Der Fall Snowden in der deutschen Debatte

Unser Mann in Moskau

Asyl, Zeugenschutzprogramm, Friedensnobelpreis – deutsche Politiker haben Großes vor mit Edward Snowden. Sein Fall dient ihnen dazu, zu kurz gekommene nationale Ambitionen zu befriedigen.

Früher, als bekanntlich alles einfacher war, bedingte der Verrat an den einen die Loyalität gegenüber den anderen. Ein Verräter wechselte die Seiten und stellte Eindeutigkeit her, die sich der Existenz mindestens zweier als different, ja gegensätzlich verstandener politischer Lager verdankte. Archetypus jenes Verräters war der Überläufer, eine zumeist in Politik und Militär beheimatete Person, die bereit war, der jeweils anderen Seite wesentlich mehr Respekt, Engagement oder vor allem persönliche Opferbereitschaft zu gewähren als den sogenannten eigenen Leuten.
Der Überläufer verkörperte menschliche Freiheit schlechthin, denn er hatte eine Wahl getroffen, hatte unter Beweis gestellt, dass seine Existenz, und somit auch die aller anderen, nicht unauflöslich mit der jeweiligen nationalen Folklore und Staatsideologie verbunden war. Nicht selten hatte dieser Verräter seine Laufbahn als Idealist begonnen, war zunächst überzeugter Anhänger der Ziele seines Herkunftsstaates gewesen und hatte schließlich unter dem ernüchternden Eindruck des Widerspruchs zwischen politischem Ideal und praktischer Realität seinen zumeist einsamen Entschluss gefasst. Bisweilen hatte er die Wahl auch schon früher getroffen und gezielt eine ebenso glänzende wie subversive Karriere in den Apparaten seines frei gewählten Feindes hingelegt.

Die neue Heimat des Überläufers war in der Regel stets bereit, dessen persönliche Risiken und ­Opfer generös zu entgelten. Wer als enttarnter Verräter endlich die Glienicker Brücke bei Berlin, wo die USA und die Sowjetunion im Kalten Krieg 40 Agenten austauschten, in die eine oder die andere Richtung überquert hatte, bekam als Held gesellschaftliches Ansehen und ein ordentliches Gnadenbrot. Manchem soll das nicht bekommen sein, abermalige Desillusionierung, Depressionen und Alkoholismus werden dann die Folge.
Heutzutage, wo bekanntlich alles schwieriger ist, scheint der Verrat an den einen paradoxerweise die Loyalität zu denselben zu bedingen. In einer Welt, in der die anderen nur noch als Phantome existieren, in der alle bedeutenden Mächte sich gleichermaßen zu Demokratie und erbarmungsloser marktwirtschaftlicher Effektivität bekennen, scheint dem über die sozialen Tatsachen empörten Idealisten nur noch der Weg ins eigene Lager offenzustehen, dorthin, wo sein Idealismus einst entsprang – freilich ohne dass er und seine Sympathisanten dies als Rück- oder Irrweg erkennen könnten. »Ein Mann tut etwas, was in der besten Tradition des Westens steht, was den Westen so richtig erst begründet hat: Er klärt auf, er weist auf Missstände hin und öffnet die Augen. Das hat Edward Snowden getan. Aber was geschieht nun mit ihm?« Das ist »der Westen« als Western, wie ihn der Spiegel hier phantasiert: »Ein Mann« tut, was er tun muss, indem er die »Tradition des Westens« gegen die machtgierigen Yankees aus Washington verteidigt. Das ist einer jener Western, in denen »ein Mann« fiese Gesetzeshüter auf den Fersen hat, zunächst bittere Demütigungen einstecken muss und beinahe um den Sieg im Showdown betrogen wird. »Die Führungsmacht des Westens, die USA, jagt ihn auf der ganzen Welt, und fast alle machen mit, vor allem der Rest des Westens«, schreibt der Spiegel. Im Western ermöglichen dann in letzter Minute die fast nicht mehr erwarteten Helfer doch noch den Triumph.

