Saskia Sassen im Gespräch über die neuen Protestbewegungen auf der globalen Straße

»Die Proteste machen den Fehler im System sichtbar«

Die Stadtsoziologin und Globalisierungstheoretikerin Saskia Sassen ist derzeit Professorin der Soziologie an der Columbia University und Gastprofessorin an der London School of Economics. Sassen forschte intensiv zu Stadtentwicklung, Globalisierung und Migration, sie prägte in den neunziger Jahren den Begriff der »Global City«. Die Jungle World sprach mit ihr über die Genealogie, die soziale Zusammensetzung und die physischen und ­politischen Räume der neuen Protestbewegungen.

Im Zusammenhang mit den Aufständen in den arabischen Ländern haben Sie den Begriff der Global Street geprägt. Was passiert, wenn die Straße »global« wird?
Die Straße hat mich lange vor Beginn des Aufstands in Tunesien interessiert. Dabei interessiert mich die Straße nicht als architektonisches Bauwerk, ich rede nicht von Typologien von Straßen, sondern von einem sozialen und politischen Raum. Neulich wurde ich zu einer Veranstaltung im besetzten Cinema Palazzo in Rom eingeladen, ein solcher Ort ist für mich auch die Straße: Sie ist ein absolut offener Raum, jeder kann ihn betreten, und wenn du einmal drin bist, fragt dich niemand nach deinen politischen Ansichten, nach einer Legitimation. Was wir in den vergangenen zwei Jahren, jüngst in der Türkei, gesehen haben, war, wie der Raum an sich zum politischen Akteur, zum politischen Ereignis werden kann. Auch wenn du dich nicht für Politik interessierst, allein wenn du dort bist, verstärkst du die Bedeutung und die politische Botschaft dieses Raumes.
Ich habe über unbestimmte Räume nachgedacht, und darüber, wie sie entstehen in einer Zeit, in der die Stadt überdeterminiert ist, etwa durch Megaprojekte, Privatisierung von Parks und sogar von Straßen, einer Zeit also, in der der Zugang zu öffentlichem Raum immer mehr eingeschränkt wird. Welche Räume kann man als »unbestimmt«, als »mehrdeutig« bezeichnen? Die Straße – damit meine ich natürlich auch den Platz – ist für mich ein solcher Ort.
Die urbane Straße, auf der neue Formen des Sozialen und des Politischen entstehen können, unterscheidet sich von anderen Orten in der Stadt, an denen ritualisierte Formen des Zusammenlebens stattfinden. Ich habe in diesem Zusammenhang die Piazza und den Boulevard in der europäischen Tradition untersucht. Aber das würde zu weit führen. Um es etwas schematischer zu formulieren – Sie müssen entschuldigen, ich bin Akademikerin! –: Auf der Piazza und dem Boulevard finden Rituale, auf der Straße Handlungen statt. Der nächste Schritt ist, zu schauen, wer diese unbestimmten Orte nutzt. Genauer gesagt ist die Frage, welche Räume unbestimmt genug sind, dass diejenigen, die keinen Zugang zu den formellen Instrumenten der Macht haben, sie füllen und dadurch öffentlich machen können.
Sie schreiben, dass der urbane Raum, also die Stadt, das Verhältnis zwischen der Machtlosigkeit und dem »Making the Political« verändert. Wie hat sich dieses Verhältnis auf den Straßen und Plätzen von Kairo über Madrid bis Istanbul und Rio de Janeiro materialisiert?
Das Thema, unter welchen Bedingungen die Machtlosen Geschichte machen, hat mich in den vergangenen Jahren sehr beschäftigt, vor allem in Bezug auf migrantische Subjekte. Nehmen wir etwa Menschen, die auf einer Plantage einer großen Farm in Kalifornien arbeiten: Ihre Machtlosigkeit ist elementar. Diese Leute können in der Stadt eine Demonstration organisieren, als Papierlose sichtbar werden und Rechte fordern. Stellen Sie sich einmal vor, was passieren würde, wenn dieselben Menschen dies auf der Farm in Kalifornien machen würden, im besten Fall würde die Polizei gerufen. Was ich damit sagen will: Es gibt Möglichkeiten des Politischen, die durch die Interaktion zwischen Menschen und Raum entstehen. Die Stadt ist ein solcher Raum, in dem die Machtlosen Geschichte machen können. Es ist nicht der einzige Raum, aber ein sehr zentraler. Füreinander sichtbar zu werden, kann den Charakter der Machtlosigkeit verändern.
