Über die unreformierbare Planwirtschaft in der DDR

Viele Pläne, wenig Sozialismus

Vor 50 Jahren verkündete der Ministerrat der DDR ein staatliches Programm zur Reform der Planwirtschaft, genannt: Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung (NÖS). Es war nur einer von meh­reren vergeblichen Versuchen, die Planwirtschaft zum Funktionieren zu bringen.

Im Sozialismus war nicht alles schlecht, etwa die meisten Radio-Eriwan-Witze: »Frage an Radio Eriwan: Stimmt es, dass der Kommunismus am Horizont zu sehen ist? Radio Eriwan antwortet: Im Prinzip ja. Jedoch weicht der Horizont zurück, wenn wir ihm näher kommen.«
Karl Marx zufolge wäre nach der Aufhebung des Privateigentums die gesamtgesellschaftliche Produktion nicht mehr blindlings über den Warentausch vermittelt, sondern vernünftig organisiert. In einer ersten Phase des Vereins freier Menschen, in der der Mangel noch nicht beseitigt sei, müsse noch das Leistungsprinzip herrschen, in einer späteren Phase schließlich, wenn die Industrie weit genug entwickelt sei, könne anstelle dessen das kommunistische Prinzip treten: »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!« Lenin schließlich versuchte am Vorabend der Oktoberrevolution die verschiedenen Begriffe zu ordnen: Sozialismus werde das sein, was Marx erste Phase genannt habe, und der Kommunismus die spätere Phase des Vereins freier Menschen.

Diese Definition zu Grunde gelegt, folgte nach der Oktoberrevolution nicht einmal der Sozialismus, sondern eine »Übergangsphase«. Je länger diese währte, desto unglaubwürdiger wurde ihr Name. Die kommunistischen Ideologen mussten sich hinsichtlich des Sozialismus die Frage gefallen lassen: »Wo bleibt er denn?« Und den Ungeduldigen wurde geantwortet, er sei schon halb da. Josef Stalin sagte 1933 in seinem Rechenschaftsbericht an seine Partei: »Wir können jetzt sagen, dass die sozialistische Form die uneingeschränkt herrschende und einzig bestimmende Kraft in der gesamten Volkswirtschaft ist. (Stürmischer Beifall.)« Die Theorie musste umgebaut, die Lehrbücher mussten umformuliert werden. Was vorher Übergangsphase hieß, wurde nun Sozialismus genannt. Dieser sei an sich schon großartig, die Arbeiterklasse herrsche schon, nur die bewusste Planung der Produktion müsse noch entwickelt werden, bevor Geld und Ware absterben würden und der Kommunismus verwirklicht werden könne.
Aber Geld und Ware starben nicht ab (von Ausnahmen in den ländlichen Volkskommunen während der chinesischen »Kulturrevolution« mal abgesehen), ganz im Gegenteil. Je mehr sich die Industrie im Ostblock und in ihr die Arbeitsteilung entwickelte, desto größer wurde die Überforderung der Planer abgesichts der Unvermeidlichkeit von Geld und Warentausch. Das Ziel Kommunismus wurde unterdessen weiter proklamiert. Was blieb den kommunistischen Parteien angesichts ihres Namens auch anderes übrig? Insgeheim jedoch war vielen Führungskräften in Staat und Wirtschaft klar, dass die kommunistische Ideologie einer sachgerechten Wirtschaftspolitik hinderlich war.
Walter Ulbricht, ein wirtschaftlicher Pragmatiker, übernahm die Aufgabe, die Ideologie den Verhältnissen anzupassen: Bevor der Kommunismus aus dem Sozialismus hervorgehen könnte, so dozierte er 1962 auf einer Marx-Konferenz, müsse überhaupt erst der »umfassende Ausbau des Sozialismus« stattfinden; bevor Geld und Ware im Kommunismus absterben könnten, müsste die sozialistische Warenproduktion voll entfaltet werden. Wer ein klein wenig Ahnung vom historischen (»Histomat«) und dialektischen Materialismus (»Diamat«) hat, vermag zu erkennen, wie materialistisch und dialektisch Ulbricht hier argumentiert: Eine Epoche kann erst die vorangehenden Epoche ablösen, wenn diese vollständig entwickelt ist, Ware und Geld können erst absterben, nachdem sie in voller Blüte standen.
Diese öffentliche Rehabilitation von Geld und Ware war eine der wesentlichen Leistungen des sogenannten Neuen Ökonomischen Systems (NÖS). Darin erhielten Tatsachen, die bis dato nur als Überbleibsel des Kapitalismus berücksichtigt worden waren, höhere Weihen. Nun gab es eine »geplante sozialistische Warenproduktion«, »so­zialistisches Geld« und ein »sozialistisches Bankwesen«. Wurden vorher alle Fragen der Gegenwart mit Blick auf den zukünftigen Kommunismus diskutiert, beschäftigte sich die Wissenschaft nunmehr auch mit der Funktionsweise der tatsächlich existierenden Wirtschaft.

