Über nächtliche Freibadbesuche

September kommt immer zu früh

Laute Stunts und stille Genießer im Mondlicht: Annäherung an das Nachtschwimmen im Freibad.

Einstieg, die lauschige Variante: ein Satz über den hüfthohen Drahtzaun, dann leise am Fenster der einzigen Anwohner vorbei, wo spät noch Licht brennt. Ein zweiter niedriger Zaun, dann rauscht auch schon rechts unten der Bach. Vor Jahren kam jemand auf die Idee, den Einstieg, lauschige Variante, dichtzumachen: ein Eisengitter, das zwei Meter über das Wasser ragt, unter dem man sich jetzt durchhangeln muss, Kopf nach unten, Füße gegen die Mauer gepresst. Dann balanciert man auf dem Betonsims, die Brennnesseln entlarven die Novizen in ihren kurzen Hosen. Nach 50 Metern links ein letzter Zaun. Willkommen.
Nacht für Nacht, Sommer für Sommer ereignen sich solche Szenen in irgendeiner Stadt. Meist geschehen Ein- und Ausstieg unbemerkt, es sei denn, man stellt sich so ungeschickt an wie der Youngster, der vorigen Sommer ein Stuttgarter Freibad verlassen wollte, indem er unter dem Eingangstor durchkroch und »mit dem Gesäß steckenblieb«, wie es im Polizeibericht am folgenden Tag hieß. Obwohl es keine Erhebungen über nächtliche Freibadbesuche gibt, kann man mit Sicherheit sagen, dass es sich um ein zwangsläufig wetterabhängiges und zeitloses Phänomen handelt. Schland-Patrioten gibt es glücklicherweise nur alle zwei Jahre für ein paar Wochen, Sommerhits hört man meist nur ein Jahr, Nachtschwimmer dagegen haben in jedem Mai, Juni, Juli, August und manchmal auch im September Saison.
Einmal, ich saß rauchend auf der Bank unter einem Baum, traf ich nach dem Schwimmen auf zwei Oberstufenschüler. »Kannst Du mal aufstehen?« fragten sie ein wenig schüchtern. Es klang nach einem dringenden Anliegen. Ich machte Platz, und sie beugten sich unter die Bank. Jeder zog ein Messer und machte an der Stelle, die seine war, eine Kerbe. Eine hölzerne Strichliste als Logbuch. Es ging um eine Wette: Am Ende des Sommers wollte jeder 50 Striche haben. Sagte jemand, die Jugend habe keine Ambitionen? Meine eigenen Striche zählte ich nie. Die ersten stammen zweifellos aus einem Freibad oben auf einem Berg in Bonn. Gegenüber lag das damalige Bundesministerium der Verteidigung. Klar, dass die Bundeswehr dort zum Frühsport einrückte. Um ihr aus dem Weg zu gehen, stieg man einfach noch früher über den Gitterzaun. Und doch waberte etwas wie Corpsgeist durch die milde Luft, denn nie wurde jemand am Einstieg zurückgelassen. Längst nicht mehr seetaugliche Nachtschwimmkadetten wurden auf das hohe Rohr gehievt, von wo aus es über den Zaun ging. Zur Not hing jemand auf halber Höhe und assistierte. Drinnen war nur ein Geräusch zu erwarten: Wenn der blecherne Mülleimer, randvoll mit Wasser aus dem Schwimmerbecken, flankiert von zwei Paar leuchtend weißen Arschbacken, mühsam die schmale Leiter der Rutsche hochgewuchtet worden war und die Rutschspur endlich lief, flog er mit Schwung wieder herunter. Wenn er aufkam, schickte der Asphaltboden eine blecherne Symphonie ins Tal, die von den Hügeln ringsum reflektiert wurde.
Manche Fraktionen nächtlicher Freischwimmer griffen zu ganz anderen Mitteln, um sich auszudrücken. Und so geschah es, dass auf einmal ein Nachtbademeister auftauchte, inoffiziell, versteht sich, der mit der Zielgruppe einigermaßen affin war und feixend von seiner neuen Tätigkeit erzählte. Vergütet wurde sie mit Saisonkarten. Diejenigen, die auch im Hellen kamen, kannten den Nachtbademeister als lebendes Monument, das den lieben langen Tag in seinem aufblasbaren Stuhl auf den Terrassen thronte und Kölsch aus Plastikbechern in seinen dunkelbraunen Bauch füllte.
Es sind noch mehr Fälle von Freibädern überliefert, die sich mit ihrem klandestinen Publikum arrangierten. In Freiburg etwa, klimatisch für eine lange Nachtschwimmsaison prädestiniert, fand eine Bademeisterin bei der Frühschicht immer einige Kippen am Beckenrand vor. Also stellte sie eines Tages einen Aschenbecher auf die Bank. Am folgenden Morgen war er gut gefüllt. Daneben lag ein Zettel mit der Aufschrift »Danke«.
