Die Krise hat Geburtstag. Fünf Jahre Lehman-Pleite

Am Ende der Wall Street

Vor fünf Jahren brach die Investmentbank Lehman Brothers zusammen. Seitdem versuchen die Staaten, den Kapitalismus zu reorganisieren. Bisher ohne Erfolg.

Manchmal liegt auch die Uno richtig. Ihren jährlichen »Tag zur Verhinderung von Katastrophen« hatten die Vereinten Nationen im Jahr 2008 ausgerechnet auf den 15. September gelegt. Während ihre Vertreter bei einem Buffet am United Nations Plaza in New York Regierungen und Bürger zu Maßnahmen gegen alle möglichen Katastrophen­szenarien aufforderten, brach nur wenige Blocks entfernt mit Lehman Brothers die fünftgrößte Investmentbank der USA zusammen. Mit einem Gläubigervolumen von etwa 639 Milliarden US-Dollar handelte es sich um die größte Pleite in der Wirtschaftsgeschichte der USA. Spätestens da war allen Zeitgenossen klar, dass die Krise, die bereits seit einiger Zeit die Wirtschaftsnachrichten beherrschte, in ihrem Lebensalltag ankommen würde.
Eigentlich war der »kreditfinanzierte Superzyklus«, wie es die Analysten der Deutschen Bank in Rückschau auf die Lehman-Pleite formulierten, bereits gegen Ende des Jahres 2006 kulminiert. Aber kaum einer der Ökonomen, geschweige denn der Politiker, zeigte sich bereit, von den schönen ­Illusionen eines krisenfesten Kapitalismus Abschied zu nehmen. Nur ganz wenige in der Wirtschaftsforschung sahen, wie das gewerkschaftsnahe Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), »dunkle Wolken am Konjunkturhimmel« heraufziehen. »Niemand möchte im Moment der Wahrheit ins Gesicht sehen«, gab am 13. Februar 2007 der Wertpapierhändler David Castillo von Further Lane Securities in San Francisco die Stimmung wieder, als der erste Einbruch des Dow-Jones-Indexes an der New Yorker Börse noch als atmosphärische Störung abgetan wurde. »Denn die Wahrheit ist ziemlich hässlich.« Spätestens im Oktober setzte unter den Anlegern jedoch langsam Panik ein, denn nach dem Höchststand an der Wall Street von 14 164,53 Punkten begann ein unaufhaltsamer Abstieg, an dessen Ende im März 2009 ein Rückgang um 53,8 Prozent stand.

