Die Bilder der Proteste von der Französischen Revolution bis Brasilien

Aufstand der Zeichen

Über die Bilder der Proteste, ihre Sujets und Subjekte.

Die Leute wehren sich gegen Fahrpreiserhöhungen, gegen eine korrupte Politik der Armutsverwaltung, wollen mehr vom Leben. Das ist unmittelbar sympathisch, braucht keine Illustration. Dann sieht man aber im Fernsehen, wie dieselben Leute sich mit Nationalfarben die Gesichter bemalen und die alten Parolen der Militärdiktatur aufgreifen. Ist das, was jüngst in Brasiliens Metropolen zu beobachten war, die neue Politik einer globalen Multitude?
Was über die gegenwärtigen Protestbewegungen an Informationen geliefert wird, ist Produkt einer medialen Transformation: Unabhängig von der faktischen Brisanz der Proteste, generieren diese Images »Pseudo-Events«. Sie werden, mitunter auch von den Protestbewegungen selbst, mit »Geschichtszeichen« verwechselt; tatsächlich kontaminieren die Medienbilder jede Geschichte. Dennoch bleibt das Vertrauen, dass die Nachrichtenbilder, die über die Revolte verbreitet werden, authentische Momente ermächtigender Erfahrung vermitteln und eben nicht nur Spiegelungen der bestehenden Ordnung sind. In der Logik des Spektakels aber erstarren die Proteste in ihren Repräsentationen zum bloßen Aufstand der Zeichen.

Was weiß man über die Absichten, über die Beweggründe, die Hoffnungen und Wünsche der Protestierenden? Formiert sich hier im emphatischen Sinne Subjektivität, sind die Proteste der Anfang einer Revolution und sind die Protestierenden insofern revolutionäre Subjekte? Es ist charakteristisch für die der neueren Protestbewegungen, dass sich diese Fragen nicht mehr in der Praxis, in der lebendigen Auseinandersetzung der Subjekte selbst beantworten, sondern in den medialen Bildern, und dort auch tendenziell immer schon als beantwortet erscheinen.
Das Verhältnis von Bild und Revolution, besser von Image und revolutionärem Ereignis, ist ein dialektisch-allegorisches, zwischen Realabstraktion und konkreter Metapher schwankend: Was zeigen die Images, die als Darstellungen von Revolutionen und Revolten in die Geschichtsbücher eingegangen sind?
Die Französische Revolution 1789 schuf ihre Bilder noch im Medium von Malerei und Zeichnung. Die diversen in Öl und Kreide festgehaltenen Darstellungen vom Sturm auf die Bastille belegen nachträglich, was die Geschichte erzählen soll: »Das französische Volk ging auf die Barrikaden«; zu sehen ist eine Menschenmenge, die sich gegen die Mauern der bereits in Rauch und Flammen stehenden Bastille schiebt.
Anders Eugène Delacroix’ berühmtes Bild »Die Freiheit führt das Volk« zur Julirevolution 1830, das die barbusige Marianne mit der Tricolore in der Hand zeigt: Hier geht es nicht um die Illus­tration eines Aufstands, der sozialpsychologisch höchstens die Wut der Menschen abzulesen ist, sondern dieser wird in zweierlei Hinsicht problematisiert: wie sich »das Volk« über die Freiheit politisch konstituiert und wie die »Idee der Freiheit« als Konstituierendes erscheint. Gezeigt wird das revolutionäre Subjekt der bürgerlichen Revolution, dessen revolutionäre Absicht und Utopie.
Mit der bürgerlichen Gesellschaft als wesentlich von kapitalistischen Produktionsverhältnissen abhängiger Struktur verändert sich auch das revolutionäre Subjekt, das Karl Marx aus logischen (und nicht moralischen) Gründen mit dem Industrieproletariat identifiziert. Nur: Wenn das Prole­tariat Revolution macht – wie und in welchen Konstellationen wird das sichtbar? Und wie wird das Revolutionäre dieser Subjekte anschaulich?
Die Fabrik ist der Ort des Klassenkampfes (Streik, Besetzung etc.), aber nicht der Ort der Revolution: Das bleibt die Straße, die Stadt, der po­litische Raum und die dazugehörige – bürgerliche – Öffentlichkeit. Von Anfang an waren damit allerdings die Vorstellungsbilder der Aufständischen und des Aufstands von den Instanzen der bürgerlichen Öffentlichkeit abhängig. Die Fotografie fungiert hier als Instrument der Propaganda und wird in diesem Sinne das erste Mal während der Pariser Kommune 1871 eingesetzt: Mit gefälschten Fotografien wurde das aufständische Proletariat verunglimpft.
Erst nach dem Ersten Weltkrieg machen progressive Kräfte die Techniken der Repräsentation auch für die Revolution nutzbar, verwandeln die Medientechnik selbst in ein revolutionäres Werkzeug und fordern das Proletariat auf, sich mit Verfahren der Bildmontage vertraut zu machen: Die Arbeiterfotografie bildet den Klassenkampf nicht einfach ab, sondern wird zum Erkenntnismittel der Emanzipation. Mit der politischen wie technischen Gleichschaltung der standardisierten Sensationsmedien werden jedoch solche Experimente eliminiert.
Erst in den siebziger Jahren gelang es erneut, sich Medien auf einer breiten Basis linker Politik anzueignen. Gegen die Ikonographie der bürger­lichen Presse inszenierte eine linke Medienpraxis Bilder, die allein über Abbildungen der Protestbewegungen hinausgingen: Sie dokumentierten nicht bloß eine Sammlung von politischen Verbindlichkeiten und Parolen, sondern gestalteten den konkreten Entwurf eines anderen Lebens, Utopie und Kritik gleichermaßen.
Gleichwohl konnten auch diese Bilder technisch neutralisiert werden: Sie wurden als Stereotype entsubjektiviert, auf Illustrationen privatistischer Lifestyles reduziert. So war Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre die repräsentative Bilderordnung wieder weitgehend hergestellt. Von den radikalen Strategien linker Gegenöffentlichkeit blieb nur, bisweilen schlichtweg naiv, der auf die technische Verfügbarkeit bezogene Medienoptimismus übrig.

Mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus und dem teuer erkauften Sieg des korporativen Kapitalismus vor einem Vierteljahrhundert haben sich die Felder der Politik und des Politischen in jeder Hinsicht verändert, verschoben, wenn nicht sogar verkehrt. Inwieweit die Transformation des Politischen auch für die neueren Oppositions- und Protestbewegungen kennzeichnend ist, lässt sich an (mindestens) zwei großen, miteinander verschränkten Theoremen darstellen: zum einen die zusammenfassende Benennung aller irgendwie rebellierenden, dissidenten und delinquenten Gruppen als Multitude, wie es Toni Negri und Michael Hardt mit ihrem Buch »Empire« in einigen Kreisen beliebt gemacht haben; zum zweiten die Neukonzeption des Politischen, das, von seiner ursprünglichen Bindung an den Staat und das Staatliche vollständig gelöst, vielmehr sogar im Gegensatz dazu, die Rekonstitution einer gemeinschaftlichen wie vergemeinschaftenden Bindungskraft bezeichnen soll, eingebettet überdies in eine affirmativ gewendete »Ästhetisierung« (so zum Beispiel der französische Philosoph Jacques Rancière; andere, weniger affektiert-manierierte, dafür aber bisweilen simpel-aktionistische Varianten dieses Theorems verteidigen etwa – bei allen Unterschieden – John Holloway und David Graeber). Versehen mit einem ganzen Arsenal von plakativen Begriffen – von »Prekariat«, »die Empörten« über die großspurige Parole vom »kommenden Aufstand« eines »unsichtbaren Komitees« bis zu den bestürzenden und unheimlichen Beschwörungen des »Volkes« und des »Erwachens der Geschichte« (Alain Badiou) –, lassen sich mit der Spinoza entwendeten Rede von der Multitude und dem appropriierten Carl-Schmitt-Wort des »Politischen« ohne weiteres der »arabische Frühling«, die »Occupy«-Bewegung und die Proteste in Griechenland, in Spanien, jüngst in der Türkei, in China und nun in Brasilien auf einen Nenner bringen: Der von Banken, Managern und korrupten Staatsangestellten mit voller Absicht in die Krise manövrierte Kapitalismus werde nun als Realdemokratie instand gesetzt und repariert, direkt, von der Basis, auf der Straße.
Diese Form des Politischen der Multitude agiert unmittelbar anschaulich, aber nicht in Hinblick auf Kritik oder Utopie, Theorie oder Praxis, Vergangenheit oder Zukunft, sondern in Hinblick auf die anschauliche Unmittelbarkeit der – eben im buchstäblichen Sinne – Demonstrationen. Anders gesagt: Die Multitude demonstriert redundant – indem sie sich selbst demonstriert, als Multitude.
Freilich lässt sich einwenden, dass das nur annähernd die vielen Diskussionen, die Kontroversen und Probleme der Protestbewegung erfasst: Die lebendigen, produktiven, radikalen Debatten würden in den Medien bekanntlich nicht gezeigt, ausgeblendet, verheimlicht, Nachrichten und Berichte lieferten Informationen, zielten ohnehin auf Suspense, müssten sich verkaufen. Und immerhin böten Internet und Handyfotos leichte Interventionsmöglichkeiten für eine aufklärende Gegenöffentlichkeit, plus Vernetzung.
Auf dieses Deutungsmuster gegenwärtiger Protestbewegungen setzen weniger die Bewegungen selbst, als vielmehr eine Reihe von Protestfeuilletonisten, die das interessierte akademische Publikum mit allerhand Theoriechen versorgen. Sie verlängern damit eine identitäre Repräsentationspolitik, die sie vor zwei, drei Jahrzehnten noch zu dekonstruieren behaupteten; jetzt wird affirmativ am Universum technischer Bilder gerühmt, was früher – völlig zu Recht, keine Frage – am Cluster von »›Race‹, Class & Gender« in­kriminiert wurde: nämlich, dass Repräsentationspolitik nicht »Identität« schützt, sondern sie als falsche erst herstellt und hegemonialisiert.
Umstandslos wird sich der empirischen Daten bedient. Behauptet wird, dass die Bilder der Protestbewegungen mit den Protestbewegungen identisch seien; wer indes die Bilder kritisiert, kritisiert die Bewegung und handelt sich den Verdacht ein, nicht nur gegen die Proteste zu sein, sondern auch gegen ihre Absichten und Ziele.
Ein bisschen mutet das wie eine schlechte Invertierung der Marxschen elften Feuerbachthese an: Statt die Welt zu verändern, interpretieren die Philosophen wieder – nur diesmal nicht die Welt, sondern eben die prekären Versuche der Weltveränderung. Und ob es sich dabei tatsächlich um Weltveränderung handelt, ist dann von der Gunst der Interpretation abhängig. Aber man zeigt sich gewillt, die Zeichen wohlwollend zu deuten!