Für mich ist Machtlosigkeit mehr als der simple Zustand der Abwesenheit von Macht. Unter bestimmten Bedingungen kann Machtlosigkeit komplex werden, was bedeutet, dass sie die Möglichkeit beinhaltet, den Machtlosen eine Stimme zu geben, das nenne ich »Making the Political« beziehungsweise »Making the Civic«.
Der unbestimmte Ort lässt auch diejenigen, die ihn betreten, in gewisser Weise unbestimmt werden. Interessant ist, und das beobachten wir bei vielen der Protestbewegungen weltweit, was sich aus dieser räumlichen und menschlichen Unbestimmtheit entwickelt, was mit diesen Menschen passiert, die ihre geschützten Räume – die Familie oder auch nicht-physische Räume wie die Zugehörigkeit zu einer politischen Gruppe, einer sozialen Klasse – verlassen haben.
Wie verändert sich ihre Machtlosigkeit konkret?
Der erste Schritt ist, präsent zu sein. Ein Slogan auf Spanisch lautete: »Estamos presentes«, was wörtlich übersetzt »Wir sind präsent« heißt. Diese zwei Wörter sind gleichzeitig ein politisches Statement: »Wir betteln nicht um etwas mehr Sozialstaat, wir wollen selbst aktiv werden, um unsere Situation zu verbessern.« Natürlich werden bei den verschiedenen Protesten spezifische Forderungen gestellt, die sich wiederum auf die konkreten Situationen in den jeweiligen Ländern beziehen. Aber der politische Gestus ist derselbe. Und diesen Gestus nenne ich »das Politische«. Das ist nicht das, was normalerweise als Politik bezeichnet wird, die Regierungspolitik, die eigentlich kaum etwas mehr als Verwaltung ist. Darüber hinaus gibt es einen Unterschied zwischen dem, was ich Machtlosigkeit nenne, und Unsichtbarkeit. Viele der Protestbewegungen der vergangenen zwei Jahre sind Paradebeispiele dafür. Die demonstrierenden Menschen haben nicht an Macht gewonnen – schauen Sie sich Ägypten und Tunesien gerade in diesen Tagen an. Sie sind so gesehen genauso machtlos wie vorher, aber sie haben trotzdem Geschichte gemacht. Mich interessiert dieser undefinierte Raum, in dem Machtlosigkeit artikuliert wird, eine Stimme bekommt, aber noch nicht zum empowerment führt. In dieser Grauzone liegt die Komplexität, von der ich eben geredet habe.
Was ich momentan sehe, ist die Entstehung eines globalen, vielseitigen Raums, den ich die »globale Straße« genannt habe, in dem diejenigen, die keinen Zugang zu den traditionellen Instrumenten der politischen Macht haben, zuerst für­einander, dann für den Rest der Gesellschaft und schließlich für die Machthaber sichtbar werden. Die Zeltlager in Kairo, im Zuccotti Park, in Istanbul sind keine geschlossenen Ereignisse, sondern eher Schritte auf dem Weg zu einer tiefen Veränderung unseres sozialen und politischen Lebens.
Haben die »Machtlosen« von Kairo über Tel Aviv bis Madrid, Istanbul und Rio de Janeiro wirklich etwas gemeinsam, so dass man von ­einem globalen Phänomen reden kann?
Ich sehe zwei Dynamiken, die zusammenkommen. Die eine würde ich spezifisch, die andere transversal nennen. Auf der einen Seite hat jeder Ort, an dem eine Protestbewegung entsteht, seine eigenen Bedeutungsgenealogien, also eine eigene Geschichte der Artikulation von Dissens und öffentlichem Protest. Viele dieser Geschichten sind unsichtbar für das globale Auge der Medien und viele davon haben nie Zugang in die offizielle Geschichtsschreibung gefunden. Die Aufmerksamkeit für die inoffizielle Geschichte der Machtlosen begann vielleicht mit dem Feminismus, als gesagt wurde: Die Geschichte, das sind nicht nur die großen Kriege, sondern das ist auch das, was in den Haushalten passiert. Das meine ich, wenn ich sage, dass die Machtlosen auf der globalen Straße mit ihren jeweils speziellen Forderungen und Anliegen ihre eigene Geschichte machen, eine Geschichte, die historisiert werden soll.