Für die Politik aber markierte erst die Lehman-Pleite den Umschwung, der dann als umso dramatischer wahrgenommen wurde. Während US-Präsident Barack Obama sich zunächst lieber in Schweigen hüllte, war es an dem ehemaligen Vorsitzenden der US-Notenbank Fed, Alan Greenspan, den apokalyptischen Befürchtungen Ausdruck zu verleihen. Nur einen Tag nach dem Fall von Lehman Brothers verkündete er »das absolute Ende der Wall Street, wie wir sie kennen«. Und Deutschlands damaliger Finanzminister, Peer Steinbrück, meinte kurz darauf, er habe erschrocken »in den Abgrund der Krise« geschaut. Aussagen wie diese waren häufig in den Wochen nach dem Fall Lehmans zu hören. Selbst ein sonst so nüchterner Historiker wie der unlängst verstorbene Eric Hobs­bawm stimmte in den Chor mit ein. In einem Interview im Stern mit dem Titel »Es wird Blut fließen, viel Blut« meinte er, dass »der 15. September 2008, der Tag, an dem die Lehman-Bank zusammenbrach, den Lauf der Geschichte mehr verändern wird als der 11. September 2001, als die Türme des World Trade Center zusammenbrachen«.
Es war die Mischung aus Ignoranz der früheren Krisenerscheinungen und Überbewertung der Lehman-Pleite, die den Mythos von der Finanzkrise erschaffen hat. Grundlage dafür war der Aufstieg der Finanzindustrie in den Jahrzehnten seit Mitte der siebziger Jahre. In den USA etwa waren seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Anteile der Profite des Finanzsektors an denen aller Kapitalgesellschaften von acht auf über 35 Prozent gestiegen. Innerhalb von kaum 20 Jahren, von 1989 bis 2007, stieg die Marktkapitalisierung der Aktienmärkte im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt nach Zahlen der Financial Structure Database der Weltbank in den USA von 58 auf 144 Prozent und in der Bundesrepublik von 23 auf 57 Prozent. Einer Analyse von McKinsey aus dem Jahr 2011 zufolge betrug das Aktien- und Anleihekapital 2007 insgesamt 202 Billionen US-Dollar und damit 376 Prozent des Weltsozialprodukts. Noch stärker war der Anstieg des fiktiven Kapitals in Gestalt der Derivate. Im September 2008 soll das Gesamtvolumen dieses neuen Typs von Finanzmarktprodukten nach Schätzungen der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich bei fast 600 Billionen Dollar gelegen haben – dem 15fachen der weltweiten Summe der Bruttoinlandsprodukte. Ernst Lohoff und Norbert Trenkle, Mitglieder der Gruppe Krisis und Autoren der Studie »Die große Entwertung«, haben zweifellos recht, wenn sie an gleicher Stelle folgerten: »Noch nie in seiner Geschichte hatte der Finanzsektor auch nur ansatzweise das Gewicht innerhalb der Gesamtwirtschaft wie in der gegenwärtigen Epoche.«
Nur war dieser Hype der Finanzindustrie nicht etwa einer Überrumpelung der Realwirtschaft, sondern im Gegenteil der Überakkumulation von Investitionen im industriellen Sektor geschuldet. Der US-Ökonom Robert Brenner hat diesen Zusammenhang in seiner Studie »Economics of Global Turbulence« durch einen Vergleich der Nachkriegsepoche bis 1973 mit der folgenden Periode nachgewiesen. So hatte sich nicht nur das Wirtschaftswachstum in den OECD-Ländern halbiert, sondern auch die Profitraten waren dort um mindestens ein Drittel bis mehr als die Hälfte eingebrochen. Wie eine OECD-Studie aus dem Jahr 2008 zeigt, ist der Anteil des produzierenden Gewerbes an den globalen Direktinvestitionen von 41 Prozent im Jahr 1990 auf rund 30 Prozent im Jahr 2005 gesunken. Dies und die »Lockerung der Kreditpolitik« der Zentralbanken habe es unmöglich gemacht, »die anschließende Rezession zu überwinden und wieder wirtschaftliche Lebenskraft aufzubauen«, wie Brenner folgert. Seit den siebziger Jahren ersetzten Schuldtitel auf erwarteten, in der Realität aber ausbleibenden Mehrwert die Verwertung. Die Folge waren die Blasenbildungen zunächst in der New Economy, später im Immobiliensektor.

