Der »Brechmittelprozess« wird in Bremen erneut aufgerollt

Überdosis Rechtsstaat

Zum dritten Mal muss sich ein ehemaliger Polizeiarzt wegen des Todes eines mutmaßlichen Drogendealers vor dem Bremer Landgericht verantworten. Der Mediziner hatte dem 35jährigen Mann aus Sierra Leone Anfang 2005 unter Zwang ein Brechmittel eingeflößt. Zweimal wurde der Polizeiarzt freigesprochen, beide Freisprüche wurden vom Bundesgerichtshof aufgehoben.

Wenn Richter und Staatsanwälte einem Politiker einen Brief schreiben und ihn »dringend auffordern«, die Klappe zu halten, weil er anderenfalls »den Rechtsstaat im Kern« gefährde und die »Gewaltenteilung, die die tragende Säule im Rechtsstaat ist«, bedrohe – dann ist das ein starkes Indiz für einen veritablen Justizskandal. Und für einen solchen halten den Bremer Brechmittelprozess mittlerweile viele.
Acht Jahre nach dem Tod des Sierra-Leoners Laye-Alama Condé durch die Verabreichung von Brechmittel durch den Polizeiarzt Igor V. unter Beihilfe zweier Polizisten geht das Verfahren mittlerweile in die dritte Runde. Zwei Mal hat die Bremer Justiz V. freigesprochen, zwei Mal hat der Bundesgerichtshof (BGH) an den Urteilen kein gutes Haar gelassen, sie aufgehoben, das letzte gar als »grotesk falsch« bezeichnet. Trotzdem hat die Vorsitzende Richterin Barbara Lätzel Anfang Juni vorgeschlagen, den Tatvorwurf gegen V. von »Körperverletzung mit Todesfolge« auf »fahrlässige Tötung« herabzustufen und den Prozess dann einzustellen.
Matthias Güldner, der Fraktionsvorsitzende der Bremer Grünen, warf ihr darauf hin vor, den BGH »austricksen« zu wollen. »Man fragt sich, was da eigentlich unter den Teppich gekehrt werden soll«, sagte er und unterschrieb eine öffentliche Protesterklärung der »Initiative in Gedenken an Laye-Alama Condé« – ebenso wie die Bremer Fraktion der Linkspartei, die Internationale Liga für Menschenrechte, der Verein Ärzte in sozialer Verantwortung und die Vereinigung Niedersächsischer und Bremer Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger.

