Ägypten und seine wirtschaftliche Lage nach dem Sturz Mursis

Zum Scheitern verurteilt

Nach der Entmachtung der islamistischen Muslimbruderschaft in Ägypten durch das Militär hat der gesellschaftliche Konflikt einen Höhepunkt erreicht. Nun wurde eine linksliberale Übergangsregierung gebildet, doch auch sie wird die sozialen und wirtschaftlichen Probleme des Landes nicht lösen können.

»Wir rufen die ägyptischen Massen auf, überall auf Straßen und Plätzen zu demonstrieren, um die Errungenschaften der Revolution zu schützen und die Legitimität zu verteidigen.« Mit solchen Worten wandten sich Vertreter der Kampagne Tamarod (Rebellion) in den vergangenen Tagen immer wieder an die Öffentlichkeit. Massenproteste sind seit dem 25. Januar 2011, dem Beginn der Proteste, die zum Sturz Hosni Mubaraks führten, nahezu das einzige von oppositionellen Kräften eingesetzte Mittel der politischen Auseinandersetzung, auch weil sie bis heute nie ernsthaft an politischen Entscheidungsprozessen beteiligt wurden – weder unter Mubarak, noch unter der Herrschaft des Obersten Militärrats, noch unter der vor zwei Wochen entmachteten Regierung der Muslimbrüder.
So verwundert es nicht, dass auch in diesen Tagen immer noch auf die Macht der Straße gesetzt wird, die in einem überall verbreiteten Populismus mit »der Bevölkerung«, ja dem »Allgemeinwillen« gleichgesetzt wird. Die Militärführung unter General Abdel Fattah al-Sisi entmachtete die Muslimbrüder aufgrund von landesweiten Streiks und Demonstrationen unter Beteiligung von mindestens sechs, eventuell aber bis zu zehn Millionen Menschen, die die Tamarod-Bewegung monatelang vorbereitet hatte.
Die Bevölkerung habe dem Präsidenten nun einmal die Legitimität entzogen, hört man nun von Oppositionellen und Militärvertretern. Doch auch die Islamisten berufen sich auf »das Volk« und die »demokratischen Wahlen«: Die Muslimbruderschaft, aber auch verbündete salafistische Organisationen und die Terrororganisation Jamaa Islamiya beschwören seit zwei Monaten den »Schutz der Revolution« und die »Legitimität« (shar’iya) des Präsidenten, die sie aufgrund der gleichen Etymologie dem islamistischen Begriff der Sharia annähern. Doch mobilisieren konnten sie mit großen Anstrengungen zuletzt maximal eine Million Demonstranten – kommt die Legitimität also tatsächlich von der Straße, so haben die Islamisten sie offensichtlich verloren. Die Zunahme islamistischer Anschläge und Morde in den vergangenen Tagen ist die Reaktion der jihadistischen Kreise nicht nur auf die Verhaftung führender Islamisten, sondern auch auf diese Einsicht.

