und Wasserwerfer-Attacken Malträtierten. Es folgten umgehend Graffiti und Sprüche über die Präsenz von drei Generationen in der Bewegung. »Spätestens wenn deine Oma auf die Barrikaden geht, verstehst du, dass deine Regierung nichts taugt«, gehört etwa dazu. Gefährliche Signale für die islamisch-konservative Regierung, die gern behauptet, die familiären, patriotischen und kulturellen Werte zu vertreten. Längst solidarisieren sich fromme Muslime mit der Protestbewegung um den Gezi-Park. Die Menschenkette der Mütter motivierte viele Frauen, täglich Essen zum Camp zu bringen. Manche verkauften frisch gegrillte Köfte, andere verteilten selbstgemachten Börek und servieren den Zeltbewohnern dazu heißen Tee.
Trotz der Bilder vom gemeinsamen Frühstücken und der Installation gespendeter Sanitäranlagen im Gezi-Park versuchen manche Islamisch-Konservative, den Gezi-Park als »stinkende Kloake« Bier trinkender »Penner« zu diffamieren. Nach der ersten Woche hatte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan »Intellektuelle und Künstler« zu einer Audienz geladen, um sich den Anschein eines Interesses an der öffentlichen Meinung zu geben. An diesem Treffen nahm etwa der Schauspieler Necati Şaşmaz teil, der Polat Alemdar spielt, den türkischen Superagenten aus der grauenvollen ultranationalistischen Fernsehserie »Tal der Wölfe«. Zusammen mit dem ehemaligen Karikaturisten Hasan Kaçan, der sich seit Jahren als wenig geistreicher Sprücheklopfer der islamistischen Szene etabliert hat, verkündete er nach dem Gespräch mit Erdoğan, der Gezi-Park stinke nach Urin und Fäkalien und habe doch nun wirklich nichts mit Umweltbewusstsein zu tun.
Die Auseinandersetzung spitzt sich immer mehr zu einem Kampf der Lebensstile und der Territorien im urbanen Raum zu. Nachdem Erdoğan am Samstag in Ankara vor jubelnden, fahnenschwenkenden Anhängern die Protestbewegung beschimpft und diffamiert hatte, räumte die Istanbuler Polizei mit einem bislang nicht gesehenen Ausmaß an Gewalttätigkeit den Taksim-Platz und den Gezi-Park. Alte Menschen, kleine Kinder und Behinderte versuchten verzweifelt, sich in Sicherheit zu bringen. Auf Facebook und Twitter machte das Photo eines Rollstuhlfahrers die Runde, der mit einer türkischen Fahne auf dem Schoß durch dicke Reizgasschwaden rollt, als wolle er signalisieren, dass diese Realität nichts mit seinem Land zu tun hat.
Das Foto der in das neben dem Gezi-Park gelegenen Divan-Hotels geflüchteten grünen Parteivorsitzenden Claudia Roth wurde auf Facebook teilweise höhnisch kommentiert, auf ihre Person reduziert und komplett missverstanden. Dabei dokumentiert das Bild sehr gut die Folgen des gegen internationales Recht verstoßenden Einsatzes der Istanbuler Polizei. Die hohe Konzentration an Reizgas in der Luft und die den Wasserwerfern zugefügten chemischen Reizstoffe führten bei vielen Demonstranten auf dem Platz zu Brandwunden am ganzen Körper, zu Erstickungsanfällen und vorübergehender Erblindungen. Der Einsatz von Reizgas bei der Erstürmung der Lobby des Divan-Hotels ist ein Verstoß gegen das weltweite Verbot des Einsatzes chemischer Gase in geschlossenen Räumen – zumal das Hotel als Zufluchtsort von Verletzten diente. Auch die Notaufnahme des Deutschen Krankenhauses und das Amerikanische Krankenhaus wurden mit Reizgas beschossen. Beide Spitäler haben ein türkisches Management und tragen ihre Namen nur als Referenz auf alte Zeiten, als sie von Amerikanern und Deutschen gegründet wurden. Die Zufluchtsorte der Demonstranten wurden mit einem kaum nachvollziehbaren Vandalismus seitens der Polizeikräfte verwüstet, es wurde geschubst und geflucht, als gelte es, das Vaterland vom Feind zu befreien. Abgesehen von Claudia Roth waren die Opfer allerdings vor allem türkische Aktivisten, Hotelangestellte, Ärzte und Krankenschwestern.

Niemand hatte mit dem Einsatz am Samstag gerechnet, denn der Gouverneur von Istanbul hatte zuvor plötzlich Einsicht signalisiert und sich eine ganze Nacht lang mit Vertretern der Plattform für die Taksim-Proteste auseinandergesetzt. Es waren Entschuldigungen für die Härte der Polizeieinsätze und die Mengen an Reizgas geäußert worden. Durch den Einsatz Samstagnacht hat Hüseyin Mutlu sich als Marionette der AKP-Regierung erwiesen, der alle Anweisungen umgehend mit Duckmäuser-Mentalität ausführt. Zuvor waren nämlich Gespräche zwischen Ministerpräsident Erdoğan und Vertretern der Zivilgesellschaft gescheitert, die dieser diesmal nicht selbst ausgesucht hatte, sondern die das Vertrauen der Demonstranten genießen und zur Bewegung gehören oder zumindest deren Fürsprecher sind. Erst später wurde bekannt, dass Erdoğan das Treffen wutentbrannt verlassen und eine Vertreterin des Gewerkschaftsverbandes DİSK als »Extremistin« beschimpft hatte. »Der Ministerpräsident ist von seiner autoritären Haltungen nicht abzubringen«, befand sogar Rümeysa Kiger, eine Autorin der islamisch-konservativen Tageszeitung Zaman Today, nach dem Treffen.
Sonntagnacht bekämpfte die Polizei Protestierende in mindestens 70 Städten des Landes. Ein fast absurdes Bild boten die fahnenbehängten Fischerboote auf dem Bosporus, auf dem Rückweg von Erdoğans Kundgebung, denen Reizgaswolken von den umkämpften Uferstraßen entgegenwehten. Die Polizei hatte die Demonstranten aus der Innenstadt dorthin getrieben, als wolle sie die Konfrontation forcieren. Doch Provokationen blieben bislang erfolglos und wurden in den sozialen Netzwerken schnell als solche erkannt. Die AKP reagiert derzeit mit Massenverhaftungen von Protestierenden, Ärzten und Anwälten. Insgesamt wurden bisher über 600 Menschen verhaftet. Am Dienstagmorgen stürmten und durchsuchten Anti-Terror-Einheiten der Polizei Häuser und Wohnungen vor allem von linken Aktivisten. Man wird sehen, inwieweit sich die Bewegung dadurch einschüchtern lässt.