Diese sind allerdings bislang noch nicht eingetroffen. In der Tat ist Edward Snowden, dem aufgrund seines Eigensinns derzeit nichts anderes als uneingeschränkte Solidarität zukommen sollte, in der denkbar schlechtesten Situation: Gott und die westliche Welt, inklusive der Russischen Föderation, haben ihn nicht nur abgeschrieben, sondern sich offenbar verabredet, ihn in die paradoxe Existenz einer realen Unperson zu zwingen. Spätestens nach dem scheinheiligen Angebot des russischen Präsidenten Wladimir Putin, Snowden in Russland Exil zu gewähren, wenn er dafür jegliches den »Partner« USA schädigende Wissen zurückhalte, war deutlich: Aus dem Transitbereich des Moskauer Flughafens kommt er vorerst nicht heraus. Das erzwungene Verbleiben an diesem realen Nichtort mutet wie die Inszenierung einer sardonischen Strafaktion an: »Weil du unsere virtuellen Geheimnisse verraten hast, verurteilen wir dich zu permanenter Virtualität!«
Wenn heutzutage, völlig anders als etwa in den Jahren des Kalten Kriegs, der aus Gründen der Menschenfreundlichkeit begangene Verrat am angestammten staatlichen Souverän keinen Alternativsouverän als Adressaten mehr findet, wenn der idealistische Protest für eine bessere staatliche Ordnung sich nach innen statt nach außen wenden muss, stellt sich die Frage nach einem geeigneten Empfänger. Es können dies innerhalb der Staatenwelt wohl nur die bis dato untergeordneten Staaten sein, und innerhalb dieser Staaten – abgesehen von den südamerikanischen,
in denen Snowden eventuell unterkommen könnte, weil deren gegenwärtige Staatsideologie das Ressentiment gegen den US-Imperialismus ist – wiederum die derzeit nicht zum Zuge kommenden, gleichwohl den Staatszwecken und -zielen gegenüber loyalen politischen Kräfte. Diese allerdings sind in diesen Zeiten so heillos in die Aktivitäten der territorialen wie der globalen Herrschaft verstrickt, dass sie zwar noch laut »Komplott« schreien mögen, ein solches aber nicht anders als zur Beförderung eigener, bislang zu kurz gekommener Ambitionen wahrnehmen können.
Waren deutsche Kommentatoren zunächst von einer durch die internationale Machtkonstel­lation bedingten Vorherrschaft amerikanischer und britischer Geheimdienste ausgegangen und hatten sich gefragt, wie heimische Dienststellen dies durch Bespitzelung vor allem des transatlantischen Partners wettmachen würden, stellte sich nach und nach die Subordination vor allem der deutschen Dienste unter den US-Primat heraus. Kam die Nachricht, die US-Post scanne täglich sämtliche Adressen und Absender der von ihr beförderten Briefe zum Wohle der nationalen Sicherheit, wurde tags darauf kaum noch unerwartet gemeldet, die Deutsche Post verfahre ebenso. Einen Tag später bestätigte ein Sprecher der deutschen Post »eine Übermittlung von Daten im Zusammenhang mit Sendungen in die USA« und stellte klar: »Darüber hinaus stellen wir den amerikanischen Sicherheitsbehörden in seltenen Fällen und nur nach expliziter Aufforderung weitere Informationen über die Sendungen zur Verfügung.« Ja, ohne »explizite Aufforderung« läuft da gar nichts, böse Zungen würden sonst über vorauseilende Dienstfertigkeit lästern. Eine Eigenschaft, die man im übrigen deutschen Sozialdemokraten niemals absprechen würde.

Diese wiederum hatten sich in Gestalt ihres Bundesvorsitzenden Sigmar Gabriel und ihres Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück mit der Forderung hervorgetan, Snowden in einem deutschen »Zeugenschutzprogramm« zwecks bundesanwaltschaftlicher Ermittlungen gegen die USA unterzubringen. Überhaupt scheint die natio­nale Karte derzeit der Trumpf der deutschen Opposition zu sein, während die Regierungskoalition zwar Aufklärung fordert, aber tunlichst darauf achtet, das Verhältnis zur US-amerikanischen Regierung nicht zu belasten. Die Grünen möchten beispielsweise den »Whistleblower« aufnehmen, weil er »Deutschland einen Dienst erwiesen« habe, schließlich müssten »Bürger und Unternehmen« vor der Abhörung durch die USA geschützt werden. Katja Kipping, die Vorsitzende der Partei »die Linke«, will ihm gar den Friedensnobelpreis verleihen. Da stünde er dann in einer Reihe mit seinen Verfolgern Barack Obama (2009) und Europäische Union (2012).