Dass der moderne Islamismus der politischen Entwicklung im Staat theorie- und hilflos gegenübersteht, wurde nirgends deutlicher als in Ägypten. Unter Berufung auf eine glorreiche Vergangenheit stellten die Muslimbrüder ihre inkompetente und ineffektive Mangelverwaltung unter das Banner der nahda (Wiedergeburt), um gleichzeitig die meiste Energie auf die Bekämpfung von Kritikern zu verwenden. Kaum hatten sie nach einem populistischen und unfairen Wahlkampf in mehr oder weniger freien Wahlen die Legislative und Teile der Exekutive in ihrer Gewalt, ignorierten sie alle Vertreter der politischen Opposition, der Frauen und der religiösen Minderheiten.
Schon nach wenigen Monaten hatte Mursi mehr Strafverfahren wegen »Präsidentenbeleidigung« anstrengen lassen, als Mubarak in den 30 Jahren seiner Herrschaft. Im Parlament interessierte sich niemand für die Beiträge nichtislamistischer Abgeordneter, die autoritäre islamistische Verfassung wurde schließlich sogar mit Hilfe eines präsidialen Putsches unter Ausschaltung der Judikative gegen jegliche Opposition durchgesetzt – unter den Augen nicht nur des Militärs, sondern auch der USA und der anderen westlichen Staaten, die alle an Ruhe, Ordnung und Stabilität interessiert sind.
Spätestens seit diesem Zeitpunkt setzte die Opposition nur noch auf die numerische Gewalt der Straße, während die Muslimbruderschaft als Inhaberin der Legislativ- und Exekutivgewalt ebenfalls mit einer eigenen Massenmobilisierung begann. Die Belagerung des Obersten Verfassungsgerichtshofes ebenso wie die gewaltsame Blockade von Fernsehsendern in »Media City« durch jeweils mehrere tausend Islamisten während der personellen »Umstrukturierung« von staatlichen Medien und Teilen des Justiz- und Verwaltungsapparats sind die augenscheinlichsten Beispiele für diese Strategie der Muslimbrüder.
Doch die »kritische Masse«, die den Sturz Mubaraks erzwang, den Islamisten einen Wahlsieg bescherte und diese nun wieder stürzte, identifiziert sich nicht in erster Linie mit politischen Programmen und Identitätsangeboten – auf die Straße brachte sie vor allem die Verzweiflung angesichts sozialer Not und Perspektivlosigkeit. Nach jahrzehntelanger »Strukturanpassungspolitik« unter der Ägide von Internationalem Währungsfonds (IWF) und Weltbank sind zahlreiche Betriebe privatisiert und Hunderttausende Arbeiter entlassen worden. Wegen der hohen Inflation sinken seit Jahren die Reallöhne, insbesondere Energiekosten und die Preise von Nahrungsmitteln sind aber deutlich angestiegen.

Unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen liegt die Arbeitslosenquote weit über 25 Prozent, etwa die Hälfte der ägyptischen Erwerbstätigen ist zudem in der Schattenwirtschaft, also nur informell beschäftigt. Während Industriearbeiter, Angestellte und Universitätsdozenten in Ägypten umgerechnet rund 300 Euro im Monat verdienen, liegt die Bezahlung im Privatsektor und in der Schattenwirtschaft oft weit darunter. So ist es nicht verwunderlich, dass die Mittelschicht in den vergangenen Jahrzehnten geschrumpft, die Armutsrate hingegen gestiegen ist. Mindestens die Hälfte der Bevölkerung lebt an oder unter der Armutsgrenze und ist von staatlichen Subventionen abhängig, viele Ägypter können sich täglich nur noch zwei Mahlzeiten mit Weizenfladen, ­etwas Salat und Öl leisten.
Diese Probleme nicht thematisiert und erst recht nicht gelöst zu haben, warfen die meisten Demonstrierenden den Muslimbrüdern vor. ­Dabei ist das Versagen der Muslimbrüder nicht nur auf die objektive Unmöglichkeit zurückzuführen, die periphere Ökonomie in Zeiten der globalen Krise zu stabilisieren. Vielmehr vertreten die Muslimbrüder traditionell marktliberale, unternehmerfreundliche Konzepte. Das Ausbildungssystem soll auf den Arbeitskräftebedarf ausgerichtet sein, ein umfassendes Almosensystem und religiös begründete gemeinschaftliche Verantwortung für den Nächsten lösen in ihren Augen die soziale Frage. Eines der ersten autoritären Dekrete Präsident Mohammed Mursis richtete sich gegen die Gewerkschaften, die islamistische Verfassung schränkte das Gewerkschafts- und Streikrecht ein, aus Kreisen der Muslimbrüder wurden Streikende zuweilen als Kriminelle und Konterrevolutionäre bezeichnet.
Es verwundert daher nicht, dass in Ägypten im vorigen Jahr täglich weit über 20 lokale Streiks und Arbeiterproteste gezählt wurden. Denn nicht nur die Schwäche des Staates und die geschwundene Angst vor seinem Repressionsapparat sind für die Heftigkeit der Proteste verantwortlich, sondern auch der Unwillen der Muslimbrüder, sich der Probleme in irgendeiner Form anzunehmen. Im Zentrum des Handelns der Organisation stand lediglich die Besetzung der Posten in der korrupten staatlichen Bürokratie und Mangelverwaltung mit ihren eigenen Gefolgsleuten – ohne Rücksicht auf deren Erfahrung und Kompetenz.
Von Regierungskritikern wurde eigens ein neues Wort für diese Entwicklungen geschaffen: akhwana, die »Brüderisierung« von Staat und Verwaltung. Nicht zuletzt die Besetzung von einem Dutzend Gouverneursposten mit Muslimbrüdern und anderen Islamisten hatte der Tamarod-Bewegung dann auch zum massenhaften Erfolg verholfen. Und dass der neue Gouverneur von Luxor ausgerechnet ein Mitglied derjenigen islamistischen Terrororganisation sein sollte, die dort 1997 im »Luxor-Massaker« 62 Touristen und Ägypter ermordet hatte, war noch den neutralsten Ägyptern nicht mehr zu vermitteln.
Mehrere nach dem Sturz Mursis ernannte Minister der relativ progressiven, linksliberalen Übergangsregierung sind Protagonisten der jüngsten Kämpfe gegen die »Brüderisierung« Ägyptens. So hatte sich die nun zur Kultusministerin berufene Musikerin Inas Abdel Dayem geweigert, der Aufforderung ihres Amtsvorgängers zu folgen, ihren Posten als Direktorin des Kairoer Opernhauses zu räumen. Aus Protest gegen die »Brüderisierung« und zahlreiche kunst- und kulturfeindliche Maßnahmen hatten zuletzt Dutzende Künstler und Intellektuelle das Kultusministerium besetzt und dort Kundgebungen, Lesungen und Performances veranstaltet.