An Leanne Shapton musste all dies natürlich vorbeigehen. Einst kanadische Kaderschwimmerin und 1992 Fast-Olympionikin, veröffentlichte sie 2012 das Buch »Swimming Studies« (deutscher Titel »Bahnen ziehen«), das ungekannte Einblicke in die Welt des Leistungsschwimmens bietet. Hinter den bemerkenswert atmosphärischen Detailschilderungen unzähliger Schwimmbäder steht ein jahrelanges straffes Trainingsregime. Weshalb es kaum überrascht, dass Leanne Shapton schon weit in den Zwanzigern ist, als sie zum ersten Mal nachts ein Freibad betritt, nach einer Geburtstagsfeier und weißweinbeschwingt. Sie schwimmt im Partykleid.
Mit den Klamotten ist es so eine Sache. Wer mit der Materie vertraut ist, kann im Dunkeln Neuankömmlingen auf den Kopf zusagen, wer von ihnen mit Kleidern schwimmt und wer ohne. Es war um die Jahrtausendwende herum, als »nackt« selbst in Städten aus der Mode kam, in denen reichlich alte Hippies und immerjunge Salonsozialisten wohnen. Brechen konnte diesen Trend höchstens die Rutsche, die ihren wahren Charakter nur den Nackten offenbarte. Der Distinktion unter Nachtschwimmern ist es damit längst nicht genug. Es ist eine heterogene Gruppe, die da über die Zäune klettert. Da gibt es jene, die vor allem Mitbadende des Geschlechts ihrer Präferenz ohne Klamotten sehen wollen. Stille Genießer, die zum Glucksen des Überlaufs wohlig auf dem Rücken treibend in Richtung der Sterne starren. Oder solche wie Henk, nennen wir ihn so, ein linksradikaler Kleinstadt-Intellektueller, der zunächst kam, weil es in seiner WG keine Dusche gab, und dann allen Ernstes anfing, im Mondschein Bahnen zu ziehen und diese auch noch zu zählen.
Wie alles begann, hat niemand aufgeschrieben. Nur wo es hingeht, ist klar: in Richtung Demokratisierung. Wer sich die Treffer einer Internet-Suche mit den Schlagwörtern »Freibad« und »Nachtschwimmen« ansieht, bekommt eine Ahnung davon, dass der heimliche Brauch längst dabei ist, zur Institution zu werden. Zahllose Bäder, in den Städten und der Peripherie, öffnen in bestimmten Nächten ihre Türen. Das ist eine Light-Version ohne Klettern und Kitzel. Im »Swimming Song« von 1973 erwähnte Loudon Wainwright das Nachtfreibad jedenfalls noch nicht. Schwammig ist dort nur von »Chlorine my eyes« die Rede, wenn der Songwriter die Meere und Tümpel aufzählt, in die er im Verlauf eines langen Sommers eintauchte. Vielleicht steht am Anfang der Demokratisierung ja das Stück »Nightswimming« von REM, mit seiner vier Wörter langen Drohung: »September’s Coming Soon«. Wie soll man das anders interpretieren denn als eine trotzige Handlungsanleitung für jede warme Sommernacht? Wie das so ist: Beim Versuch, die Sachen in geordnete Bahnen zu lenken, geht so einiges verloren. Selbstredend werden offizielle Nachtschwimmer niemals eine Schülerhorde mitten in den Ferien erleben, die ihren Frühlingsschrei vom leicht abschüssigen Dach schickt und gleich darauf mit mächtigem Satz in den Pool hechtet. Auch werden sie nie jemanden sehen, der sich ein Skateboard mit Tape unter die Füße klebt, anrollt und ins Wasser springt. Großer Sport ist das. Schwimmen können wir später, erstmal hinsetzen und zuschauen. Jemand dreht einen Spliff. Weil man sie von weitem hört, passiert natürlich, was passieren muss. Diese Taschenlampen sind gar nicht zu verwechseln. Ihre Träger haben vielleicht nicht den populärsten Beruf, aber zweifellos die dicksten Lichtkegel der Stadt. Wie kleine Ufos kommen sie hinter der Hecke hervor und schweben über die Liegewiese. Personalien werden aufgenommen, es folgt eine Lektion Jura, praxisbezogen. Paragraph 123 I: Hausfriedensbruch, Paragraph 265a: Erschleichen von Leistungen. Einen Effekt hat ihr Auftritt nicht.
Das Freibad entfaltet nachts eine eigene Magie, die selbst jene anlockt, die es tagsüber zum Teufel wünschen. Ganz wie der Protagonist in Alexandra Hetmerovás Animationsfilm »Swimming Pool«: Er wohnt in der Nachbarschaft eines überfüllten, lärmenden Schwimmbads, dessen Geräuschpegel ihn abschreckt, bis die Sonne untergeht. Im Dunkeln macht er sich genau dorthin auf, wo er in dieser Nacht der Liebe begegnet.
Die Streife hat ihren Job erledigt. Unter vier strengen Augen laufen wir zum Haupttor und klettern darüber, um den lauschigen Einstieg nicht preiszugeben. Drinnen liegt noch ein Päckchen Gras, eilig in den Büschen entsorgt. Außerdem sind unsere Namen nun für etwas notiert, das wir noch gar nicht getan haben. Also heißt es warten, bis das Motorengeräusch verhallt ist. Dann geht es am Bach entlang zurück. Auf dem Weg zum Becken schiebt sich auf einmal ein Schatten über die helle Mauer. Es ist ein Mann jenseits der 50. »Guten Abend«, sagt er. »Eine schöne Nacht zum Schwimmen.«