Die Jihadisten von »Sahelistan«

Willkommen in Sahelistan

Die Sahel-Wüstenregion, die sich vom Sudan über Libyen und Mali bis Marokko ­erstreckt, ist eine Zone der Instabilität. Im Südwesten Libyens befindet sich möglicherweise das islamistische Machtzentrum von »Sahelistan«, wie die Zone neuerdings genannt wird. Doch auch im Rest Libyens zeigen islamistische Milizen ihre Stärke.

Libyen sei nicht Irak oder Afghanistan, sagt Mohammed al-Gharabi, der Führer eines Untergrund-Militärcamps nahe dem libyschen Bengasi. Seiner Ansicht nach ist es deutlich besser. Aus dem Munde eines Jihadisten lässt das nur Schreckliches ahnen. Seine Begründung: Hier könne keine westliche Macht einen ihr genehmen Präsidenten installieren wie einst im Irak oder in Afghanistan. So gibt es zumindest der französische Sicherheitsberater Samuel Laurent in seinem Buch »Sahelistan« wieder.
Sahelistan war lange ein Gerücht. Gemeint ist die 7 500 Quadratkilometer große Wüstenregion zwischen Sudan, Libyen, Tschad, Niger, Algerien, Tunesien, Mali und Marokko. Bereits während des algerischen Bürgerkriegs in den neunziger Jahren war sie Rückzugsgebiet für militante Islamisten. Jenseits gelegentlicher Entführungen hörte man davon wenig. Seit die Tuareg-Rebellengruppe MNLA (Nationale Bewegung für die Befreiung des Azawad, das heißt von Nordmali) in Mali gemeinsam mit den Jihadisten von Aqmi (al-Qaida im Magreb), der Mujao (Bewegung für Einheit und Jihad in Westafrika) und Ansar Dine im Sommer 2012 die Kontrolle über den Norden Malis übernahmen, beschäftigt die Gefahr aus der Sahara auch die westlichen Staaten.
Die Grenzen mitten im Wüstenland sind unkontrollierbar. Dort leben Nomaden, die auch heute nur als »semi-ansässig« beschrieben werden. Sie gelten zwar als weitgehend immun gegen den Islamismus, haben aber häufig nichts für ihre jeweilige Staatsmacht übrig. Ihre Regionen wurden von den Zentralmächten vernachlässigt, sie selbst häufig ausgegrenzt und diskriminiert.
Samuel Laurent beschreibt die Zusammenarbeit zwischen Nomadenvölkern und Jihadisten als viel weiter gehend als bisher angenommen. Unterwegs als Berater für Unternehmen, die in gefähr­lichen Regionen investieren wollen, hatte er zunächst nicht vor, ein Buch zu schreiben. Doch dann stellte er fest, dass »Sahelistan« nicht nur marodierende Banden bezeichnet, sondern ein konkretes Territorium und Machtzentrum hat. Vor dieser Gefahr wollte er warnen.
Dieses islamistische Machtzentrum, so Laurent, sei die Stadt Oubari im tiefen Südwesten Libyens. Dort herrschten zwar Tuareg, aber diese hätten das Territorium faktisch an Jihadisten verkauft, die sich während der französischen Intervention aus dem Norden Malis zurückziehen mussten. Die Jihadisten würden intensiv aus der südlibyschen Bevölkerung rekrutieren.

Nicht nur Laurent, auch die Regierungen Nigers, Tunesiens, Algeriens und Malis beschuldigen derzeit die libysche Regierung, wenn es um die mangelnde Bekämpfung von islamistischen ­Gewalttätern geht. Sie alle haben in den vergangenen Monaten Anschläge mit teilweise hohen Schäden und Opferzahlen auf ihrem Territorium erlebt.
In Libyen allerdings bestreitet man, alleinig verantwortlich zu sein. Der Ministerpräsident Ali Zeidan hat Vorwürfe zurückgewiesen, ein Anschlag auf eine nigerische Uranmine und Entführungen von BP-Angestellten in Algerien seien in Libyen geplant worden. Der Direktor des Instituts für Afrikastudien in Tripolis, Faraj Najem, erläuterte der Nachrichtenagentur IPS, warum: Der Südosten Libyens werde von den Toubous – einem kleinen Nomadenvolk mit rund 350 000 Angehörigen – kontrolliert, die keinerlei Beziehung zum Islamismus hätten. Die Tuareg von Azawad oder von der islamistischen Gruppe Ansar Dine in Mali würden in Libyen sofort festgenommen, da sie auf der Seite Muammar al-Gaddafis gekämpft hätten.
Tatsächlich hat der im Oktober 2011 ermordete Diktator Gaddafi Tuareg-Rebellen aus Nordmali Unterschlupf gewährt und ihnen die libysche Staatsbürgerschaft zuerkannt, sie aber gleichzeitig von Verhandlungen überzeugt und so 2010 einen Frieden zwischen der malischen Regierung und den Tuareg vermittelt.
Malische Tuareg machen aber unter den Jihadisten nur eine Minderheit aus. Insgesamt dürfte die Zahl der Gaddafi-Unterstützer unter den Jihadisten eher gering sein. Im Mai erst machten islamistische Brigaden in Tripolis ihre kompromiss­lose Gegnerschaft zum früheren Regime deutlich. Sie besetzten zwei Ministerien und forderten ein Gesetz, das es ehemaligen Amtsträgern unter Gaddafi für zehn Jahre verbietet, ein öffentliches Amt zu bekleiden. Das Parlament beugte sich der Waffengewalt und verabschiedete das Gesetz. Davon könnten auch Politiker betroffen sein, die kurze Zeit für Gaddafis Regierung arbeiteten, danach aber jahrelang in der Opposition waren, wie etwa der jetzige Ministerpräsident Ali Zeidan.
Kritiker vermuten, dass die Jihadisten es vor allem auf Mahmoud Jibril abgesehen haben, den ehemaligen Ministerpräsidenten der libyschen Übergangsregierung und derzeitigen Vorsitzenden des größten im Parlament vertretenen Bündnisses. Mit seiner Ausbildung in den USA und internationalen Erfahrungen dürfte Jibril für die Jihadisten genau jenen Typus Politiker verkörpern, von dem sie sagen, dass er im Irak und in Afghanistan installiert worden sei. Tatsächlich könnten sie aber mit dem Gesetz gegen ehemalige Amtsträger unter Gaddafi eine weitgehende Lähmung libyscher Regierungstätigkeit erreicht ­haben. Für alle ehemaligen Diktaturen gilt, dass Funktionseliten zu einem hohen Maß mit den Regimen kooperiert haben. In Gaddafis Libyen, wo nicht einmal die harmlosesten Vereine zu­gelassen waren, war dies noch weit stärker der Fall als anderswo. Ein Staat, in dem nur die Unerfahrensten Ämter bekleiden können, wäre der Traum eines jeden Jihadisten. Das Konzept des modernen Staats lehnen sie ab.