Der neue Arbeitsminister Kamal Abu Eita ist einer der Gründer und Anführer der bis heute illegalisierten unabhängigen Gewerkschaften, der zunächst gegen Mubarak und dann gegen die »Brüderisierung der Gewerkschaften« protestiert hatte. Eita hat angekündigt, Gewerkschaftsfreiheit sowie die Erhöhung des Mindestlohns und der Renten durchzusetzen und für die Wiedereinstellung entlassener Arbeiter zu kämpfen. Dass nun der korrupte staatliche Gewerkschaftsverband zu Protesten gegen seine Ernennung aufruft, spricht für sich.
Der nun zum Vizepräsidenten ernannte liberale Politiker Mohammed al-Baradei war der Sprecher des gegen die Muslimbrüder aktiven Oppositionsbündnisses Nationale Rettungsfront, er ist auch bei den »revolutionären« Basisorganisationen sehr beliebt. Zahlreiche Politiker aus dem Umfeld seiner Bürgerrechtspartei al-Dostour (Verfassung) sind in der einen oder anderen Form an der Übergangsregierung beteiligt, Premierminister Hazem al-Beblawy ist einer der Gründer der ägyptischen sozialdemokratischen Partei und ein Verfechter der Gewerkschaftsfreiheit. Doch gleichzeitig ist er wie sein neuer Finanzminister ein IWF-geschulter Ökonom.
Nicht nur aufgrund internationalen Drucks wird er die Reform der staatlichen Verwaltung in Angriff nehmen und das Subventionssystem in Frage stellen müssen, von dem die Mehrheit der Bevölkerung abhängig ist. Denn allein die Inlandsschulden des Staates betragen über 200 Milliarden Dollar, das Haushaltsdefizit liegt bereits bei 30 Milliarden Dollar. Weder die Finanzhilfen Saudi-Arabiens und der Emirate noch weitere wirtschaftsliberale Reformen werden die ägyptische Wirtschaft jedoch retten können. Seit einem Jahrhundert hat sich der Status Ägyptens als periphere Weltmarktökonomie und aus seinem strategischen Wert schöpfende Rentierökonomie verfestigt, aus dem es unmöglich aus eigener Kraft entkommen kann. Dass das Militär nun »revolutionären« Ministern gezielt ermöglicht, an diesen Problemen zu scheitern, steht zu befürchten. Eines steht jedoch fest: Auch in den nächsten Monaten und Jahren wird aus Ägypten vor allem von Streiks und Massenprotesten berichtet werden.