Mit dem Übergang zu höheren Zinssätzen durch die Fed 2004 und der damit verbundenen Verteuerung der Refinanzierung der Hypotheken war es dann soweit: Ende 2007 standen beinahe eine Million Haushalte allein in den USA vor der Zwangsversteigerung. »Bei all den raffinierten Sachen – Kreditderivaten, Swaps – vergisst man leicht, dass die Ursache des Ganzen fallende Hauspreise sind«, so Alan S. Blinder, ehemaliges Vorstandsmitglied der Fed. Im Januar 2007 hatte die Gesamtsumme der hypothekenversicherten US-Wertpapiere über 5,8 Billionen Dollar betragen – mehr, als alle realen Immobilien im Land wert waren. 14 Prozent der Hypotheken basierten auf Subprime-Krediten. Dies war umso bedrohlicher, als zwischen 2000 und 2005 »die Investitionen außerhalb des Wohnungsbaus sowie der Nettoexport ein Wachstum unter Null (verzeichneten), so dass der Privatverbrauch und die Wohnungsbauinvestitionen praktisch als einzige Triebkräfte der Wirtschaft übrig geblieben waren«, wie Brenner in einem Artikel direkt nach der Lehman-Pleite schrieb.
Wie schon bei der Bewältigung der Großen Depression 1929 bis 1945 war es nun an den Staaten, den Karren aus dem Dreck zu ziehen. Die Wirtschaftswissenschaftlerin Joyce Kolko hatte 1988 berechnet, dass »etwa die Hälfte aller neuen Arbeitsplätze nach 1950 durch Staatsausgaben geschaffen« wurden. Das Jahr 2009 brachte international den größten Anstieg der Staatsverschuldung, den der Kapitalismus bisher erlebt hatte. Die überall aufgelegten Konjunkturprogramme, der Aufkauf von Schuldtiteln und verschiedene nationale Maßnahmen – in Deutschland beispielsweise die Abwrackprämie und das Kurzarbeitergeld – ließen den Schuldenstand erheblich steigen. In den USA hatte die Staatsverschuldung 2003 noch bei 6,8 Billionen Dollar gelegen, war bis 2007 auf etwa 8,9 Billionen gestiegen, um sich in den folgenden vier Jahren auf über 15 Billionen Dollar fast zu verdoppeln. Allein die Rettung des Versicherungskonzerns AIG – Pleiten kamen nach den Erfahrungen mit Lehman Brothers nicht mehr in Frage – ließ sich die US-Regierung fast 152 Milliarden kosten. In der Bundes­republik brachte die öffentliche Hand im Frühjahr 2009 102 Milliarden Euro an Beihilfen und Garantien für die Hypo Real Estate auf.

Hinzu kam, dass die Notenbanken nicht nur die bereits häufig erprobte Niedrigzinspolitik bis weit unter die Inflationsraten betrieben und in großem Maßstab staatliche Schuldtitel aufkauften, sondern den Banken, deren Handel untereinander fast zum Erliegen gekommen war, kurzfristige Kredite in ganz neuem Ausmaße gewährten. Zwischen 2007 und 2009 weitete etwa die Europäische Zentralbank (EZB) nach Angaben des Deutschen Bankenverbandes ihre Bilanzsumme um 50 Prozent von 1,2 auf 1,8 Billionen Euro aus. In den USA wuchs sie im gleichen Zeitraum gar um 150, bei der Bank of England um 180 Prozent. Trotzdem erreichte die Weltindustrieproduktion erst im Frühjahr 2011 wieder das Niveau von 2007, um in der Folge nur leicht anzusteigen. Die Arbeitslosenquote in den 34 OECD-Ländern liegt seit 2009 stabil bei über acht Prozent und wird Zahlen des Beschäftigungsausblicks der OECD für 2014 zufolge auch in den kommenden Jahren auf diesem Stand verharren.
Von einem »Niedergang des privatwirtschaftlichen Systems« zu reden, wie der Marxist Paul Mattick, scheint sehr realistisch. Es »muss mehr und mehr Profit kapitalistischen Zwecken (durch den Staat) entzogen werden, um die Hungernden zu ernähren, die Aufsässigen zu befrieden und die Folgen der selbst in den entwickelten Ländern ungenügenden Akkumulation zu verwalten«, schreibt er in seiner Studie »Business as usual«. Ein Blick auf die beiden größten Nationalökonomien der Welt verdeutlicht dies. In Japan muss der Staat Jahr für Jahr etwa 60 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts an den Kapitalmärkten als Kredit generieren, um seine Schuldtitel zu bedienen, und die Neuverschuldung der USA beträgt stabil zwölf Prozent pro Jahr. Nach der Dotcom- und der Immobilienblase könnte demnächst die Staatskreditblase zum Platzen kommen, wie sich in weniger stabilen Nationalökonomien schon jetzt andeutet. Ein »Tag zur Verhinderung von Katastrophen« wird dies kaum verhindern können.