Der libysche Staat scheint derzeit ohnehin kaum vorhanden. Die Jugend hat die Regierungsform »Demooqmooqracy« getauft. »Mooq-mooq« ist eine Spottbezeichnung für die islamistischen Brigaden, die sich bisher nicht haben entwaffnen lassen. Immer weniger scheint die Regierung in der Lage zu sein, dem Terror der »Mooq-mooq« etwas entgegenzusetzen. Im vergangenen Jahr zerstörten sie sufistische Heiligtümer und damit bedeutende Gebetsstätten der Bevölkerung. In diesem Jahr richten sie ihre Gewalt immer mehr gegen die Bevölkerung selbst. Anfang Juni schoss die Miliz »Schutzschild Libyen « auf Demonstranten in Bengasi und tötete dabei 31 Personen.Unter den Milizen galt sie bisher als verlässlich, sie bot Sicherheitsdienste an und durfte im Auftrag der Regierung bei Clanstreitigkeiten eingreifen. Dabei unterstand sie allerdings keiner staatlichen Kontrolle, ihre Mitglieder erhielten keine Schulung.
Nach dem Gemetzel in Bengasi musste der verantwortliche Armeechef zurücktreten, die Miliz ging in den Untergrund. Viele hofften nun auf eine Machtverlust der Milizen zugunsten des Staats. Tatsächlich patrouillieren in Bengasi seit Juni reguläre Polizisten in neuen Uniformen. Viele Milizen haben erst einmal ihre Stützpunkte verlassen.
Wenn allerdings der Richter Jammal Bennor der New York Times sagt, dass jetzt die Bevölkerung keine Milizen mehr dulde, dann ist das nur zum Teil richtig und zum anderen Wunschdenken. Die Bewohner Bengasis kämpfen seit Monaten gegen die Jihadisten. Bereits im vorigen Jahr haben sie eine islamistische Miliz aus der Stadt vertrieben – ohne dauerhaften Effekt.
Ende Juli kam die Gewalt zurück in die Stadt. Am 26. Juli wurde der prominente Anwalt und Vorkämpfer der Revolution gegen Gaddafi, Abdelsalam Mismari, auf offener Straße erschossen. Mismari war als vehementer Kritiker der Muslimbrüder bekannt. Er ist das 61. Opfer politischer Anschläge in Bengasi seit dem Ende der Kämpfe gegen das Gaddafi-Regime.
Einen Tag darauf brachen Tausende von Insassen aus einem Gefängnis außerhalb Bengasis aus. Man vermutet, dass al-Qaida dabei die Finger im Spiel hatte, brachen doch am selben Tag auch jihadistische Gefangene in Irak und Pakistan aus.
Kurz vor Beginn einer antiislamistischen ­Demonstration am darauffolgenden Tag explodierten mehrere Bomben vor dem Gerichtsgebäude am Hafen von Bengasi, wo der Aufstand 2011 seinen Ausgang genommen hatte.
Umso erstaunlicher, wie hoffnungsfroh viele Libyer dabei bleiben. Einer Umfrage vom Mai ­zufolge, die die US-Zeitschrift Foreign Affairs zitiert, sagen 81 Prozent der Befragten, sie seien optimistisch, was die Zukunft ihres Landes betrifft. Eine überragende Mehrheit bekennt sich zu demokratischen Grundwerten, 83 Prozent stimmen der Aussage zu »Demokratie mag ihre Probleme haben, ist aber die beste Form der Regierung«.