Da die orthodoxe Schule des Marxismus-Leninismus das Feld nicht kampflos preisgab und gleichzeitig viele bislang verschmähte Bücher jugoslawischer, ungarischer, polnischer und tschechoslowakischer Reformsozialisten veröffentlicht wurden, fanden in den sechziger Jahren interessante Debatten in den Fachzeitschriften der DDR statt. Wenngleich die orthodoxe Schule in diesen Debatten klug argumentierte, sofern sie etwa »sozialistisches Geld« als contradictio in adiecto bloßstellte, so hatte sie doch als Alterna­tive nichts anzubieten außer zentraler Planwirtschaft.
Bevor das NÖS auf der Wirtschaftskonferenz der SED im Juni 1963 beschlossen wurde, war partei­intern das Konzept ausgearbeitet worden, namentlich der »Grundriss zur Schaffung eines in sich geschlossenen Systems ökonomischer Hebel«. Als solche Hebel galten die monetären Kategorien, sie sollten bedient werden, und zwar in den Planbehörden der Volkswirtschaft, um rationales, wirtschaftliches Handeln an der Basis zu stimulieren. Durch Prämien sollten Anreize für höhere Arbeitsleistung geschaffen, durch Preise die Nachfrage gesteuert oder bestimmte Produktionszweige durch die Vergabe günstiger Kredite gestärkt werden. Um die gewünschte Hebelwirkung zu erzielen, mussten aber die Preise aller sozialistischen Waren genau bestimmt werden, ein Problem, das ausgiebig diskutiert wurde und nirgends im sozialistischen Ostblock befriedigend gelöst werden konnte, auch nicht durch das NÖS, wonach der Markt zumindest einen Teil der Preisbildung übernehmen sollte.
Neben der Aufwertung der monetären Kategorien zu Hebeln gab es im NÖS eine weitere wesentliche Änderung. Statt, wie bisher, auf eine neue Qualität der Wirtschaft zu zielen, wurde nun die Effizienz derselben zum Ziel erklärt. Dieser Paradigmenwechsel schien notwendig geworden, nachdem die DDR Anfang der sechziger Jahre in puncto Pro-Kopf-Produktivität und Pro-Kopf-Konsum deutlich hinter der BRD zurückgeblieben war. Um die Produktivität zu erhöhen, wurden die wirtschaftlichen Akteure mit größeren Befugnissen ausgestattet und in die Verantwortung genommen, etwa indem Betriebe am Gewinn oder Verlust beteiligt wurden. Effizient sollte auch der Außenhandel werden. Da die Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft auf dem Fortschritt der Produktivkräfte beruhe und die »Wissenschaftlich-Technische-Revolution« (WTR) hauptsächlich im kapitalistischen Westen stattgefunden habe, müssten, so Ulbrichts Kalkül, die Handelsbeziehungen mit dem Westen intensiviert werden.

