Der Westen und Syrien

Bloß nicht zu sehr anstrengen

Auch eine begrenzte Intervention könnte das Kräfteverhältnis im syrischen Bürgerkrieg entscheidend beeinflussen, doch den westlichen Regierungen fehlt ein strategisches Interesse.

Der Imperialismus ist auch nicht mehr das, was er mal war. »Unglaublich klein« werde der Angriff auf Syrien ausfallen, versprach US-Außenminister John Kerry am Montag. Ein Einsatz amerikanischer Bodentruppen sei ausgeschlossen, vielmehr gehe es um eine »sehr begrenzte, sehr gezielte kurzfristige Anstrengung«. Sie soll Bashar al-Assads »Fähigkeit, chemische Waffen einzusetzen, mindern, ohne Verantwortung für den syrischen Bürgerkrieg zu übernehmen«.
Wohl nie zuvor wurde ein Militäreinsatz so zaghaft angekündigt. Auch das Tempo der Entscheidungsfindung ist gemächlich. US-Präsident Barack Obama hielt es nicht für angebracht, den Kongressabgeordneten den Verzicht auf das letzte Barbecue zum Septemberanfang zuzumuten und sie verfrüht zur Syrien-Debatte aus dem Urlaub zu holen. Eine weitere, der US-Regierung angesichts einer zumindest im Repräsentantenhaus wahrscheinlichen Ablehnung der Interventionspläne wohl gelegen kommende Verzögerung bringen nun die Verhandlungen über die Kontrolle des syrischen Chemiewaffenarsenals. Kerry hatte am Montag dessen Übergabe binnen einer Woche gefordert, Russland griff diesen Vorschlag auf und Obama bezeichnete die Initiative als »eine poten­tiell positive Entwicklung«. Weil völlig unklar ist, wie Bestände und Produktionsstätten zuverlässig ausgemacht werden können, dürften Monate vergehen, bis überhaupt entsprechende Modalitäten gefunden werden.
Dass der Krieg unterdessen weitergeht, scheint kaum jemanden zu stören. In der Interventionsdebatte dominieren innen- und parteipolitische Interessen. So mochten zahlreiche britische Tories bei der Abstimmung im Unterhaus über die Syrien-Intervention ihrem ungeliebten Vorsitzenden David Cameron nicht folgen. In Frankreich entdeckten die Konservativen nach diversen Interventionen in Afrika, bei denen die Uno nicht von Interesse war, auf einmal das internationale Recht und verweigerten dem sozialdemokratischen Präsidenten François Hollande, neben Obama der einzige einflussreiche Befürworter einer Intervention im Westen, die Zustimmung. Ginge es tatsächlich um die zukünftige Ölversorgung oder andere essentielle Belange des Westens, so könnte man etwas mehr Engagement erwarten.
Doch in Syrien fehlt ein strategisches Interesse. Insofern hat Doug Bandow vom rechtslibertären Cato Institute recht, wenn er in der linksliberalen Huffington Post die überparteilichen Argumente gegen eine Intervention zusammenfasst und aus nationaler Sicht »kein substantielles Interesse« der USA an einem Eingreifen erkennen kann. Der syrische Bürgerkrieg sei »keine amerikanische Tragödie«, er gefährde die nationale Sicherheit nicht, da Assad die USA weder angreifen können noch wolle und deren regionale Verbündete ausreichend »finanzstark und gerüstet« seien, um sich selbst zu verteidigen.

