Werkschau des chilenischen Regisseurs Alejandro Jodorowsky in München

Banditen, die mit Mönchen knutschen

Das Filmfest München widmete dem chilenischen Filmemacher Alejandro Jodorowsky eine Werkschau. Zu entdecken ist ein eigenwilliger Regisseur, dessen drastische Bildwelten selbst Fellini, Dalí und Buñuel zahm wirken lassen.

Der chilenische Filmemacher Alejandro Jodorowsky ist kein Mann zurückhaltender Worte. Seine Aussagen über das Verhältnis von Filmbild und psychedelischen Drogen wie auch die Interpretation seiner Arbeit als Ventil sexueller Energien (»Ich mache Filme mit den Eiern«) haben bei seinen Anhängern, die ihn wie einen Guru verehren, inzwischen Kultstatus. Auf dem Filmfest München, wo dem Filmemacher, Autor, Comic-Zeichner und Erfinder der obskuren Therapieform »Psychomagie« nun die erste umfassende Retrospektive gewidmet wurde, ätzte der inzwischen 84jährige gegen Steven Spielberg und die Warenideologie der Hollywoodindustrie und ließ sich gemeinsam mit seinem Verehrer Nicolas Winding Refn, der ihm seine beiden jüngsten Filme »Drive« und »Only God Survives« gewidmet hat (und dessen offensichtliches Kalkül ihn seltsamerweise nicht zu stören scheint), als letzten Mohikaner eines radikalen Kinos feiern. Außerdem stellte er sein neues Werk vor – er nennt es eine »mentale Atombombe«.
»La Danza de la Realidad«, Jodorowskys filmisches Comeback nach 23 Jahren und in seiner Heimatstadt Tocopilla gedreht, ist eine fiktive Autobiographie, eine bunte und karnevaleske Erzählung seiner Kindheit in Chile, in der die familiäre und politische Realität regelrecht zum Tanzen gebracht wird. Der Film hat einige schöne und einige schön schräge Momente, ist aber mit seinem Überschuss an »Freakness« und burleskem Surrealismus wie viele andere Arbeiten des Regisseurs streckenweise recht strapaziös. Als kapitalismuskritisches und antiinstitutionelles Statement ist »La Danza de
la Realidad«, der die politische Diktatur ebenso zum Thema macht wie die Tyrannei des patriarchalen kommunistischen Vaters, allerdings entwaffnend und in seiner Aufrichtigkeit und seiner Direktheit fast anrührend. Anrührend, wenn auch nicht frei von therapeutischem Kitsch, ist auch der Versuch, sich mit den Mitteln einer filmischen Familienaufstellung – drei Söhne des Regisseurs spielen mit, einer davon verkörpert den grimmigen Vater – mit der Vergangenheit auszusöhnen. Der Film versammelt die wesentlichen Motive der Ikonograpie Jodorowskys in einer etwas milderen Dosis: Zirkus, Pantomime, Herrscherfiguren, spirituelle Führer, Kleinwüchsige und Verkrüppelte sowie eine krude Mischung von Religion und Mystizismus. In gewisser Weise funktioniert »La Danza de la Realidad« fast wie ein Glossar zu Jodorowksys Werk: Was in vielen Filmen als bloße Verrücktheit, Obsession und Fetisch erscheint, wird hier in einen autobiographischen Zusammenhang gestellt.
Alejandro Jodorowsky wurde 1929 in Chile als Kind einer jüdischen Einwandererfamilie aus der Ukraine geboren. Im Film muss der feminine, blond gelockte Sohn unter dem gewalt­tätigen Regime des Vaters, der fürchtet, dass sein Sohn schwul ist, eine Männlichkeitsprüfung nach der anderen absolvieren. Alejandro ist ein Außenseiter, ein einsames Kind, das zudem mit antisemitischen Anfeindungen zu kämpfen hat. Also solidarisiert er sich mit anderen Außenseitern, den ehemaligen, verkrüppelten Minenarbeitern, die bei Grubenexplosionen Arme und Beine verloren haben. Die Verkrüppelten tauchen in allen Filmen