Das transversale Element bezieht sich auf die soziale Zusammensetzung der Akteurinnen und Akteure, die auf der globalen Straße sichtbar werden. Es handelt sich nämlich an all den Orten, an denen es in den vergangenen zwei Jahren zu Protesten kam, um Aufstände der Mittelschicht. Es ist sehr interessant, dass dies heute gleichzeitig in so vielen Ländern passiert, in Ländern, die sehr unterschiedlich von der globalen Dynamik der Wirtschaft betroffen sind – wie etwa in der Türkei und in Spanien, und in arabischen Ländern, in denen die Religion eine so entscheidende Rolle spielt. Bei allen Unterschieden ist das Unbehagen der Mittelschicht überall sichtbar. In Ägypten etwa wurde die Entstehung einer Mittelschicht gefördert, weil der Staat sie brauchte. Es gab öffentlichen Nahverkehr, Sozialwohnungen, ein Bildungssystem – zu dem natürlich nur die Mittel- und Oberschichten Zugang hatten.
Bei den Protesten in vielen Ländern kann man folgende Situation beobachten: Der Staat und das Wirtschaftssystem haben jahrzehntelang drei, vier Generationen der Mittelschicht entstehen lassen und unterstützt. Die neue Generation, die heute Straßen und Plätze besetzt, hatte eigentlich ähnliche Erwartungen wie die Generationen zuvor. Aber im System ist ein Fehler aufgetreten. Selbst wenn sie sich an die kapitalistischen Spielregeln gehalten haben, gibt es für sie jetzt nichts mehr. Dieses Nichts hat mit massiven Restrukturierungen im Wirtschafts- und Sozialsystem zu tun, die ich als räuberisch bezeichne. Damit meine ich natürlich nicht die »gierigen Banker« oder ähnliche Abstraktionen, sondern ein komplexes Gefüge, das nicht von dem Willen einzelner poli­tischer Parteien oder Regierungen abhängig ist.
Die politische Einordnung der Proteste, besonders in Bezug auf die »Occupy«-Bewegungen, fällt sehr unterschiedlich aus. Dabei scheinen in der linken Theorie neue Kategorien für die Deutung der gegenwärtigen Dynamik zu fehlen und so wird auf alte Begriffe zurückgegriffen. Slavoj Žižek schreibt etwa: »Was diese Proteste in ihrer Vielfältigkeit vereint, ist, dass es sich um Reaktionen auf verschiedene Facetten der kapitalistischen Globalisierung handelt.« Würden Sie dem zustimmen?
Nicht wirklich. Ich denke, das ist eine Verallgemeinerung. Vorneweg: Mir ist bewusst, wie schwierig es ist, aus einer politisch-soziologischen Perspek­tive Phänomene einzuordnen, die gerade noch geschehen und sich ständig transformieren. Daher wäre ich auch vorsichtig mit Definitionen.
Ich glaube, es hat eine gewisse Ironie, die sichtbar wird anhand dieser aus jungen Leuten bestehenden, protestierenden Mittelschicht, die derzeit zu einer historischen Figur wird. Diese jungen, meist gebildeten Menschen, die in vielen Fällen in einer urbanen, kosmopolitischen Kultur aufgewachsen sind, fordern nichts anderes, als das, was für die Angehörigen ihrer sozialen Schicht bisher selbstverständlich war: Zugang zum Arbeitsmarkt, die Möglichkeit, das Elternhaus zu verlassen und selbst vielleicht eine Familie zu gründen, jedenfalls ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Dazu gehören etwa bezahlbarer Wohnraum und die Möglichkeit zu studieren. Diese Mittelschicht macht nun die Krise der westlichen liberalen Demokratie sichtbar. Die kapitalistische Globalisierung, von der Žižek spricht, wurde schon vor etwa 15 Jahren thematisiert, als man begann, das Unbehagen gegenüber bestimmten sozialen und ökonomischen Verhältnissen weltweit zu artikulieren. Damals fing man an, die Folgen bestimmter Entwicklungen im globalen Kapitalismus anzuprangern, doch nicht die Angehörigen der Mittelschicht zählten zu den Betroffenen dieser Entwicklungen, sondern etwa Fabrikarbeiter in den sogenannten Billiglohnländern, Wirtschaftsflüchtlinge, gegen deren »Ansturm« sich Europa immer mehr militarisiert hat, oder indigene Bevölkerungen, die von Großkonzernen aus bestimmten Gebieten vertrieben wurden.
Die Leute, die heute auf die Straßen gehen, waren damals noch Kinder und Jugendliche. Sie gehörten damals noch zu einem Segment unserer Gesellschaft, das als geschützt, wenn nicht als privilegiert galt. Sie sind es nun, die den Fehler im System sichtbar machen. Mit ihren Protesten zeigen sie, dass die Logik unserer Ökonomie nicht mehr funktioniert – also die Formel: Je besser du dich ausbildest, desto größer werden deine Chancen auf dem Arbeitsmarkt und desto höher wird dein Lebensstandard – auch im Vergleich zu den vorigen Generationen.
