Al-Nahda und die Jihadisten in Tunesien

Al-Nahda wirft Ballast ab

Unter dem Druck der Opposition opfert die islamistische Regierungspartei al-Nahda ihre guten Beziehungen zur salafistisch-jihadistischen Organisation Ansar al-Sharia.

Über mangelnde Beschäftigung können sich die tunesischen Ordnungskräfte derzeit nicht beklagen. Am Montag kam es nach Angaben des Innenministeriums zu einer Schießerei in Bourj Chakir, einer banlieue von Tunis, zwischen Spezialeinheiten der Nationalgarde und Mitgliedern der salafistisch-jihadistischen Organisation Ansar al-Sharia. Zwei der mutmaßlichen Jihadisten seien dabei erschossen, zwei, die zum »militärischen Flügel« Ansar-al Sharias gehörten, verhaftet worden. Am Wochenende hätten Einheiten der Nationalgarde unter anderem, so berichtete die tunesische Tageszeitung La Presse, in Ghazala eine beträchtliche Menge Waffen beschlagnahmt und den Eigentümer einer Villa verhaftet, die mutmaßlichen Terroristen als Versteck gedient habe, in Ennasr sei eine Moschee durchsucht und »Bärtige« seien unter dem Verdacht festgenommen worden, sie hätten dort Waffen gelagert.
Ende August hatte der tunesische Innenminister Lotfi Ben Jeddou, ein Unabhängiger in der von der islamistischen Partei al-Nahda dominierten Regierungskoalition, Ansar al-Sharia zur terroristischen Organisation erklärt. Kurz zuvor waren auf dem Berg Chaambi nahe Kasserine acht Ordnungskräfte in einem Hinterhalt von Jihadisten getötet worden; Ansar al-Sharia bestreitet jede Verantwortung dafür. In einem Interview, das am Montag in La Presse publiziert wurde, schätzt Alaya Allani, Spezialist für den politischen und radikalen Islam im Maghreb, die Anzahl der Anhänger Ansar al-Sharias sei von 800 im Jahr 2012 auf 5 000 im Jahr 2013 angewachsen, aus Gründen einer toleranten Politik al-Nahdas gegenüber der Organisation. Al-Nahda bekenne sich zu einem »gemäßigten Islam«, beziehe aber auch die radikalsten Salafisten mit ein. Ein guter Teil der Jugendlichen von al-Nahda habe sich salafistischen Gruppen angeschlossen, der »gemäßigte«, »liberale« Flügel der Partei sei eine kleine Minderheit ohne großen Einfluss über die Bewegung. Weil sich zum ersten Mal in der Geschichte eine breite Opposition aus politischen Parteien, dem Gewerkschaftsverband UGTT, dem Unternehmerverband Utica, der Anwaltskammer und der tunesischen Menschenrechtsliga gebildet habe, habe al-Nahda vor einer schwierigen Entscheidung gestanden: Um sich ihren Gegnern von der Opposition anzunähern, habe sie beschlossen, ihre Alliierten – also Ansar al-Sharia – zu opfern. In den Verhandlungen mit der Opposition hätten diese nach Einschätzung von Beobachtern als Sündenbock gedient.
Seit dem Mord an dem linken Abgeordneten Mohammed Brahmi Ende Juli fordern die oppositionellen Kräfte die Auflösung der Regierung, teils auch der verfassunggebenden Versammlung, deren Arbeit suspendiert ist. Nach großen Demonstrationen am 6. August, bei denen nach Angaben der Opposition etwa 100 000 Menschen den Rücktritt der Regierung gefordert hatten, und am 14. August, als demzufolge 100 000 bis 150 000 Menschen für Frauenrechte und gegen al-Nahda auf die Straße gegangen waren, wurde am Samstag erneut in Tunis gegen die Islamisten demonstriert. Der Anlass war der 40. Todestag von Mohammed Brahmi, nach Presseberichten beteiligten sich zwischen 20 000 und 100 ooo Menschen daran. Doch die Taktik al-Nahdas, in Verhandlungen mit den verschiedenen Teilen der Opposition auf Zeit zu spielen, um sich so lange wie möglich an der Macht zu halten, scheint zunächst aufzugehen.
Derweil verstärkt sich die politische Repression. Zwei Rapper wurden kürzlich wegen polizeikritischer Songs zu 19 Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt, sie sind untergetaucht. Ein Kameramann, der gefilmt hatte, wie auf einen Minister ein Ei geworfen wurde, landete vorübergehend im Gefängnis. Vorige Woche streikten die Radiojournalisten einen Tag lang, um gegen die Personalpolitik der Regierung zu protestieren, die ihrer Ansicht nach eine kritische Berichterstattung unterbinden will. Im Übrigen häufen sich am Flughafen Tunis-Carthage Fälle, in denen Frauen unter 35 Jahren von den Behörden aufgefordert werden, eine schriftliche Einverständniserklärung von Vater oder Ehegatten vorzuweisen, wenn sie in bestimmte Länder wie Syrien, Libanon oder Marokko ausreisen wollen.