Tatsächlich liegen die potentiellen strategischen Gefahren in einer relativ fernen Zukunft. Assad ist auf iranische Hilfe angewiesen, sollte er den Krieg gewinnen, wäre er wohl kaum mehr als der Verwalter eines Klientelstaats der Ayatollahs. Ein solcher Sieg oder eine Eskalation der Kämpfe im Libanon könnte die Hizbollah zu dem Versuch ermutigen, eine islamistische Diktatur zu errichten. Die strategische Lage Israels wäre dann deutlich schlechter, und das iranische Regime sähe sich in der Ansicht bestätigt, dass nur direkte Angriffe auf westliche Einrichtungen eine wirkliche »rote Linie« darstellen, man also beruhigt weiter an der Atombombe basteln und terroristische Auslandsoperationen durchführen kann.
Doch obwohl die Truppenverstärkungen aus dem Iran und dem Libanon sowie die russischen Waffenlieferungen das Regime Assads wieder gestärkt haben, ist von einer allgemein erfolgreichen Offensive wenig zu bemerken. Der Aufrüstung sind Grenzen gesetzt, denn moderne Waffensysteme benötigen Experten zu ihrer Bedienung, und so direkt wird Russland nicht eingreifen wollen. Die iranische Unterstützung stößt auf andere Hindernisse. Sie erfolgt überwiegend auf dem Luftweg, da die irakische Regierung Waffen- und Truppentransporte über Land zwar offenbar duldet, die meisten Routen aber in Syrien durch kurdische oder von Aufständischen gehaltene Gebiete führen. Die Kapazitäten des Lufttransports sind begrenzt. Überdies hat mit Hashemi Rafsanjani einer der einflussreichsten iranischen Poli­tiker Assad öffentlich für den Giftgaseinsatz in Ghouta verantwortlich gemacht, ein deutliches Zeichen dafür, dass die Syrien-Politik innerhalb des Regimes umstritten ist. Sollte nämlich Assad den Krieg trotz der iranischen Unterstützung verlieren, würde das die Machtposition des islamistischen Regimes erheblich schwächen.

Derzeit scheint in Syrien ein labiles militärisches Gleichgewicht zu herrschen, auf Seiten der Gegner Assads auch zwischen den sunnitischen Jihadisten und den Aufständischen der Free Syrian Army (FSA). Michael Weiss weist im Magazin Foreign Affairs auf die Unterschiede zwischen dem Norden und dem Süden des Landes hin. Im Süden scheint es weitaus besser gelungen zu sein, die Jihadisten zurückzudrängen, da diese über die jordanische Grenze keine Waffenlieferungen erhalten, während die FSA unter anderem durch Ausbildungsmaßnahmen gestärkt wurde. Anders im Norden, wo islamistische Gruppen aus der Türkei versorgt werden. Doch auch dort kommt es immer wieder zu zivilen Protesten gegen die Jihadisten, denen es kaum gelingen dürfte, die Herrschaft über die von ihnen kontrollierten Gebiete dauerhaft zu sichern.
Es gibt somit eine diplomatische und eine militärische Möglichkeit, das Kräfteverhältnis zu ändern, ohne große Risiken einzugehen. Die Unterstützung für die FSA kann verstärkt und der Nachschub für die Jihadisten kann durch politischen Druck unterbunden werden. Die US-Regierung müsste sich jedoch mit Verbündeten anlegen, vor allem mit der Türkei und den Unterstützern der Jihadisten in den Golfmonarchien, dem Emir von Katar sowie diversen islamistischen Netzwerken, die auch in den Herrscherhäusern Einfluss haben. Dass der König von Saudi-Arabien von der Unterstützung jihadistischer Gruppen in Syrien offenbar Abstand genommen hat, dürfte Obama diese Aufgabe erleichtern, sollte er sich ihr widmen wollen. Die Start- und Landebahnen der Flughäfen könnten zerstört werden, ohne Zivilisten zu gefährden, so dass Assad von seinen iranischen Helfern weitgehend isoliert wäre.

Doch mit den Verhandlungen über das syrische Chemiewaffenarsenal werden solche Maßnahmen noch unwahrscheinlicher. Der Einsatz von Giftgas gilt nun de facto als einziges Problem im Rahmen einer ansonsten für die »internationale Gemeinschaft« akzeptablen Kriegführung Assads. Anlässe für eine Anklage vor dem Internationalen Strafgerichtshof hätte es bereits vorher in erheblicher Zahl gegeben. Um wenigstens eine konkrete Idee vorweisen können, propagieren europäische Politiker nun eine juristische Untersuchung des Giftgaseinsatzes, ansonsten fordern die EU-Außenminister nur eine »klare und starke Antwort«.
Einmal mehr wissen die antidemokratischen Kräfte in der »internationalen Gemeinschaft« genauer, was sie wollen. China und Russland wollen den Einfluss der USA zurückdrängen, verteidigen aber vor allem das Recht auf Diktatur. In der Sprache der Diplomatie nennt man es nationale Souveränität. Langfristig betrachtet gäbe es auch für westliche »Realpolitiker« gute Gründe, der Ausdehnung des iranischen Machtbereichs und dem sunnitischen Jihadismus rechtzeitig entgegenzutreten. Derzeit aber erscheint die Syrien-Intervention als moralische Frage, daher glaubt man sich mit einer bestenfalls unglaublich kleinen Anstrengung begnügen zu können.