Das wird durch die Forderungen sichtbar, die auf die Straßen getragen werden, die durch und durch »bürgerlich« sind, und das sage ich nicht abwertend. Die Proteste und Aufstände artikulieren sich in den jeweiligen Ländern unterschiedlich, aber ausgelöst wurden sie durch das Scheitern des modernen Staates, den sozialen Vertrag zu erfüllen. Auch wenn sich die Proteste gegen die bösen Finanzmärkte richteten, wie in New York City, war der Adressat dieser Empörung und Wut immer der Staat.
Aber wurde bei den Protestbewegungen nicht gerade das Misstrauen gegenüber dem Staat, der institutionellen, repräsentativen Politik artikuliert? Vor allem bei den spanischen »Indignados« und den »Occupy«-Bewegungen standen direkte Demokratie und Partizipation im Zentrum des Diskurses.
Das ist absolut richtig. Aber woher stammt dieses Misstrauen? Ich würde sagen: aus einer Enttäuschung. Zu den Grundsätzen unserer modernen Staaten gehört, dass wir, Bürgerinnen und Bürger, das Recht haben, Forderungen an den Staat zu stellen. In liberalen Demokratien basiert der Sozialvertrag auf diesem Recht, das ein Produkt der Französischen und Amerikanischen Revo­lution ist. Weiter verarbeitet wurde dieser Grundsatz in den Verfassungen der achtziger Jahre, etwa in Südafrika nach der Apartheid und in Lateinamerika nach dem Ende der brutalen Militärdiktaturen. Dieses Recht, Forderungen an den Staat zu stellen, ist etwas, das ernst genommen und genutzt werden sollte. Denn genau das macht Staatsbürgerschaft aus. Man hat uns eher daran gewöhnt, unsere Staatsbürgerschaft zu konsumieren.
Und jetzt kommen wir zur Krise der politischen Repräsentation: In liberalen Demokratien ist der Ort, an dem diese Forderungen gestellt und diskutiert werden können, immer das Parlament gewesen. Das Neue bei den Protestbewegungen, die wir derzeit sehen, ist, dass dieses »Making of Citizenship« gerade aus dem Bruch mit der Repräsentation entsteht.
Der französischen Philosoph Alain Badiou hat über die Ereignisse in der Türkei geschrieben: »Die gebildete Jugend muss Schritte unternehmen, um sich den anderen potentiellen Akteuren der historischen Revolte anzunähern. Sie muss über ihre soziale Existenz hinaus die Bedingungen schaffen, um mit den breiteren Massen zu leben.« Was halten Sie von der Kritik, dass sich aus den neuen Protestbewegungen kein »revolutionäres Subjekt« im eigentlichen Sinne herauskristallisiert?
Ich teile die Ansicht, dass auch andere potentielle Akteure des Protests unbedingt einbezogen werden sollten. Von zentraler Bedeutung finde ich in diesem Zusammenhang vor allem die Jugend der Unterschicht, die weder aus der bürgerlichen Mittelschicht noch aus klassischen Arbeiterfamilien stammt. Sie muss auch Teil dieser Bewegung sein.
Doch ähnlich wie im Fall von Žižeks kapitalistischer Globalisierung, greift die Kritik der »Bürgerlichkeit« meines Erachtens zu kurz. Ich weiß, ich wiederhole mich, aber diese Proteste sehe ich als Teil einer breiteren Genealogie von Widerstand und Kämpfen, die nicht von der offiziellen Geschichtsschreibung aufgenommen wurden – oder nur, wenn die Protagonisten dieser Kämpfe ihre Freiheit oder ihr Leben für ihre Sache aufs Spiel gesetzt haben. Das gilt für die Bewegung der Schwarzen in den USA, für die Frauenbewegung, für die Kämpfe indigener Bevölkerungen. In meinem Buch über das Territorium (»Das Paradox des Nationalen: Territorium, Autorität und Rechte im globalen Zeitalter«, Suhrkamp 2008, Anm. d. Red.) habe ich versucht zu untersuchen, wie diese »anderen«, parallelen Geschichten zustande kommen, wie sie aussehen, welche Brüche und Widersprüche in ihrer Entstehungsphase etwas über ihre künftige Entwicklung verraten können. Dabei merkte ich, wie schwierig es ist, ein amorphes Ereignis einzuordnen, das Teil eines längeren Prozesses auf dem Weg der Befreiung werden kann, und das eventuell in einer sehr fernen Zukunft konkretere Gestalt annehmen wird. Nehmen wir die Frauenbewegung und ihre Forderung nach Rechten, die uns heute als elementar erscheinen. Sie wurde am Anfang als ein Haufen Verrückter dargestellt, die nicht weit kommen würden.
