Die NSA, das »böse Amerika« und »wir«

Im Netz der Opfer

Der NSA-Skandal beschäftigt die Netz­gemeinde nach wie vor. Statt Gesellschaftskritik zu üben, lobt sie jedoch lediglich ­die »freiheitlich-demokratische Grundordnung«.

In der Vergangenheit interessierte sich die Linke immer für soziale Unmutsäußerungen größeren Stils, die ohne ihr Zutun, gleichsam selbstläufig aufgekommen waren. Denn es bestand stets die Möglichkeit, dass aus spontanem Unmut mittels Beimischung der richtigen Dosis analytischer Gesellschaftskritik eine zumindest partiell das Bestehende in Frage stellende Bewegung entstehen könnte. Heutzutage verhält sich das anders, und es ist beispielsweise unklar, ob aus dem allgemeinen Unmut über die Massenbespitzelungen US-amerikanischer und britischer Geheimdienste und ihrer willigen deutschen Helfershelfer jemals mehr als ressentimentgeladenes Geraune über die Machenschaften »derer da oben« und die »Arroganz der Amerikaner« resultieren wird.

Aufschluss hierüber lieferte am Wochenende die Demonstration unter dem Motto »Freiheit statt Angst« in Berlin. Das Aktionsbündnis, das die Veranstaltung organisierte, fasste sich und seine Anhänger im Aufruf zu einem in »Angst« lebenden »Wir« zusammen und forderte dazu auf, »unser Leben« gegen »Politiker und Konzernlenker« zu verteidigen. Was es von den USA hält, lässt sich auf seiner Internetseite nachlesen: Die Amerikaner spielten sich als »gottgleiche Wesen auf, die sich über jedes Gesetz hinwegsetzen« dürften, und nähmen sogar die UN »in Geiselhaft«.
Zweifel am gesellschaftskritischen Potential waren bereits Ende Juli während der Berliner Demonstration gegen die Bespitzelungen kaum abzuweisen. Auf der zweitgrößten deutschen Kundgebung dieser Art – nur in Frankfurt am Main waren zur gleichen Zeit noch mehr, nämlich 4 000 Teilnehmer erschienen – dominierte eine weh­leidige Stimmung. Man fühlte sich verraten von einer Obrigkeit, der man dem mehrheitlichen Bekunden zufolge sowieso schon alles Üble zutraute. Ausgerechnet diese Obrigkeit zieh man eines mangelnden Verfassungsschutzes im ideellen Sinne: Sie habe »Demokratie und Rechtsstaat«, ja sogar die von früheren Protestbewegungen mit beißender Ironie überzogene »freiheitlich-demokratische Grundordnung« ausländischer Einflussnahme geopfert. Nicht nur der demokratischen Ideologie der Bundesrepublik wurde gehuldigt wie sonst nur auf Parteitagen, selten wurde auf einer öffentlichen Manifestation von nicht explizit Rechten so sehr die Souveränität des deutschen Staats gefeiert, der die Amerikaner Schaden zugefügt hätten.
Wessen Herz aber nicht nur an Demokratie und Souveränität hing, der hing Verschwörungstheo­rien an. In einem Bericht der Taz wird – durchaus beispielhaft – die Performance einer jungen Frau beschrieben, die »eine Pyramide mit einem wachenden Auge auf ihr Schild gemalt« habe, »das Symbol der Illuminaten, rot durchgestrichen«. Der Bericht fährt fort: »Sie beschäftige sich viel mit Dingen, über die Medien nicht berichten, sagt sie. ›Terrorismus ist nicht mehr real für mich.‹ Alles Fake, alles Konstrukt, ersponnen auf den Bilderberg-Konferenzen.« Ob sie es nun mit Illuminaten oder Bilderbergern halten oder lieber mit Stasi-Seilschaften, Kinderschänderringen oder wer sonst noch das paranoide Pandämonium deutschen Welt­ekels in den vergangenen Jahren bevölkerte, die Mehrheit der Deutschen braucht iden­tifizierbare Personen, denen sie das Übel dieser Welt anlasten kann, sonst droht sie an dieser ­zu verzweifeln.

