Über Geheimdienste, Spionage und internationale Terrorbekämpfung

Der Spion, der nach Damaskus kam

Ein moderner Geheimdienst sorgt sich auch um die Umwelt, dient aber weiterhin der »nationalen Sicherheit«. Das kann auch die Kooperation mit Diktaturen erfordern.

»Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen«, soll Jesus einst gepredigt haben. Der 32. Vers aus dem achten Kapiel des Johannes-Evangeliums ziert das Foyer des ersten Hauptquartiers der CIA und sollte nach deren Angaben »die nachrichtendienstliche Mission in einer freien Gesellschaft charakterisieren«. Als passenderes Motto könnte man »Wo zwei oder drei versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen« (Matthäus 18:20) betrachten. Doch seit der Zeit Präsident Harry S. Trumans hat sich einiges verändert, heute würde kein Bibelspruch mehr verwendet. So verweist die National Security Agency (NSA) auf ihre Antidiskriminierungspolitik und Auszeichnungen als »Top Government Employer« durch das Black EOE Journal, das Hispanic Network Magazine und das Professional Woman’s Magazine. Auch einen Umweltpreis hat die NSA erhalten; dass der Geheimdienst im Jahr 2008 CPUs mit einem Gesamtgewicht von 615 Tonnen recycelt hat, spricht allerdings für eine starke Beanspruchung der Computer.
Denn nichts geändert hat sich an den Aufgaben der Geheimdienste. Sie dienen der »nationalen Sicherheit«, ein dehnbarer Begriff, der weit mehr als Terrorismusbekämpfung und Spionageabwehr umfasst. In den sechziger Jahren wurden in den USA Martin Luther King und andere Bürgerrechtler überwacht, aber auch nach Homo­sexu­ellen im höheren Staatsdienst wurde gefahndet, da diese als erpressbar galten. Nun gibt es nicht nur einen Martin Luther King Day und einen Christopher Street Day, Angehörige mancher damals überwachten Gruppen werden sogar bevorzugt als Überwacher eingestellt.

Einen Edward Snowden Day mit offiziellen Grußadressen hingegen wird es wohl auch in Zukunft nicht geben. Es unterliegt dem politischen Wandel, welche Nationen, Gruppen und Personen als Gefahr für die »nationale Sicherheit« eingestuft werden, dass eine solche Einstufung vorgenommen wird, gehört jedoch zum Kernbereich der Souveränität, auf die kein Staat verzichten will. Auch in der bürgerlichen Demokratie gibt es einen bürokratischen Herrschaftsapparat, der sich parlamentarischer Kontrolle entzieht und dessen Bloßstellung als Verbrechen gilt, sofern die Enthüllung nicht im nationalstaatlichen Konkurrenzkampf als nützlich erscheint.
Edward Snowden bleibt daher nichts anderes übrig, als sich an Staaten wie Venezuela zu wenden, die derzeit Konflikte mit den USA haben. Ein whistleblower, der eine Liste iranischer Schmiergeldempfänger des venezolanischen Ölkonzerns PDVSA ergattert hätte, würde hingegen in den USA wohlwollende Aufnahme finden. So läuft das Geschäft, und es wirkt bizarr, dass Kritiker Snowdens, die gegen staatliche und private Geschäfte mit weit dubioseren Regimes als dem venezolanischen nichts einzuwenden haben, dem whistle­blower nun seine Asylgesuche vorwerfen.
Snowdens Enthüllungen betrafen bislang nur die Überwachungspraktiken innerhalb der westlichen Welt. Naive Gemüter mag es überrascht haben, dass Verbündete einander überwachen, doch Staaten haben keine Freunde. Andererseits kooperieren sie auch in Geheimdienstbelangen, und zwar nicht nur unter Verbündeten, wie Snowden jüngst dem Spiegel hinsichtlich der USA und Deutschlands bestätigte, sondern auch mit offiziell als Gegner deklarierten Staaten.