»Der Faschismus«, schrieb Walter Benjamin 1936, »versucht, die neu entstandenen proletarisierten Massen zu organisieren, ohne die Eigentumsverhältnisse, auf deren Beseitigung sie hindrängen, anzutasten.« Der Faschismus gibt also den Massen lediglich einen »Ausdruck«; die Eigentumsverhältnisse werden derart konserviert. Genau das nannte Benjamin die »Ästhetisierung des politischen Lebens«. Benjamin hatte Recht mit seiner Diagnose, dass »alle Bemühungen um die Ästhetisierung der Politik (im) Krieg (…) gipfeln«.
Im Zeitalter des demokratischen Regimes wird allerdings auch der »Ausdruck« der Massen demokratisiert; die »Bemühungen um die Ästhetisierung der Politik« gipfeln nunmehr in einem Ausnahmezustand, der Krieg sein kann, aber nicht sein muss (es reicht unter globalen Bedingungen der Stellvertreterkrieg). Entscheidend ist: Demokratisiert werden die Massen nicht politisch, sondern ästhetisch, eben in ihrem Ausdruck, nämlich in der Möglichkeit, sich selbst als Masse repräsentieren zu können. Mit anderen Worten: Was immer Menschen dazu bewegt, auf die Straße zu gehen und zu protestieren, sich zu engagieren, Stellung zu beziehen, und wie sehr es auch – spontane oder organisierte – Gruppen sein mögen, die sich auf den Plätzen versammeln: Zu einer demonstrierenden Masse, zu einer Mul­titude des politischen Protests werden sie erst, wenn sie fotografiert, gefilmt oder sonstwie medial repräsentiert werden, und das heißt als Masse zur Informationseinheit werden. Die Revolu­tion, die sie als Subjekte im Sinn haben mögen, verflüchtigt sich zum Aufstand der Zeichen.