Dieses Kalkül sorgte in Moskau für erhebliche Verstimmung. 1965 flog Leonid Breschnew nach Berlin, um vor der Sitzung des Politbüros der SED Einzelgespräche zu führen und eine moskautreue Fraktion um Erich Honecker gegen Ulbricht zu postieren. Honecker nahm die ihm offerierte Rolle an: Kein Keil, so proklamierte Honecker wenige Tage später im Politbüro, dürfe zwischen die DDR und die Sowjetunion getrieben werden. Das Politbüromitglied Erich Apel, einer der Schöpfer des NÖS, nahm sich wenige Tage später das Leben. Im Januar 1968 wurde das Ende des NÖS besiegelt. Noch vor dem Prager Frühling wurde es durch das »Ökonomische System des Sozialismus« (ÖSS) ersetzt, worin die monetären Kategorien weiterhin goutiert, jedoch die zentrale Planung gegen die betriebliche Selbstverantwortung akzentuiert wurde.
Die Bevölkerung sollte von den Konflikten möglichst wenig bemerken, das ÖSS wurde als Weiterentwicklung des NÖS präsentiert und die Neuauflage von Ulbrichts gesammelten Reden zum NÖS verändert. Lautete der Buchtitel 1966 »Zum Neuen ökonomischen System der Planung und Leitung«, so trug die Neuauflage von 1968 den Titel »Zum ökonomischen System des Sozialismus in der DDR«. Der Inhalt wurde gekürzt, durch Sperrdruck die Seitenzahl aber der Originalausgabe angeglichen. Darüber hinaus sah sich Ulbricht im ideologischen Apparat des Ostblocks den Vorwürfen ausgesetzt, den wirtschaftlichen Profit höher zu schätzen als die soziale Gerechtigkeit und auf Seiten der Nationalökonomie und nicht des internationalistischen Marxismus-Leninismus zu stehen. Letzterer Vorwurf basierte zumindest auf keiner Lüge, wie Ulbrichts federführender Ökonom Helmut Koziolek nach dem Mauerfall betonte. Ulbricht habe zuerst immer an die eigene Bevölkerung gedacht und Breschnew einmal entschlossen ins Gesicht gesagt: »Die DDR ist nicht Bjelorussland!«
Mit dem Prager Frühling und seiner Niederschlagung war Ulbrichts Schicksal besiegelt. Breschnew bekämpfte die Fliehkräfte im Ostblock entschieden, wollte nach den Prager Ereignissen aber Aufsehen vermeiden. Die maßgeblichen Ökonomen des NÖS wurden, sofern sie nicht an ihren »konterrevolutionären« und »revanchistischen« Ideen festhielten, in den ideologischen Mittelbau zurückversetzt. Ulbricht versuchte, sich zu retten, ordnete seine Außenpolitik derjenigen der SU unter und bezeichnete die Prager Reformversuche öffentlichkeitswirksam als »impe­rialistische Empfehlungen«. Als Gegenleistung wurde ihm ein ehrenvoller Abschied ermöglicht. Er musste freiwillig gehen, »aus gesundheitlichen Gründen«.
Sein Nachfolger wurde 1971 Honecker, noch im selben Jahr wurde eine Umorientierung in der Wirtschaftspolitik beschlossen. An Stelle des NÖS und des ÖSS trat die »Entwickelte Sozialistische Gesellschaft« (ESG), an Stelle der WTR trat die »Materiell-Technische-Basis« (MTB), in die von nun an investiert wurde. Tatsächliche Änderungen betrafen den Außenhandel, der sich nun wieder voll auf die SU orientierte, und die wirtschaftspolitische Ausrichtung. Anstelle des Primats der Rentabilität trat das Primat des Sozialen. Nachdem unter Ulbricht die Produktivität wesentlich und der Konsum nur unverhältnismäßig leicht gestiegen waren, trat unter Honecker das Gegenteil ein. Honeckers Sozialpolitik ging jedoch mit einer fatalen Staatsverschuldung einher. »Frage an Radio Eriwan: Stimmt es, dass es im Kommunismus kein Geld mehr geben wird? Radio Eriwan antwortet: Im Prinzip ja. Im Sozialismus wird bereits alles ausgegeben.«