Jodorowskys auf; als ausgestoßene, unterdrückte, aber auch widerständigeFiguren. In dem auf einer Novelle von Thomas Mann basierenden Kurzfilm »Le Cravate« (1957), Jodorowskys Erstlingswerk, das 50 Jahre als verschollen galt und erst 2006 auf einem Dachboden in Deutschland wieder auftauchte, bestreitet die Hauptfigur ihren Lebensunterhalt mit dem Verkauf von neuen Köpfen an eine mit ihrem Aussehen unzufriedenen Kundschaft. Das Spiel der Darsteller ist reine Pantomime – Jodorowsky war 1953 nach Paris gegangen, um bei Étienne Decroux Pantomime zu studieren, bevor er sich der Gruppe von Marcel Marceau anschloss.
Jodoroskys drastische Bildwelten, sein Spiel mit Körpern, Körperöffnungen und -ausscheidungen, sind beeinflusst von der anarchistischen Avantgarde-Performance-Gruppe »Movimiento Pánico« (Bewegung Panik), deren Mitbegründer er war. Für Aufsehen sorgte 1965 das vierstündige Happening »Sacramental Melodrama«, ein den Performances der Wiener Aktionisten verwandtes Spektakel, bei dem Autowracks, nackte Frauen und Tiereingeweide verwendet wurden. Sein erster langer Spielfilm, »Fando Y Lis«, 1968 in Mexico nach einer Vorlage von Fernando Arrabal gedreht, verweist dagegen auf Luis Buñuels und Salvadore Dalís surrealistischen Klassiker »Ein andalusischer Hund«, hat aber auch deutliche fellineske
Anklänge. Doch anders als Fellini haftete Jodorowsky von Anfang an das Etikett des schlechten Geschmacks an, er war nie Teil des hochkulturellen Betriebs.
»El Topo« (1970) gilt als der erste Midnight-Kultfilm, ein Acid-Western, der die Konventionen des Genres (Revolverhelden, Schießereien, grenzenlose Landschaften) mit der Atmosphäre und visuellen Sprache der Gegenkultur (Anarchismus, fernöstliche Mystik, Psychedelik) verbindet. Es gibt Schießübungen mit Stöckelschuhen, Banditen, die mit Mönchen knutschen, spirituelle Trips und wüste Gewaltszenen. Die halluzinogene Stimmung des Films traf die Sensibilität der Zeit, John Lennon war begeistert und überzeugte seinen Manager Allen Klein, »El Topo« in den USA zu vertreiben und außerdem Jodorowskys nächsten Film finanziell zu unterstützen. Das Ergebnis war »Holy Mountain« (1973), ein surrealistisch-esoterischer Monumentalfilm, der ungefähr tausend Ideen zu viel hat. Einige davon aber bleiben wohl für immer haften, etwa Frösche und Leguane in Ritterkostümen, die die Eroberung Mexikos nachspielen. Nachdem sich Jodorowsky und Klein verkracht hatten, zog dieser beide Filme aus dem Verkehr, bis 2009 waren sie nur als Raubkopien erhältlich.
Jodorowsky drehte daraufhin nur noch zwei Filme, »Santa Sangre« (1989) und »The Rainbow Thief« (1990); für weitaus mehr Aufmerksamkeit sorgte jedoch ein Film, den er nicht machte: »Dune«. Die wilde Vorproduktionsgeschichte dieses verhinderten Films, der schließlich der Regie David Lynchs übergeben wurde, ist Gegenstand von Frank Pavichs Dokumentation »Jodorowsky’s Dune« (2013). Nach den Vorstellungen des Regisseurs sollte der Film zehn Stunden lang sein, als Ausstatter hatte er H. R. Giger verpflichtet, für die Filmmusik Pink Floyd. Beachtlich war auch die Besetzung: Orson Welles, Gloria Swanson und Salvador Dalí (er verlangte einen Stundenlohn von 100 000 Dollar und entwarf für seine Rolle als Herrscher einen Thron in Form einer Toilette). Als sich die Geldgeber aus dem Projekt zurückzogen, war fast ein Viertel des Budgets verpulvert; der französische Illustrator Jean »Moebius« Giraud hatte bereits ein komplettes Storyboard gezeichnet.
Jodorowskys Ideen zu »Dune« waren jedoch nicht ganz verloren, sie gingen in den Comic »L’Incal« (»John Difool«) ein, der in Zusammenarbeit mit Moebius und Zoran Janjetov entstand und nun gemeinsam mit Refn verfilmt werden soll. Heute ist das Scheitern des »Dune«-Projekts eine schön spektakuläre Geschichte, die Jodorowksy nur willkommen sein kann, zu gut passt sie in die Erzählung vom wahren Kinoradikalen.