Bringt uns Klassenkampf-Essentialismus weiter in der Analyse der neuen Protestbewegungen?
Es ist unbestritten, dass Karl Marx eine bestimmte Kerndynamik im Kapitalismus verstanden und beschrieben hat, die sehr wichtige Kämpfe möglich gemacht hat, ohne die die Welt heute ganz anders aussehen würde. Aber es bringt uns nicht sehr weit, von Akteuren und »Feinden« zu sprechen, die es heute gar nicht mehr gibt. Zugegeben, es gibt nicht wirklich viele, die vom Proletariat oder vom Klassenkampf reden – nicht einmal Badiou tut das! Aber es ist auch schwierig, wie Sie bereits angemerkt haben, neue Begriffe, etwa den des urbanen Prekariats, im linken Diskurs zu etablieren. Wissen Sie, ich glaube, wenn Marx heute leben würde, würde er aufgrund seiner außerordentlichen Intelligenz und seines analytischen Talents nicht so viel über die neuen Bewegungen schreiben, wie viele Marx-Essentialisten es derzeit tun.
Der italienische Theoretiker Toni Negri hat jüngst gesagt: »Die Frage der Organisation muss heute nicht mehr in Bezug auf die Klasse, sondern in Bezug auf die Multitude gestellt werden, weil wir ohne Organisation kein Glück produzieren können.« Sehen Sie auf der »globalen Straße« einen Ansatz der »organisierten Multitude«?
In gewissem Sinne ja. Die globale Straße bringt größere, sich immer wieder neu definierende Zusammenhänge von Akteuren und Situationen hervor, die als politisch agierend anerkannt werden müssen. In dieser historischen Phase erleben Menschen in verschiedenen Teilen der Welt eine Reihe von entmachtenden Realitäten – die durch die Vektoren des Staates, des globalen Kapitals und der Überwachung aktiviert werden. Der allgemeine Zustand, dass die jüngeren Generationen es nicht besser haben werden als die früheren Generationen, ist ein sehr verstörender Bruch mit dem seit Jahrzehnten herrschenden historischen Diskurs. Dies beschreibt nicht nur ein Hier und Jetzt, sondern beeinflusst auch die Art, wie die Zukunft gedacht wird. Das macht aus den verschiedenen Inhalten und Forderungen der Proteste ein globales Ereignis.
»Multitude« ist ein wunderschöner Begriff. Ich liebe seine großzügige Offenheit. Allerdings finde ich, und erlauben Sie mir den etwas phantasievollen Ausdruck, der Begriff gehört zur Kategorie des »starren Blickes« (Gaze). Multitude bezeichnet die Perspektive des Betrachtenden, nicht die des Teilnehmenden. Wenn du Teil der Multitude bist, fühlst du dich nicht so unbestimmt, wie der Begriff es suggeriert. Jede Multitude enthält viele Ministrukturen, Gruppen und Identitäten, Gemeinsamkeiten, Widersprüche und Unstimmigkeiten. Gerade aufgrund dieser Vielfältigkeit haben die neuen Protestbewegungen etwas sehr Wichtiges erreicht: Sie haben unglaubliche soziale Fähigkeiten entfesselt, und das ist extrem wichtig in einer Gesellschaft, in der wir alle als individualisierte Konsumenten erzogen werden. Vielleicht ist es das, was Toni Negri mit seinem wunderschönen Bild der »Produktion von Glück« meint.
Aber kollektives Glück produzieren ist nicht dasselbe wie individuell glücklich sein. In den Protesten kommen sehr viel Wut und Schmerz zum Ausdruck, ganz zu schweigen von der harten Arbeit, die es bedeutet, zentrale Straßen oder Plätze von Großstädten besetzt zu halten. In diesem Sinne glaube ich, dass der Raum der globalen Straße Gelegenheiten für das »Making the Social«, also für die Entstehung neuer sozialer Beziehungen, eröffnet hat. Wohin dieser Prozess führen wird, ist noch offen.

Zuletzt erschien von Saskia Sassen das Buch "Cities in a World Economy - Fourth Edition", Sage Publications 2012, 424 Seiten, Englisch.