So besuchte Gerhard Schindler, der Präsident des Bundesnachrichtendienstes (BND), im Mai Syrien. »Es soll um die Wiederaufnahme der Zusammenarbeit beider Länder im Geheimdienstbereich gegangen sein«, berichtete die ARD. Deutschland und die USA haben vor dem Beginn des Bürgerkriegs Terrorismusverdächtige in Syrien foltern lassen. Eine Überstellung von Gefangenen ist derzeit aus praktischen Gründen schwierig, moralische Bedenken gibt es jedoch offenbar nicht und man muss annehmen, dass Schindler im Einvernehmen mit US-Behörden im Rahmen geheimdienstlicher Arbeitsteilung handelte.
Die Ansicht, die Überwachung sei halb so schlimm, da sie ja im demokratischen Rahmen ablaufe, ist daher bestenfalls naiv. Facebook ist nur so lange ein sicheres Kommunikationsmittel für arabische Revolutionäre, wie die USA die Daten nicht weitergeben. Oppositionelle in den Golfmonarchien müssen bereits jetzt damit rechnen, Opfer geheimdienstlicher Kooperation zu werden, obwohl der Sturz dieser Königshäuser, die Jihadisten in aller Welt finanzieren, ein weit wirksamerer Beitrag zum Kampf gegen den islamistischen Terror wäre als jede Überwachungsmaßnahme. Überdies wurde Martin Luther King zwar rehabilitiert, doch weiterhin unterliegen der Überwachung auch in demokratischen Staaten Oppositionelle, denen keine oder nur geringfügige Straftaten vorgeworfen werden.

Auch die Behauptung, die Überwachung sei notwendig für die Terrorismusbekämpfung, hält einer Überprüfung nicht stand. Selbst der NSA-Direktor Keith Alexander formulierte es Mitte Juni vorsichtig: Die Überwachung habe »geholfen«, mehr als 50 Anschläge in 20 Staaten zu verhindern. Doch die von der US-Regierung genannten Beispiele waren recht vage. So wurde Najibullah Zazi, der einen Anschlag auf die New Yorker U-Bahn plante, den Gerichtsakten zufolge durch konventionelle Polizeiarbeit überführt. Die Vorbereitung Khalid Ouazzanis für einen Anschlag auf die Börse in New York beschränkte sich auf einen Erkundungsgang, überdies ist auch in diesem Fall die Rolle der NSA unklar. Nachgewiesen wurde die Unentbehrlichkeit des Überwachungsprogramms noch in keinem einzigen Fall.
Dass Geheimdienste auch in demokratischen Staaten möglichst umfassend überwachen und die parlamentarische Kontrolle nirgendwo wirksam ist, war keine Neuigkeit. Zur Aufklärung tragen jedoch die Reaktionen auf Snowdens Enthüllungen bei, denn sie offenbaren ein überraschendes und erschütterndes Ausmaß an Staatsgläubigkeit und Unterwerfungsbereitschaft. Noch im 19. Jahrhundert galten Überwachung und Spitzelwesen als so schändlich, dass selbst eine autoritäre Regierung es sich nicht erlauben konnte, dafür Haushaltsmittel zu beantragen. Otto von Bismarck bediente sich daher des beschlagnahmten Vermögens der 1866 besiegten Welfen, um einen rudimentären Inlandgeheimdienst aufzubauen, der unter Adligen, Arbeiterführern, Geistlichen und Journalisten Informanten und Einflussagenten anwarb. »Wir verdienen Ihren Dank, wenn wir uns dafür hergeben, bösartige Reptilien zu verfolgen bis in ihre Höhlen hinein, um zu beobachten, was sie treiben«, rechtfertigte sich Bismarck 1869 vor dem Parlament. Mit Erfolg, sein »Reptilienfonds« wurde legalisiert.
Verschwunden ist seitdem der bürgerliche Anstand, es gilt nicht mehr als ungebührlich, im Privatleben seiner Mitmenschen herumzuschnüffeln. Der digitale Exhibitionismus spielt zweifellos eine Rolle bei der Akzeptanz des Überwachungsstaats, dass der Bürger des 21. Jahrhunderts in sozialen Medien als Individuum posiert, sich aber konformistischer verhält als seine Vorfahren, ist jedoch Ausdruck eines grundsätzlicheren Problems. Verschwunden ist auch das bürgerliche Selbstbewusstsein, dessen Grundprinzip das Misstrauen gegenüber der Staatsgewalt ist. Die meisten Deutschen und Amerikaner wollen gar nicht wissen, was ihre Geheimdienste in Syrien treiben, und zu Recht gehen sie davon aus, dass sie selbst nichts zu befürchten haben. Denn man muss zumindest kritisch denken, um das Interesse des Geheimdiensts zu wecken. Viele Bürger des 21. Jahrhunderts aber haben wirklich nichts zu verbergen.