Und das ist durchaus nachvollziehbar. Schließlich verlangt man ihren staatsbürgerlichen Gehirnen inzwischen Leistungen ab, an denen auch das von der Theologie des »dialektischen Materialismus« ausgebildete Denken osteuropäischer Staatsbürger der stalinistischen Periode zuschanden ging. Was gestern noch schwarz war, kann heute weiß sein, zwei plus zwei sind fünf, wenn dies die ­Partei so erkannt hat. Es ist durchaus im Sinn der Vision George Orwells in »1984«: Während den Leuten bis vor kurzem erklärt wurde, die Überwachungsmaßnahmen seien nach den Attentaten vom 11. September 2001 eingeführt worden, um die »freie Welt« vor dem Terror des islamischen Fundamentalismus zu schützen, müssen sie sich nun einen Reim darauf machen, dass die führenden Mächte dieser »freien Welt« mit Islamisten in Tunesien, Ägypten und seit einiger Zeit auch in Syrien gemeinsame Sache machen. Zur Welterklärung benötigen etliche deshalb Illuminaten oder Bilderberger – nachvollziehbar, aber dennoch heller Wahn.
Um zu klären, warum aus der allgemeinen Missstimmung in Sachen NSA und GCHQ hierzulande keine »soziale Bewegung« entsteht, suchte die Taz Ende Juli »Bewegungsforscher« auf. Diese gaben eher Bescheidenes zu Protokoll: Es seien Sommerferien, danach werde alles besser. Es sei noch­ ­alles »zu abstrakt«, es fehle »der klare Gegner« und: »Es fehlt eine klare Opfergruppe.«
An der genauen Festlegung der Opfergruppe hatte die Autorin Juli Zeh jedoch schon gearbeitet. »Wir können uns nicht wehren. Es gibt keine Klagemöglichkeiten, keine Akteneinsicht. Während unser Privatleben transparent gemacht wird, behaupten die Geheimdienste ein Recht auf maximale Intransparenz ihrer Methoden.« Die wehr­losen Opfer hatte sie schlicht als »wir Bürger« bezeichnet. Diese wollen zwar nur »Klagemöglichkeiten«, aber sie sind viele. Der von Zeh verfasste offene Brief war im Juli an die Bundeskanzlerin geschickt und nach seinem Abdruck in der FAZ im Internet veröffentlicht worden, wo er bald den Zuspruch mehrerer zehntausend Mitunterzeichner erfuhr (Jungle World 32/13).
»Wir Bürger«, also »wir Deutsche«, als »Opfergruppe«? Den Begriff machte sich Constanze Kurz nicht zueigen. Die Sprecherin des Chaos Com­puter Clubs wurde von der Taz Mitte August zum Potential des Protests befragt, den der NSA-Skandal ausgelöst hatte. Sie sprach stattdessen davon, dass beinahe jeder Benutzer eines Computers ein »automatisch Betroffener« sei. Ein Betroffener war im linken Jargon der Siebziger und Achtziger einer von den Guten. Man war betroffen von AKW-Strahlung, von Polizeiwillkür und Mieterhöhungen, und damit auf der richtigen Seite.

In den neunziger Jahren traten nicht nur im linken Jargon an die Stelle der »Betroffenen« die »Opfer«. Plötzlich war das deutsche Elend von Opfern erfüllt: zunächst Opfer der Stasi, dann Opfer der Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland, Opfer von Asbest, Kinderschändern, Kredithaien, später von Spekulanten. Opferverbände wurden gegründet, die Opferakten pflegten und Opferanwälte beschäftigten. Opfer zu sein, bedeutete zugleich eine Nobilitierung im deutschen Einheitsgrau. Besonnene warnten vor Opferkonkurrenz, und wer über die rasante Zunahme an Opfern spottete, handelte sich schnell den gefährlichen Vorwurf der Verhöhnung der Opfer ein.
Doch den Status des Geheimdienstopfers, den das Aktionsbündnis »Freiheit statt Angst« und Juli Zeh den Staatsbürgern implizit anbieten, scheint die Mehrheit der Deutschen nicht annehmen zu wollen. Auch deshalb erscheinen linke Analytiker einer sozialen Bewegung, die keine sein will und auch keine ist, hilflos. Einen Verzicht auf die Illusion von Demokratie und die Aufgabe ihres staatstreuen Klientenstatus ­können und wollen sie den Leuten nicht zumuten. Vielleicht ist das auch besser so. Denn wenn deutsche Bürger sich in Massen zur Opfergruppe aufschwängen und die Stimmung eines Volksaufstands verbreiteten, bliebe auch dem eingefleischten Herrschaftsverächter nichts ­anderes als das Lob permanenter Rundumüberwachung.