Ist ja ein freies Land hier

In der Debatte um Überwachung wird nun wieder auf zwei düstere Zukunftsvisionen verwiesen, auf George Orwells »1984« und auf Aldous Huxleys »Schöne neue Welt«. Orwell beschreibt einen gefestigten stalinistischen Terrorstaat, Huxley eine Kastengesellschaft mit einer durch physiologische Eingriffe festgelegten Hierarchie. Beschrieben werden also nichtkapitalistische Gesellschaftsformen. Für die derzeitige Debatte aber wäre vor allem von Interesse, welche Funktion die staatliche und private Überwachung in einer auf Konkurrenz und Profitmaximierung basierenden Gesellschaft hat und in Zukunft haben kann.
Niemals zuvor war im Überwachungsgeschäft die Kooperation staatlicher Behörden mit Privatunternehmen so eng. Edward Snowden war kein Angestellter der ­National Security Agency (NSA), sondern der Firma Booz Allen Hamilton, die damit wirbt, die »Cybersecurity« der Golfmonarchien zu »transformieren«. Dass westliche Firmen Geschäfte mit Diktaturen allenfalls dann einstellen, wenn, wie im Fall des Verkaufs von Überwachungstechnologie durch Nokia Siemens Networks an den Iran, der Imageschaden die Profite erheblich zu mindern droht, ist jedoch nur ein Aspekt. Bedeutsamer ist, dass die Gesetzgebung bezüglich der Datenverarbeitung längst an die Bedürfnisse der interessierten Konzerne angepasst wurde und die Monopolisierung im Geschäft mit dem Internet und der Telekommunikation einen in der Geschichte des Kapitalismus wohl beispiellosen Grad erreicht hat. Wer am digitalen Leben teilhaben will und kein Nerd ist, kommt an den global players und ihren dubiosen Geschäftsbedingungen kaum vorbei. Davon profitieren die Geheimdienste, die eine Unmenge von Daten frei Haus geliefert bekommen. Überwacht wird der Nutzer also als Kunde und als Verdächtiger. Die Gefahr besteht daher derzeit weniger in der Strafverfolgung durch die Überwachung entlarvter Dissidenten als in der Zusammenführung beider Rollen. Die NSA mag es nicht interessieren, dass Sie gestern das Fitness-Center geschwänzt und bis zum Morgengrauen in einer Kneipe gezecht haben. Aber Ihren Vorgesetzten könnte es schon interessieren, dass Sie sich der Leistungssteigerung und der Selbstoptimierung verweigern. Er wird Sie natürlich nicht dazu zwingen, eines dieser Armbänder zu tragen, die Herzfrequenz, Schlafdauer, Alkoholgehalt des Blutes und anderes aufzeichnen und ins Internet übertragen. Ist ja ein freies Land hier. Aber wenn Sie nach Ihrer Entlassung im Jobcenter sitzen, sieht die Sache anders aus. Schließlich erhalten Sie nun Transferleistungen, da kann der Steuerzahler ja wohl ein bisschen Entgegenkommen erwarten. Für den Erwerb des Überwachungsarmbands wird der Sachbearbeiter Ihnen aber bestimmt einen günstigen Konsumentenkredit vermitteln.