Redaktion sinal de menos im Gespräch über Möglichkeiten der Radikalisierung der Proteste inland

»Es grassiert ein nationalistisches Fieber«

Ein Interview mit Claudio R. Duarte, Daniel Cunha, Felipe Drago, Joelton Nascimento, Raphael F. Alvarenga und Rodrigo Campos Castro von der Redaktion der wertkritisch-situationistischen Zeitschrift Sinal de Menos (Minuszeichen) aus São Paulo.

Fahrpreiserhöhungen für den Stadtverkehr haben Zehntausende in den brasilianischen Großstädten auf die Straße gebracht. Formiert sich hier eine soziale Bewegung?
Eine erste Welle des Protests gab es zwischen Februar und April in Porto Alegre, sie richtete sich gegen die Stadtentwicklungspolitik im Zuge der Vorbereitungen für die Fußballweltmeisterschaft 2014. Der Protest wurde hier von einer heterogenen Mischung aus Parteilinken, Anarchisten, Studentengruppen und anderen getragen. Anfang Juni spitze sich dann die Lage in São Paulo zu, als der MPL für den öffentlichen Nahverkehr eine Fahrpreisminderung von 20 Centavos forderte. Die Mainstream-Medien diffamierten die Protestierenden als »Vandalen«, die Militärpolizei ging von Anfang an rabiat vor. Am 13. Juni eskalierte die Gewalt, die Polizei prügelte drauflos; selbst ei­nige Journalisten der bürgerlichen Presse wurden schwer verletzt. Die Medien änderten ihre Berichterstattung und mobilisierten nun große Teile der individualistischen und apolitischen Mittelschicht: Wenige Tage später, am 17. Juni, standen in Brasiliens Großstädten Hunderttausende auf den Straßen.
Damit veränderte sich aber auch grundlegend der Charakter der Protestbewegung. Initiiert von den etablierten Medien, wurde eine radikale Linksbewegung in einen allgemeinen Protest gegen »Korruption« verwandelt. Zum Hauptangriffsziel wurde nun auf einmal der PT, der mit »linker Po­litik« identifiziert wurde. Die demokratischen Forderungen verpufften ebenso wie alle kapitalismuskritischen Elemente des ursprünglichen Protests; die Fahrpreiserhöhungen waren kein Thema mehr. Auch die Verbindungen zur »Recht auf Stadt«-Bewegung wurden gekappt. Und um die prekären Lebensbedingungen der Arbeiter in den Großstädten ging es jetzt gar nicht mehr.
Was aus der Protestbewegung wird, lässt sich schwer sagen. Die reaktionär-konservativen Medien setzen vorerst ihre Schmutzkampagne gegen die Linke insgesamt fort. Gleichzeitig versuchen aber auch gerade große Teile der radikalen Linken sich zu organisieren – gegen den PT als Regierungspartei, die Rechte, gegen Staat und Kapital. Für den 11. Juli wurde zum landesweiten Generalstreik ausgerufen. Wir von Sinal de Menos sehen unsere Aufgabe darin, sowohl die Kritik am Kapitalverhältnis als auch die Forderungen der Bewegung zu radikalisieren; hierbei verfolgen wir die Strategie der »bestimmten Negation«. Eine Gefahr bleibt aber vorerst die Ausweitung der reak­tionären Tendenzen in der Bewegung, die populistische Hetze der Medien gegen den PT wie auch gegen Sozialisten und Libertäre überhaupt.
Ähnliche Bilder kennt man aus der Türkei, aus Griechenland, Spanien, vom »arabischen Frühling«. Gibt es Ähnlichkeiten zwischen diesen Protesten?
Vor allem in Zeiten der Krise hat zweifellos der globale Kapitalismus auch hier seinen Einfluss. Dennoch haben die Proteste in Brasilien wenig zu tun mit dem »arabischen Frühling«; auch gibt es kaum signifikante Parallelen zu den Ereignissen in Griechenland oder Spanien. Im Gegensatz zum »arabischen Frühling« oder, aktuell, zu den Protesten in der Türkei wird in Brasilien nicht gegen ein autoritäres Regime gekämpft, sondern gegen eine Linksregierung, die vollständig ihren Bezug zur Basis verloren hat. Und anders als etwa der Protest der Empörten in Europa problematisieren die Proteste in Brasilien keine ökonomische Krise. Ohnehin ist Brasiliens Wirtschaft gerade vom ökonomischen Aufschwung und relativ geringer Arbeitslosigkeit geprägt. Insgesamt ist die Bewegung aber weit davon entfernt, tatsächlich antikapitalistisch zu sein.
Gibt es bei den Protesten dennoch eine das System transzendierende Perspektive? Kann sich die Protestbewegung noch radikalisieren?
Auch wenn die Umlenkung auf den »Kampf gegen Korruption« eine Art Entmachtung durch Moralisierung darstellt, Inhalte eher neutralisiert und die Proteste vernebelt, diffus macht, kann man für die gegenwärtige Situation durchaus sagen, dass es immer noch die Möglichkeit einer Radikalisierung des Widerstands gibt. Es kommt aber darauf an, inwieweit sich die Proteste auf eine systemtranszendierende Perspektive der reflektierten, also »bestimmten Negation« einlassen.
Es fällt auf, dass sich die Protestierenden immer wieder auf Brasilien als Staat und Nation berufen, dass die vorherrschenden Farben des Protests die der brasilianischen Nationalfahne sind: Grün und Gelb.
Tatsächlich grassiert ein ultranationalistisches Fieber, von dem sich vor allem eine unpolitische Mittelschichtsjugend anstecken lässt. Einige sprechen hier schon vom »Grün-und-Gelb-Faschismus«, ein Nationalismus, der im Übrigen auch von den Mainstream-Medien ohne weiteres propagiert wird: Für die Fernsehbilder wurde die Masse inszeniert, wie sie, stolz die Nationalhymne singend, sich selbst als der neue »erwachte Riese« (»O gigante acordou« war eine Losung der Militärdiktatur, Anm. d. Red.) feierte, während neofaschistische Banden mit Messern bewaffnet durch die Straßen zogen und rote Fahnen verbrannten, Linke bedrohten und sie mitunter aus den Demonstrationen rausprügelten – von der sogenannten Multitude wurde das alles nur gelangweilt und mit Herablassung beobachtet.
Gibt es trotzdem Hoffnung? Oder bleibt auch weiterhin, wie schon für Adorno vor 50 Jahren, die »Praxis auf unabsehbare Zeit vertagt«?
Praxis ist der Versuch, die verdinglichten Strukturen zu durchbrechen. Aber solange es keine klare Organisation des Protests gibt, ist zumindest die radikale, das System grundlegend in Frage stellende Praxis auf unabsehbare Zeit vertagt.
Nicht vergessen werden sollte aber, wie die Proteste entstanden sind, nämlich aus einer progressiven »Recht auf Stadt«-Bewegung. Die Hoffnung bleibt, dass diese Bewegung wieder stärker wird, sich organisiert und damit auch eine radikale Praxis etabliert. Derzeit scheint uns aber die Gefahr einer konservativen Wende der Bewegung größer zu sein; schon jetzt werden die Rufe nach einem starken Staat lauter, wird vereinzelt sogar das Eingreifen des Militärs gegen Korruption gefordert. Paradox steuern damit Teile der Bewegung offensiv auf ihre eigene Entmachtung und Unterdrückung zu. Für die radikale Linke gilt also an mehreren Fronten die Parole: Der Kampf geht weiter – jetzt!
http://sinaldemenos.org