Für die Bremer Staatsjuristen scheint das eine unerhörte Einmischung zu sein. »Diese Verunglimpfung überschreitet nicht nur jedes Maß zulässiger Kritik, sie stellt auch die Integrität der Justiz in Frage und gefährdet so das Vertrauen des Bürgers in die Justiz«, schrieb Karin Goldmann, die Vorsitzende der Bremer Richter und Staatsanwälte, an Güldner.
So viel Bockigkeit traut sich nicht mal mehr die Polizei, die immerhin direkt für Condés Tod verantwortlich ist. »Ganz unabhängig« vom Condé-Prozess habe man begonnen, »nach einer Haltung und den richtigen Worten zum Tod von Laye-Alama Condé zu suchen«, sagte die Polizeisprecherin Franka Haedke. »Wir öffnen uns dem Thema.«
So hat der neue Bremer Polizeipräsident Lutz Müller einen Brief an die in Guinea lebende Mutter von Condé geschrieben, in dem er offiziell sein Bedauern über den Tod ihres Sohnes ausdrückt. Am Polizeipräsidium im Stadtteil Neue Vahr, wo Condé getötet wurde, will Müller möglicherweise eine Gedenktafel anbringen lassen. Ein solches Denkmal fordert die Initiative zum Gedenken an Condé seit langem. Es solle daran erinnern, dass Bremen »die europäische Hauptstadt der Brechmittelfolter« war, sagt eine Sprecherin der Initiative. Die Polizei hat Kontakt zu der Gruppe aufgenommen. Es werde darüber nachgedacht, zu einer Broschüre beizutragen, die den Brechmitteltod »aus verschiedenen Blickwinkeln« aufarbeiten könnte – und zwar sowohl gegenüber der Öffentlichkeit als auch als Material für die Polizeiausbildung, heißt es.
Grundsätzlich sei es zu begrüßen, wenn die Polizeispitze umdenkt, sagt Volker Mörchen von der Initiative. Doch »für die Polizei ist insgesamt noch ein langer Weg zurückzulegen, weil rassistische Polizeipraktiken für viele Menschen in Bremen bis heute Alltag sind«. Es sei offen, ob man mit der Polizei zusammenarbeiten werde. Seit 2005 hatte die Initiative jedes Jahr am Todestag Condés an der Bremer Sielwallkreuzung, wo Condé von der Polizei am 27. Dezember 2004 aufgegriffen worden war, eine Gedenkkundgebung organisiert.
So auch in diesem Jahr. Denn der Verlauf des dritten Prozesses hat die Initiative erneut auf die Barrikaden gebracht. Seit Wochen mobilisiert sie zu Kundgebungen vor dem Gericht und protestiert gegen die Richterin. »Auch nach acht Jahren und zwei Gerichtsprozessen bleibt festzustellen: Es gibt eine Tat, einen Toten, aber keine verurteilten Täter«, erklärt die Initiative. »Zweimal hat das Bremer Landgericht den Angeklagten freigesprochen, zweimal hat der Bundesgerichtshof den Freispruch wieder kassiert«, heißt es in einem Aufruf. Eine Einstellung komme »auch im dritten Verfahren einer Verhöhnung des Toten gleich«. Bei ihren Aktionen verweist die Initiative auf das immer noch gängige »Racial Profiling«, die gezielte Kontrolle von Menschen mit dunkler Haut durch Polizisten. »Wenn wir alle Betroffenen berichten lassen würden, ständen wir einen ganzen Monat da«, sagt eine Sprecherin der Initiative.

Zum ersten Mal überhaupt hat sich der angeklagte Polizeiarzt Igor V. im April vor Gericht geäußert. »Sein Tod ist mir sehr nahe gegangen«, behauptete der 49 Jahre alte Mediziner. »Ich habe bis zum heutigen Tage sehr schwer an diesem Vorfall zu tragen.« Seine Schilderungen zu der Nacht, in der Condé, während er ihm Brechmittel verabreichte, ins Koma fiel, lassen Zweifel daran aufkommen. V. hatte Condé über einen Zeitraum von 90 Minuten große Mengen Wasser und den Brechsirup Ipecacuanha mit einer Nasensonde eingeflößt. Condé wurde dabei von zwei Polizisten auf einem speziellen Stuhl gefesselt und festgehalten. Sein Zustand wurde während der Prozedur immer schlechter, bis er schließlich keine Reflexe mehr zeigte. Doch V. machte weiter – weit über das nötige Maß hinaus. Condé würgte einige Kokainkügelchen hervor, für das Strafverfahren hätte das gereicht, der Zweck der Tortur war erfüllt – doch V. flößte ihm weiter Wasser ein, das langsam in Condés Lungen floss, so dass dieser schließlich ins Koma fiel. Am 7. Januar 2005 starb er.

Dass Condé nach einem gewissen Zeitraum nicht mehr sprechen konnte, irritierte den Arzt nicht. »Ich war überzeugt, dass er bei Bewusstsein ist und absichtlich nicht gesprochen hat.« Auf die Frage der Richterin Lätzel, warum er mit der Brechmittelvergabe auch dann nicht aufgehört habe, als Condés Zustand so kritisch geworden war, dass ein Notarzt hinzukommen musste, sagte V., er habe »einfach keinen Anlass dafür gehabt«, die Notärzte hatten Condé Sauerstoff zugeführt, danach sei es »ihm ja wieder gut gegangen«.
Lätzel wird sich überlegen müssen, was sie davon juristisch hält. Nach einer Protestwelle entschied sie am 14. Juni, den Prozess doch nicht abzubrechen, sondern zu Ende zu führen.